Читать книгу Brand und Mord. Die Britannien-Saga - Sven R. Kantelhardt - Страница 13
ОглавлениеVII. Eine neue Welt
Durovernum cantiacorum, Januar 441
Vortigern
„Pikten, Scoten und Sachsen mästen sich am Fett unserer Weiden. Im Land wütet die Hungersnot und unsere heilige Kirche wird von Heiden bedroht. Welche Zeichen willst du noch? Die Häresie des Pelagius und diese gottverdammten Agricola grassieren noch immer im ganzen Land! Gib endlich der Kirche die Ehre und vernichte diese Häretiker. Vielleicht wird Gott sich dann wieder deiner erbarmen“, tönte Albanus drohend.
Der Bischof, sechs verdiente Unterführer – die Vortigern gern als seine Equites, seinen Ritterstand, bezeichnete –, sein oberster Iudex – oder Barnwr, wie ihn die ungebildeten Untertanen in ihrer britannischen Mundart nannten – und der gerade mannbar gewordene Sohn Vortimer gehörten zu Vortigerns Kronrat, dem Consilium. Sein jüngerer Sohn Cateyrn zeigte zwar vielversprechende Anlagen, war aber mit zwölf Jahren noch zu jung, um seine Stimme im Rat zu erheben.
Der große Rat, oder Comhairle, wie er entgegen Vortigerns Vorliebe in der barbarischen Muttersprache seiner Untertanen genannt wurde, umfasste, zumindest der Theorie nach, alle Kleinkönige Britanniens und die Vorsteher der Städte, die sich wie Londinium eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt hatten. Von dieser Gruppe war aber lediglich Gwyrangon, Vortigerns Vasallenkönig über Cantium, anwesend. Der gesamte Comhairle war seit Menschengedenken nicht mehr vollständig zusammengetreten. Es wäre auch keineswegs klar gewesen, ob Vortigern tatsächlich die meisten Anhänger hinter sich vereinigen könnte, um den Titel des Hochkönigs über Britannien zu beanspruchen. Tatsächlich neigten nicht wenige der Kleinkönige dazu, Ambrosisus von Dumnonias Ambitionen auf eine Vorherrschaft über alle Stämme zu unterstützen. Und je länger Vortigern zögerte, je weniger Anhänger blieben ihm. Das offene Misstrauen in den Blicken seiner Gefolgsleute zeigte, dass zumindest der Iudex Muirdoch und Bischof Albanus den Ernst der Situation erfasst hatten.
Nun starrten ihn alle gespannt an. Vortigern ließ sie warten. Heute genoss er die Spannung, denn seine nächsten Worte würden die Probleme Britanniens, und damit seine eigenen, lösen. Sein Plan war so einfach wie genial. Theatralisch wickelte er seine Rechte in den purpurnen Mantel, der ihn wie einem römischen Imperator aussehen ließ. Er konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken. Der alte Rechtsgelehrte und der Bischof mochten schlaue Füchse sein, aber ihm, dem einzig wahren Princeps, oder lieber gleich rex britannorum, waren sie nicht gewachsen.
„Es ist, wie ihr sagt“, begann er schließlich in langsamen, wohlgesetzten Worten. „Die Feinde, die uns umringen, sind darin übereingekommen uns zu vernichten. Uns Britanniern dagegen fehlt diese Einigkeit. Wir fürchten die Waffen der Scoten aus Hibernia und Dál Riata, wir zittern vor den Pikten und bei jedem ungünstigen Wind schauen wir voll Zagen auf unsere Küsten, ob sich nicht die Schiffe der Sachsen am Horizont zeigen. Die Römer sind fort und können uns nicht mehr helfen, Rom selbst wurde von Alarichs Horden geplündert. Aber am schlimmsten ist, dass die Häuptlinge und Fürsten unseres Volkes uneinig und die heilige Kirche zerteilt sind! Oh ja, zerteilt sage ich“, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, um Albanus’ Einwand gleich zu Beginn abzuschneiden. „Aber was können wir tun, um unsere Lage zu wenden?“ Er schaute zunächst Albanus streng und vorwurfsvoll in die Augen, sodass dieser die Luft wieder entweichen ließ, die er gerade eingesogen hatte, um lautstark zu protestieren. Dann blickte er zu seinem Sohn und den übrigen Ratgebern. „Ich will euch sagen, was zu tun ist“, fuhr Vortigern fort, nachdem er das betretene Schweigen einige Augenblicke genossen hatte. „Wir müssen die Einigkeit unserer Feinde zerstören und sie gegeneinander kämpfen lassen.“
„Wie willst du das anstellen?“, platzte Vortimer heraus. Auch Albanus und Muirdoch reckten angriffslustig die Hälse vor.
„Wir rufen die Sachsen übers Meer“, antwortete Vortigern ruhig.
Lauter Widerspruch erhob sich, aber Vortigern hob wieder die Stimme und übertönte die Rufe der Ratgeber. „Wir geben ihnen Silber und etwas Land an der Küste. In Ruohim, was ihrem Land ähnlich ist und auch genau gegenüber liegt. Da haben wir sie stets unter Kontrolle. Von dort können wir sie gegen die Pikten senden und auch ihre Stammesgenossen werden es nicht mehr wagen, über unsere Küsten herzufallen oder in die Thamesa einzudringen und unsere Dörfer zu plündern. Und falls doch, müssen sie sich mit ihresgleichen schlagen. Es wird billiger für uns, die sächsischen Piraten zu bezahlen, als von den Pikten einen brüchigen Frieden zu erkaufen, zumal wir so alle unsere Feinde auf einmal beschäftigen. Und wenn viele von ihnen im Kampf fallen? Dann wird es nur billiger. Zumal wir sie mit der Beute der Pikten aushalten können.
Ich habe lange nachgedacht: Pikten, Skoten und Iren sprechen, wie wir alle, ähnliche Sprachen. Wenn wir eines dieser Völker auswählten, würden sie sich bald einigen und ihre Waffen gemeinsam gegen uns richten. Das Gegrunze der Sachsen hingegen versteht niemand und so werden sie uns allein zu Diensten sein!“
Vortigern beobachtete zufrieden die Mienen seiner Ratgeber.
Muirdoch saß mit offenem Mund da und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und selbst aus Albanus’ Gesicht war der ständige leicht herablassend-spöttische Ausdruck für einen Augenblick gewichen. Aber restlos überzeugt war er nicht.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust, Vortigern“, sagte er gedehnt. „Die Sachsen sind eine Plage Gottes und nicht durch Heer oder Kraft soll es geschehen …“
Vortigern runzelte die Stirn. Dieser Griesgram.
Doch da fiel ihm schon sein Sohn Vortimer ins Wort. „Du bist der einzige Hochkönig von Britannien!“, rief er aufgeregt.
Oceanus Germanicus, Juni 441
Ordulf
Schon dreieinhalb Tage waren sie gerudert, mal in sengender Sonne gegen die Flut, dann wieder mit frischer Kraft, wenn die Sonne sank und der Strom zu ihren Gunsten kenterte.
„Sieh nur“, raunte Ordulf Thiadmar zu. „Hengist steht unermüdlich am Ruder. Als wäre er in Erz gegossen.“ Voll Bewunderung blickte er auf den berühmten Seesachsen.
„Wetter und Müdigkeit scheinen für ihn Worte ohne Bedeutung zu sein“, nickte der junge Haduloher.
Hengist steuerte die Heritog immer dicht unter Land und die Gefährten in den anderen Schiffen folgten in mehr oder weniger großer Entfernung. Am Abend landeten sie stets auf einer kleinen Insel oder an einem unbewohnten Abschnitt der Küste. Der inzwischen fast volle Mond spiegelte sich bis an den Horizont in den grauen Wellen. Mit Ausnahme der kurzen Begegnung mit den Friesen hatten sie kaum jemanden zu Gesicht bekommen. Ihr Anblick schlug alle kleineren Schiffe und die Küstenbewohner in die Flucht.
Wahrscheinlich, überlegte Ordulf, hatte sich die Nachricht, dass Hengist selbst zur See fuhr, wie ein Lauffeuer an der friesischen Küste verbreitet. Der Gedanke erfüllte ihn mit Stolz und eine Woge der Loyalität zu seinem neuen Herrn und Heritog durchströmte ihn.
Inzwischen hatte sich Ordulf mit einigen Schiffsgenossen angefreundet. Der Gefährte des finsteren Gerolf auf der Ruderbank vor ihm hieß Ypwine. Beide waren schon zu Zeiten von Witgis auf dem späteren Hengisthof geboren und nachdem sie aufgehört hatten mit Hengist zu spielen, waren sie seine Gefolgsleute geworden. Beide waren mit ihm in Friesland gewesen. Ganz anders als Gerolf war Ypwine ein stiller, etwas zurückhaltender, aber durchaus freundlicher Zeitgenosse. Ordulf schien es, als wäre er lieber als Bauer in Haduloha geblieben als auf einen Raubzug nach Britannien zu fahren. Für Ordulfs eigenen Rudergenossen Thiadmar war es ebenfalls die erste Fahrt in die Fremde.
„Ob wir heute Abend schon Britannien erreichen?“, richtete Ordulf eine Frage an die beiden erfahrenen Gefährten vor sich.
„Will ich hoffen, hier auf der offenen See können wir schließlich nicht bleiben“, knurrte Gerolf düster.
Am Morgen hatte Ceretic, nach sorgsamer Musterung der Küste, den Kurs auf die offene See hinaus gewiesen. Kurz vor Mittag versank schließlich der letzte Streifen Festland achtern in den Wogen. Das machte selbst erfahrene Seeleute wie Ypwine und Gerolf nervös.
Doch nicht lange nach dem kurzen Gespräch tauchte vor ihnen endlich das ersehnte Land aus der diesigen See. Hengist selbst entdeckte es zuerst.
„Vor uns liegt Britannien. Ruhm, Ehre und Silber warten auf euch, Männer“, rief er ermutigend.
Die Schlagleute setzen aus und alle drehten sich aufgeregt um.
„Britannien!“, rief auch Gerolf und Ordulf meinte Erleichterung in dem Wort mitschwingen zu hören. Er selbst konnte noch nichts erkennen, aber am späten Nachmittag setzte Hengist die Heritog bei ablaufendem Wasser tatsächlich auf den Sand eines neuen Ufers. Bald schob sich ein zweiter Kiel daneben. Es war die Heldir, was soviel wie „Held“ bedeutete, womit Hengist sich in früheren Tagen ebenfalls selbst betitelt hatte. Zuletzt kam die Selah der Keydinger. Dieser Name bedeutete schlicht und einfach „Seehund“ und stand, soweit Ordulf wusste, in keinem engeren Bezug zu dem Eigner des Schiffes.
„Das ist die Insel Ruohim. Meine Heimat“, verkündete Ceretic stolz.
Soweit Ordulf erkennen konnte, lag vor ihnen ein völlig unberührter Strand, der zum Land hin durch hohe dornenbestandene Sanddünen abgeschlossen war. Ceretic wies mit der Hand nach Westen. „Dort liegt der Wantsum und auf der anderen Seite der Ort Rutupiae.“
Ordulf hörte gebannt zu, als Ceretic über das neue Land berichtete und versuchte sich alles zu merken. Er kniff die Augen zusammen und schaute suchend in die angegebene Richtung, doch so sehr er sich auch mühte, Rutupiae entdeckte er nicht.
„Auf Männer, genug herumgelungert. Wir gehen an Land!“, ließ sich da Hengist lautstark vernehmen.
Ordulf griff nach seinem Schild und sprang hinter Hengist ins niedrige Wasser. Sie wateten langsam, mit erhobenen Schilden, durch den feuchten Sand zum Ufer. Tang und Treibholz markierten die Flutwasserlinie, die sie ohne Gegenwehr erreichten.
„Wir müssen König Vortigern von unserer Ankunft unterrichten“, bemerkte Hengist. „Wohnt er in einer dieser grauen Hallen dort drüben?“
Anscheinend konnte Hengist mehr erkennen als Ordulf, denn er selbst sah immer noch nicht mehr als einen dunklen Schatten am Horizont, der sowohl Land als auch eine Wolke sein konnte.
Doch Ceretic lachte nur. „Dort soll Vortigern wohnen? Nein. Das sind nur die Römerruinen von Rutupiae. Wenn wir Glück haben, hält sich Vortigern in Durovernum auf. Ein ganzes Stück im Landesinneren, aber immer noch viel dichter als Londinium.“
Ordulf war bei einem der ersten Wörter hängen geblieben. Hatte Ceretic tatsächlich Römerruine gesagt? Von den Römern und ihrem sagenhaften Reichtum, der Macht ihrer Heere und einer unglaublich großen Stadt, in einem Land, in dem es immer Sommer war, hatte er vernommen. Bisher war ihm das alles wie ein Märchen vorgekommen. Und hier sollten diese geheimnisvollen Römer nun tatsächlich Spuren hinterlassen haben?
Ruohim, Juni 441
Ceretic
„Ich werde selbst gleich morgen früh aufbrechen, um König Vortigern von unserer Ankunft zu unterrichten“, schlug Ceretic vor, als er wenig später mit Hengist und den übrigen Anführern in ihrem provisorischen Lager am Strande Ruohims um das Feuer saß.
Die Männer der einzelnen Schiffe hatten sich in Gruppen in den Sand gelagert. Hengist sah ihn nachdenklich an.
„Sollte ich nicht besser selbst an König Vortigerns Hof reisen? Oder wird er kommen und uns hier in Empfang nehmen?“
„Ich glaube, es ist besser, wenn ihr hier auf meine Rückkehr wartet“, antwortete Ceretic rasch. „Wer weiß, was passiert, wenn wir vor Erreichen von Durovernum auf einen Trupp von Vortigerns Kriegern treffen. Und vielleicht weilt Vortigern gar nicht in Durovernum und wir müssen weiterziehen. Wer sollte dann während deiner Abwesenheit das Kommando führen?“ Außerdem soll Vortigern sehen, dass ich nicht nur sein Dolmetscher bin, sondern dass die erfolgreiche Anwerbung der Sachsen ganz allein mein Verdienst ist, fügte er in Gedanken hinzu. „Aber wenn du magst, sende einen oder zwei deiner Männer mit mir, um Vortigern ein paar echte Sachsen vorzustellen.“
Damit gab sich Hengist zufrieden.
Am nächsten Morgen standen zwei Krieger bereit. Zu seiner Freude erkannte Ceretic in dem einen den jungen Ordulf. Der andere war ein Veteran, der auf den Namen Gerolf hörte. Sein bereits ergrauender Bart bedeckte nur unzureichend ein feines Gewirr an Narben.
„Könnt ihr reiten?“, fragte Ceretic. Die beiden sahen sich grinsend an und brachen dann in Gelächter aus. Ceretic biss sich auf die Lippe. Natürlich kannten beide die Geschichte, nach der er vom Pferd gefallen war, als er Ordulf vor dem Tod im Moor retten wollte. Die Frage hätte er sich sparen können. „Also los“, knurrte er verärgert.
Ceretic führte die beiden Sachsen Richtung Nordwesten ins Zentrum der Insel. Zielstrebig folgte er einem alten Trampelpfad in den Wald hinein. Nach etwa einer halben Stunde verdichtete sich das Unterholz derart, dass auch am Tage ein grünliches Halbdunkel herrschte. Kurz bevor sie das andere Ufer erreichten, bedeutete Ceretic seinen Begleitern auf ihn zu warten. Er selbst suchte einen der ihm wohl bekannten Orte auf, an dem sich seine Landsleute bei Ankunft der Sachsen oder Pikten zu verstecken pflegten. Und tatsächlich traf er bald auf zwei alte Bekannte und einen Unbekannten.
„Morgan, Gwydion! Wie schön euch zu sehen. Ist der Comarchus hier?“, begrüßte Ceretic sie.
„Ceretic, bist du das wirklich? Wo hast du die ganze Zeit über gesteckt?“, fragte der Mann namens Morgan zurück. „Und was ist aus Malo und Tavish geworden? Sind sie mit dir zurückgekehrt?“ Dann zogen sich seine Augenbrauen plötzlich zusammen. „Und was machen diese ungläubigen Hunde bei dir? Wo sind sie jetzt? Wie bist du ihnen entkommen?“ Angstvoll blickte er in die Richtung, in der Ceretic die beiden Sachsen zurückgelassen hatte.
„Das hat Zeit bis später, lass uns jetzt lieber schnell verschwinden, sie können jeden Moment hier auftauchen!“, drängte der dritte, Ceretic bisher unbekannte Mann und zog Gwydion am Ärmel. Fast hätte Ceretic während seiner Zeit unter den Sachsen vergessen, was deren Auftauchen hier in Britannien bedeutete. Die Menschen fürchteten diese Barbaren mehr als den Tod selbst.
„Keine Bange. Die gehören zu mir. Die anderen am Strand übrigens auch. Malo und Tavish sind wohlauf, sie befinden sich im Lager und kommen zurück zu ihren Familien, sobald sie ihren Lohn empfangen haben. Die Sachsen werden euch nichts tun, wenn ihr ihnen nicht zu nahe kommt.“
„Das ist allerdings die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass diese Teufel einem etwas antun. Man darf ihnen nicht zu nahe kommen.“ Gwydion lachte humorlos. „Aber leider sind sie hier auf unserer Insel gelandet, falls du das noch nicht bemerkt hast.“ Einen Moment zögerte er, dann erschien auf seiner Stirn eine scharfe Falte. „Du hast sie doch nicht etwa hergeführt?“, fragte er.
Ceretic musste schlucken. „Sie sind nicht zum Plündern gekommen. König Vortigern hat sie gerufen“, versuchte er abzulenken. „Deshalb muss ich die beiden auch so schnell wie möglich zum Hochkönig bringen. Weißt du, ob er sich derzeit in seinem Hof in Durovernum aufhält? Und könnt ihr uns über den Wantsum bringen?“
Die sparsamen Erläuterungen Ceretics überzeugten die drei Britannier ganz offensichtlich nicht. Doch schließlich erklärte sich Morgan bereit, Ceretic und die beiden Sachsen über den Fluss zu rudern. „Aber in unser Versteck, zum Comarchus und den anderen, werden wir sie nicht führen, egal was du erzählst. Ich traue diesen Ungläubigen nicht einen Schritt weit. Du hast dich ja schon als Kind immer mit diesem Wulf abgegeben.“
Das Misstrauen seiner alten Freunde traf Ceretic mehr, als er sich eingestehen wollte. Sie kannten ihn doch!
Aber da fuhr Morgan schon fort: „Kommt gleich mit. Je schneller diese verteufelten Sachsen von unserem Ruohim verschwinden, desto besser!“
Seine beiden Begleiter verschwanden allerdings noch schneller; dankbar, nicht auf die leibhaftigen Sachsen treffen zu müssen. Als Morgan Ceretic zu dem wartenden Ordulf und Gerolf folgte, fiel Ceretic auf, wie seinem alten Freund die Knie schlotterten. Er schüttelte den Kopf. Auch Sachsen waren nur Menschen aus Fleisch und Blut.
„Doch noch ein Britannier!“, freute sich Ordulf, als sie die beiden Wartenden erreichten. „Ich dachte schon, wir wären allein auf der Insel.“
Bei den Worten zuckte Morgan zusammen. Ceretic musste schmunzeln. Auch für seine Ohren hatte einmal alles Sächsische wie eine wüste Drohung geklungen.
„Er freut sich, dich zu sehen“, übersetze er.
„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit, kann ich dir versichern“, knurrte Morgan, aber er beruhigte sich doch so weit, dass sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Bald erreichten sie das Ufer des Wantsum. Ihnen gegenüber lag die Küste von Cantium. Morgan führte sie zu einem im Uferdickicht versteckten Ruderboot. Es handelte sich um eine kleine Curach. Ceretic und Morgan trugen das leichte Fahrzeug bis ans Wasser. Ceretic schmunzelte, als er sah, wie die Seeerprobten Sachsen das Fahrzeug kritisch beäugten, bevor sie umständlich einstiegen.
„Eigentlich ist Ruohim eine Insel und der Wantsum kein Fluss, sondern ein Sund“, erläuterte er, als Morgan sie vom Land abstieß.
„Merkwürdig. Man sieht gar keine Fischer“, wunderte sich Ordulf.
Ceretic fand das alles andere als merkwürdig. Immerhin lagen auf der anderen Seite von Ruohim drei sächsische Langschiffe.
Das kleine Ruderboot wurde von der hereinströmenden Flut nach Norden versetzt und erreichte das gegenüber liegende Ufer direkt unter den Ruinen des Kastells von Regulbium. Nachdem Ceretic und die beiden Sachsen ans Ufer gesprungen waren, wendete Morgan das Fahrzeug sofort und pullte mit ganzer Kraft in den Wantsum hinaus. Erst ein gutes Stück vom Ufer entfernt, wagte er, seine Schlagzahl zu verringern. Ordulf und Gerolf bestaunten derweil mit offenen Mündern die steinernen Ruinen des römischen Kastells. Die hohen Mauern aus grauem Stein wurden in regelmäßigen Abständen von roten Bändern aus Ziegeln unterbrochen.
„So etwas haben die Römer errichtet?“, fragte Ordulf schließlich und Ceretic dachte daran, dass er vermutlich noch nie einen richtigen Felsen oder gar ein Steinhaus gesehen hatte.
„Das und noch viel Größeres! Du wirst noch ganz anders staunen, wenn wir erst in Londinium sind. Komm jetzt.“ Er zog Ordulf am Ärmel hinter sich her.
Bald erreichten sie die Mauern und Ordulf ließ es sich nicht nehmen, die steinernen Ruinen scheu zu betasten. „Hart wie Stein“, bemerkte er schließlich verwundert.
Doch Ceretic wollte weiter. „Ja, ganz recht. Das ist Stein“, bestätigte er. „Vielleicht können wir im Dorf Pferde bekommen. Dann müssen wir nicht bis Durovernum laufen.“
Rasch zog er den noch immer völlig faszinierten Ordulf über den Hügel. Nun war es Ceretic, der erschrocken inne hielt. Am Fuße des Hügels lagen verbrannte Trümmer, nur vereinzelte Häuser zeigten die Spuren notdürftiger Reparaturen, während die grauen Ruinen des Kastells stumm und ungerührt wie ehedem auf das so grausam veränderte Dorf blickten. Menschen und Vieh konnte Ceretic nirgends entdecken. Regulbium war nicht mehr.
„Um Himmels Willen, wir kommen zu spät!“, jammerte er und rannte den Hügel hinab.
Erst im Dorf schlossen Ordulf und Gerolf wieder zu ihm auf. Ceretic blickte hilflos zwischen den Trümmern einher, doch niemand zeigte sich.
„Vielleicht haben sie sich in den Wald geflüchtet“, murmelte er wenig überzeugt.
„Hier ist jedenfalls niemand mehr“, stellte Gerolf sachlich fest.
„Die Spuren der Verwüstung sind nicht frisch“, bemerkte Ordulf. „Die Brände sind sicherlich schon einen Monat alt.“
Ceretic folgte Ordulfs ausgestreckter Hand. Über einige verkohlte Balken am Boden war bereits dichtes Unkraut gewuchert. Der Sachse hatte recht. Aber was sollten sie tun? Er gab sich einen Ruck. Sein Jammern würde niemandem helfen.
„Ihr beiden wartet hier. Ich gehe hinauf zum Waldrand. Vielleicht haben sich einige der Menschen dort versteckt“, entschied er.
Während es sich die Sachsen ungerührt im Schatten einiger verkohlter Ruinen bequem machten, stapfte er mit bebendem Herzen zum nahen Waldrand hinauf. Er musste nicht lange suchen. Man hatte ihre Ankunft beobachtet und kaum war er in das lichte Grün eingedrungen, da traf er auf einen alten Bekannten.
„Tallanus!“, rief Ceretic erfreut und schloss den kleinen Diakon in die Arme.
„Wie froh ich bin dich zu sehen!“ Vor Rührung wurden die Augen des Klerikers feucht. „Ich habe jeden Tag zum Herrn gebetet, dass er dich auf deiner Reise zu den Barbaren beschützen möge.“
„Das hat er auch getan“, entgegnete Ceretic ernst. „Aber was ist hier geschehen?“
„Die Pikten“, seufzte Tallanus. „Sie haben uns überrascht, schnell wie hungrige Wölfe kamen sie in ihren kleinen Booten. Bevor wir Hilfe rufen konnten, waren sie schon wieder verschwunden. Und nun haben wir gehört, dass die Sachsen, der Herr möge sie strafen …“ Hier unterbrach er sich. „Oder vielleicht auch nicht? Sag mir, hast du etwa Erfolg gehabt? Ist ein Wunder geschehen, um unsere Bedrängnis zu wenden?“ Bei den Worten leuchteten seine vorher matten Augen hoffnungsvoll auf.
Ceretic reckte stolz die Brust. „Ich war erfolgreich“, bestätigte er. „Drei Schiffe mit hundertfünfzig Hünen sind in Ruohim an Land gegangen und warten darauf, Vortigerns Befehle zu erfüllen. Und die beiden Männer da unten sind nicht etwa die beiden Fischer, die mich begleitet hatten.“ Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, und Tallanus schaute halb furchtsam, halb neugierig zwischen den Zweigen hindurch.
„Das sind doch nicht etwa …“, er schluckte. Viele Britannier glaubten, dass schon das Aussprechen des Wortes „Sachsen“ Unglück über sie brächte.
„Ja, wirkliche und echte Sachsen“, prahlte Ceretic.
„Timeo Danaos et dona ferentes“, murmelte Tallanus und bekreuzigte sich. Ceretic sah ihn fragend an, doch der kleine Mann zuckte die Schultern. „Nur so ein alter Spruch. Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen …“
Nun schüttelte Ceretic den Kopf. „Du mit deinem römischen Unsinn. Der eine ist sogar so etwas wie ein Freund von mir, aber das ist eine lange Geschichte und wir müssen so rasch wie möglich nach Durovernum. Kannst du uns Pferde besorgen?“
Durovernum, Juni 441
Ordulf
Auf den kleinen zottigen Pferdchen, die der ebenso kleine Mann, der sie nun begleitete, besorgt hatte, ritten sie einen steinernen Weg entlang. Schon seit über einer Stunde zog er sich schnurgerade über das Land.
„Die alte Römerstraße“, hatte Ceretic behauptet. Aber wie konnten diese Römer den Erdboden selbst verändern? Um die Straße herum war das Land hügelig wie die Geest, aber fruchtbar wie die Marsch. Zu ihrer Rechten zog sich ein Flusslauf im Tal entlang und an sumpfigen Stellen wuchsen Erlen und Birken. Bald wurde der Weg noch breiter und zu beiden Seiten erhoben sich merkwürdig behauene Steine und Erdhügel.
„Was ist denn das?“, wunderte sich Ordulf.
„Die Gräber der alten Römer und einige britannische noch dazu“, erklärte Ceretic und deutete auf einen besonders stattlichen Erdhügel. „Die Menschen meiden heutzutage diese Orte. Vor allem nachts.“ Er zuckte mit den Schultern, doch Ordulf schauerte. Was die seltsamen behauenen Steine wohl für Zauberkräfte und Bannflüche bargen?
„Warum sollte man vor den Hügeln denn Angst haben?“, fragte er gedehnt.
„Manche Leute erzählen, des Morgens in der Früh fänden sich die Spuren von Gelagen und Wein unter den Steinen, andere dagegen sind der Meinung, es handle sich um Blut.“
„Aber tags können wir hier gefahrlos entlangreiten?“, vergewisserte Ordulf sich und blickte furchtsam über seine Schulter zu dem großen Grabhügel zurück.
Ceretic sah ihn mit einem Augenzwinkern an. „Wie das für euch Heiden ist, weiß ich nicht so genau. Für Christen ist es jedenfalls ungefährlich“, behauptete er. „Aber wir haben ja einen Gottesmann bei uns“, fügte er noch in beschwichtigendem Tonfall hinzu und nickte zu dem kleinen Britannier in der dunklen Kutte.
Seine Antwort beruhigte Ordulf nicht besonders. Sein Blick blieb misstrauisch an einem Grabmonument hängen, welches einen gerüsteten Krieger darstellte. Andere Steine waren mit einem Kreuzsymbol verziert und Ordulf griff unwillkürlich nach dem kleinen Bronzekreuz um seinen Hals. Auch der kleine Mann, den Ceretic als Gottesmann bezeichnet hatte, trug so etwas. Welchen geheimen Zauber mochte dieses Zeichen bewirken? Bisher hatten Ceretic und sein Kreuz ihm Glück gebracht. Dennoch war Ordulf froh, als einzelne Häuser die Nekropole ablösten.
Es waren meist kleine Handwerksbetriebe, die ihre Waren, Töpfergut, Bronzewaren und vieles mehr, an der Straße feilboten. Plötzlich bemerkte Ordulf eine gewaltige graue Wand vor sich. Viel höher noch als die Ruinen in Regulbium. Fast verschlug es ihm den Atem. Die Welt schien hier zu enden.
„Liegen dort etwa auch Römer begraben?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Nein, das ist die Stadtmauer von Durovernum. Wir kommen ans Ziel unserer Reise.“
Der Verkehr auf der Straße wurde dichter. Wenn sie bisher nur einzelnen Menschen begegnet waren, so kamen nun Karren dazu, die holpernd von Ochsen über die Steinplatten des Weges gezogen wurden. Ordulf beobachtete, wie die Wagenräder an Anstiegen tiefe Rinnen in den Stein der Straße gegraben hatten.
Doch nicht nur Ordulf staunte. Auch die Sachsen selbst erweckten einige Aufmerksamkeit. Ihre fremdländische Kleidung wurde misstrauisch beäugt und Ceretic musste ihnen mit lautem Rufen Platz verschaffen. Schließlich erreichten sie den Punkt, an dem die Straße auf die Mauer traf. Ordulf hatte sich schon seit einer Weile gefragt, was dort geschehen würde, aber von Nahem erkannte er, dass die Straße mitten durch eine bogenförmige Öffnung in der Mauer führte. Und genau dort – Ordulf erkannte sofort, dass dies der ideale Ort für einen Hinterhalt wäre – wurden sie von drei bewaffneten Britanniern angehalten. Ordulf griff erschrocken zum Sax, aber Ceretic legte ihm die Hand auf den Arm.
„Keine Sorge, das sind die Wachen der Stadt. Sie müssen jeden anhalten, der hinein oder hinaus will. König Vortigern hat es befohlen.“
Das beruhigte Ordulf einigermaßen.
Ceretic sprach mit den Bewaffneten und bald winkte er seinen Begleitern: „Los, weiter, der Mann mit dem blonden Schnauzer hier wird uns zum Palast führen.“ Sie folgten dem Britannier durch den dunklen Torbogen. „Wir haben Glück“, fuhr Ceretic fort. „Vortigern hält sich tatsächlich in Durovernum auf.“
Ordulf hörte nur halb zu. Die Welt endete nicht hinter der Mauer, wie er befürchtet hatte. Es war viel eher so, als begänne sie erst richtig. Auf den Straßen der Stadt herrschte reges Treiben und am Rande der rechtwinklig angelegten Gassen stand eine geradezu unglaubliche Anzahl Häuser. Manche aus Holz, andere, wie die Mauer, aus Stein erbaut. Selbst der gleichmütige Gerolf kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er und Ordulf machten sich gegenseitig mit offenen Mündern auf immer neue Details aufmerksam. Bald führte Ceretic sie auf einen großen Hof. Hier waren die Steinhäuser häufiger und auch größer als direkt hinter der Stadtmauer.
„So, ihr könnt absteigen. Ich werde euch jetzt vor den König führen“, bedeutete Ceretic den beiden, während er und der schweigsame Kleriker bereits zu Boden sprangen. Hilfreiche Hände nahmen den immer noch völlig benommenen Sachsen die Zügel aus der Hand. Automatisch stieg Ordulf vom Pferd und folgte den beiden Britanniern wie ein eingeschüchterter Hund in das größte der Gebäude.
Im ersten Raum trafen sie auf weitere Bewaffnete. Die Männer trugen Helme, glänzende Rüstungen und seltsame große, ovale Schilde, einige wieder mit dem Kreuzsymbol darauf. Ein Mann mit einem prächtigen goldenen Helm und einem quer stehenden roten Helmbusch übernahm die Führung. Um sie herum redeten die Britannier laut durcheinander und gafften ebenso staunend zurück, wie die Sachsen sie anstarrten. Alle hielten respektvoll Abstand und niemand schien es zu wagen, sich den Fremden zu nähern. Schließlich öffnete sich vor ihnen eine weitere Tür. Beim Eintreten wurde Ordulf von der Pracht geblendet. Auf mehreren bronzenen Becken brannten Feuer, schwere Stoffe hingen an den Wänden. Der Fußboden war mit bunten Steinen belegt, die kunstvolle Muster bildeten, aber nicht wegrollten, wenn man mit den Füßen drauf trat.
„Der Hochkönig Britanniens! Verbeugt euch vor ihm“, riss ihn Ceretics Stimme aus dem Staunen.
Vor ihm, auf einer Art Hochsitz, saß ein großer Mann mit langem rotem Bart, den Ordulf bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Ehrfürchtig beugte er Knie und Kopf vor dem Herrscher all dieser Pracht. Ceretic begann auf Britannisch zu sprechen. Anfangs unterbrach ihn der König einige Male mit einer tiefen Stimme, aber dann wurde es immer stiller um die vier.
Ordulf nutzte die Zeit, um sich noch einmal gründlich umzusehen. Das Haar des Königs war an den Schläfen bereits ergraut und ein goldener Reif um seine Stirn unterstrich Würde und Macht. Er war in ein langes purpurfarbenes Gewand gehüllt. Neben ihm, aber deutlich niedriger, saß noch ein weiterer Mann. Er war klein und eigentlich nicht mehr als ein grauhaariger Greis mit einem silbernen Geschmeide auf dem Haupt. Ordulf erfuhr später von Ceretic, dass es sich um Vortigerns Vasallenkönig Gwyrangon, den Herrscher von Cantium und somit ihren eigentlichen Gastgeber in Durovernum handelte. Vortigern hielt sich mitunter gern in den Residenzen seiner Vasallenkönige auf, vor allem in Durovernum oder Lindum. Londinium, wo sich sein eigener Palast befand, war ihm zu aufmüpfig und Verulamium, die Hauptstadt seiner catuvellaunischen Vorväter, war inzwischen zu einem unbedeutenden Flecken verkommen.
Um die beiden Herrscher herum standen weitere Wächter mit glänzenden Rüstungen und bunten Mänteln. Direkt unter sich entdeckte Ordulf das Bild zweier Vögel. Sie sahen so täuschend echt aus, dass er fast danach gegriffen hätte. Aber scheinbar bestanden auch sie, wie fast die ganze Stadt, aus totem Stein.
Da hörte Ordulf wie Ceretic seinen Namen erwähnte und schaute auf. Der König blickte ihm forschend ins Gesicht. Ordulf fühlte sich seltsam, da er gar nicht verstand, was über ihn geredet wurde, aber der König nickte ihm zu, was ihn einigermaßen beruhigte. Dann winkte er Ceretic und der errötete. Er verbeugte sich nochmals und ging mit gesenktem Haupt auf Vortigern zu. Dieser ließ sich von einem Diener einen goldenen Torque reichen und gab ihn dann Ceretic weiter. Eilig befestigte der den Reif an seinem Hals. Ordulf beobachtete, wie Ceretic stolz den Kopf reckte. Offenbar war sein König zufrieden mit ihm.
„Vortigern entbietet euch seinen Gruß. Er freut sich, dass Hengist euch übers Meer gebracht hat“, wandte sich Ceretic nun endlich in sächsischer Sprache Ordulf und Gerolf zu. „Als Zeichen seiner Wertschätzung will er euch etwas schenken. Tretet näher.“
Ordulf und Gerolf sahen sich fragend an. Dann verbeugte sich Ordulf, wie er es gerade bei Ceretic gesehen hatte und ging langsam zu Vortigerns Thron. Gerolf folgte ungeschickt seinem Beispiel. Vortigern lachte leise über die verunglückte Verbeugung. Dann rief er etwas und ein weiterer Mann brachte ihm zwei silberne Armringe, jeder daumendick. Ordulfs Augen weiteten sich voll Begier. Und tatsächlich überreichte Vortigern ihm einen der Ringe. Ordulf wog das Silber in der Hand. Das war gut, sogar sehr gut! Zufrieden ließ er sich von Ceretic aus der Halle führen.
Vor dem Gebäude warteten ihre Pferde. Allerdings nur drei.
„Kommt der kleine Mann nicht mit uns?“, wunderte sich Ordulf.
„Nein, Tallanus hat hier im Palast zu tun. Er dient dem, dem …“ Ceretic suchte nach einem passenden sächsischen Wort. „Dem großen Priester“, entschied er schließlich. Worte für Diakon oder Bischof gab es in der sächsischen Sprache einfach nicht. Ordulf ließ es dabei bewenden.
Sie stiegen nicht auf, sondern führten die Pferde am Zügel über den großen Platz mit den steinernen Häusern. Zielstrebig bog Ceretic in eine der Straßen, die nach Westen zu führen schien. Es war Ordulf ein Rätsel, wie sich hier jemand orientieren konnte. Die Gassen sahen doch alle gleich aus mit ihren himmelhohen Häusern und dem steinernen Boden. Doch entgegen seiner Befürchtungen erreichten sie bald ein weiteres großes Gebäude, in dessen Hof ihnen wiederum ein Knecht die Zügel abnahm.
„Wir müssen doch unsere Pferde versorgen. Sättel abnehmen und …“, protestierte Ordulf, als Ceretic ihn in Richtung einer großen Halle zog.
„Dafür ist der Knecht da“, entgegnete Ceretic. „Ihr kommt jetzt mit mir. Wir haben zu feiern.“
Widerstrebend ließ sich Ordulf von den Tieren wegziehen. Es war zwar nur ein ziemlich unansehnliches kleines Vieh, aber immerhin hatte es ihn brav von der Küste bis in die Stadt getragen.
Sie betraten die Halle. An der einen Seite befand sich eine offene Feuerstelle und mehrere Mägde hantierten mit Schüsseln und Töpfen. Der Rest des Raumes wurde von langen Bänken und Tischen ausgefüllt, an die Ceretic sie nun führte. Ordulf sah sich neugierig um. Diese Halle sah ganz anders aus als die des Königs. Die Decke war niedrig und wurde von mehreren Balken gestützt. Die Menschen, überwiegend schnauzbärtige Männer in bunten Wollkleidern, schienen sich gar nicht zu beachten. Oft wandten sie einander den Rücken zu, während die einen müde ihr Bier schlürften und die anderen sich beim Würfelspiel oder trinken vergnügten. Sein Blick wanderte weiter und suchte nach dem Hochsitz. Doch er konnte ihn nicht entdecken. Da knallte eine der Mägde wortlos ein paar Becher vor sie hin. Ordulf fuhr erschrocken herum.
„Wohnt hier ein Freund von dir?“, fragte er Ceretic verblüfft. „Und will er uns nicht in seiner Halle begrüßen?“
„Nein, ich kenne den Wirt nicht“, erklärte Ceretic. „Dies ist ein Gasthof, hier bekommen Fremde Essen und Trinken und bezahlen dafür.“
„Bezahlen?“ Nun mischte sich echte Empörung in Ordulfs Stimme. „Aber das Gastrecht ist doch heilig. Selbst die verdammten Friesen respektieren das“, protestierte er.
Ceretic schüttelte den Kopf. „Die Sitten sind hier eben anders. Mach dir keine Sorgen, ich regele alles. Ihr seid meine Gäste.“
Ordulf nickte. Zumindest was sie betraf, waren die Verhältnisse damit klar. Mochten die Britannier ihre merkwürdigen Sitten behalten, er wusste, wem er für das Gastmahl seine Dankbarkeit schuldete.
„Einen schönen Goldring hat dir der König geschenkt. Darf ich einmal schätzen, wie schwer er ist?“, fragte er daher höflich und streckte erwartungsvoll seine Hand aus.
Ceretic nahm den Ring umständlich vom Hals, behielt ihn aber einen Moment und schaute ihn mit unverhohlenem Stolz an. „Ja, das Gold ist das eine“, erklärte er selbstzufrieden. „Aber wichtiger ist, was es bedeutet. Der König hat mich in den Ritterstand erhoben und in seinen Rat berufen!“ Nun endlich reichte Ceretic dem jungen Sachsen den goldenen Torque. „Und morgen reiten wir zurück zu Hengist. Im Norden gibt es Arbeit für uns.“
Durovernum, Juni 441
Ceretic
Am nächsten Morgen suchte Ceretic Vortigern noch einmal auf. Die Sachsen hatten einigen Eindruck gemacht. Zu recht, denn beide überragten die einheimischen Krieger um Haupteslänge.
„Du wirst die Heiden auf dem schnellsten Weg nach Londinium bringen“, begrüßte der Hochkönig seinen frischgebackenen Ritter ohne Umschweife.
„Können wir Pferde bekommen?“, fragte Ceretic zurück.
„150 Pferde? Nein, das ist ausgeschlossen. Vielleicht zehn, für dich und ihre Anführer. Wie hießen sie doch? Henkai und Ho-, Ho-, Howie?“
„Hengist und Horsa“, nickte Ceretic bestätigend.
„Aber“, fuhr der Hochkönig fort, „ich habe mir bereits etwas überlegt. Die Sachsen sollen die Thamesa hinaufrudern. Mein Sohn Vortimer wird euch auf einer Lusorie entgegenkommen und euch nach Londinium führen. Ich werde ihn anweisen, alles, was er an Pferden und Wagen finden kann, dort für euch bereitzustellen. Von Londinium aus werdet ihr so schnell ihr könnt nach Lindum aufbrechen, wo ich mit dem Rest des Heeres warte. Ich selbst breche schon morgen früh dorthin auf, gemeinsam mit meinen wichtigsten Ratgebern.“
Ceretic sah ihn erstaunt an. Wieso diese Eile? Doch der Hochkönig schien seine Gedanken zu erraten. „Ich habe gestern glückliche Nachricht erhalten. Die Pikten haben den hohen Wall überschritten.“
Ceretic sah seinen Herrn ungläubig an. „Glückliche Nachricht?“, entfuhr es ihm, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er war entsetzt. Was außer einem toten Pikten konnte einen glücklich machen?
Der König grinste breit. „Ahearn, der König von Elmet, hat die Krieger der nördlichen Reiche um sich geschart, sich aber nach einer verlorenen Schlacht hinter den Mauern von Eboracum verkrochen. Wenn ich sie aus der Notlage befreie, wird mich der ganze Norden als Hochkönig anerkennen. Nicht nur Elmet und Ebrauc, nein, auch die Herrscher von Rheged, Bryneich, Gododdin, bis hinauf zum hohen Steinwall, werden die Knie vor mir beugen. Also beeile dich, damit wir die Pikten nicht schon aufgerieben haben, bevor du mit den Sachsen nachkommst!“
„Warte mit der Schlacht, bis ich die Sachsen heran gebracht habe, sie werden dich nicht enttäuschen“, versprach Ceretic.
„Außerdem“, fuhr Vortigern fort, „wird es den halsstarrigen Londiniern guttun zu sehen, wer jetzt in meinem Dienst steht. Ihre Loyalität schwankt immer noch zwischen mir und diesem verdammten Ambrosius, als könnten sie sich zu jeder Gelegenheit aussuchen, wer ihnen besser passt. Und auch den Sachsen wird es gut tun, die Mauern Londiniums und seine Bauwerke zu bestaunen. Das wird diese Barbaren lehren sich darüber zu freuen, mir dienstbar zu sein. Ich bin der rechtmäßige rex britannorum!“
Also fängt der schlaue Fuchs wieder einmal zwei Fliegen mit einer Klappe. Ceretic nickte anerkennend. Doch nun war Eile geboten. Innerhalb einer Stunde verließ er mit den beiden Sachsen das Nordtor Durovernums in Richtung Regulbium.