Читать книгу Brand und Mord. Die Britannien-Saga - Sven R. Kantelhardt - Страница 16

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X. Wenn die Waffen Schweigen, bleiben die Scherben

Ad Abum, Juni 441

Tallanus

„Silent leges inter arma“, seufzte Tallanus, als er über die grausige Walstatt schritt. Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze. Er hatte sich zu diesem Gang gezwungen, um sterbenden Christen die letzte Ölung zu erteilen. Doch obwohl er kaum auf gefallene oder verwundete Christen traf, zog ihn das Grauen derart in seinen Bann, dass er immer weiterlief, bis in der Senke schließlich nur noch gefallene Pikten lagen.

„Hier liegt er, sie haben ihn erschlagen!“, rief auf einmal ein älterer Britannier vor ihm.

Tallanus eilte heran. Vor ihm lag die von den Sachsen geplünderte Leiche von Koloman von Uerturios! Der junge Prinz war auf den Rücken gestreckt und starrte mit gebrochenen Augen in den Abendhimmel. Dicht unter dem Herzen zeigte sich eine scheußlich ausgefranste Wunde. Tallanus erkannte darin inzwischen mühelos das Werk eines der kurzen sächsischen Schwerter. Um ihn herum lagen besonders viele der blau bemalten Körper, hier musste der Kampf noch einmal aufgebrandet sein. Vielleicht war das den Heiden eine Lehre, Britannien von nun an in Frieden zu lassen.

Vortigerns Plan, sächsische Piraten als Auxiliares anzuwerben, trug überwältigende Früchte. Die Pikten waren seit Menschengedenken nicht mehr so gedemütigt worden. Sicherlich brauchten sie Jahre, um sich von dieser Niederlage zu erholen. Und als Beigabe waren sächsische Angriffe auf die Küste dieses Jahr ausgeblieben – ihre junge Mannschaft hatte Besseres zu tun.

Mit Mühe riss sich Tallanus von dem scheußlichen Bild los. Er hatte genug gesehen. „Mortui sepeliant mortuos suos“, murmelte er. Mögen die Toten ihre Toten begraben. Es wurde Zeit, dass er sich um die Lebenden kümmerte.

Zurück im Lager sah er zuerst nach verwundeten Britanniern. Es gab aber nur wenige Blessuren, um die sich bereits Vortigerns Wundärzte kümmerten. Die Sachsen hatten von Anfang an die Schlacht geführt und die Britannier waren erst zum Einsatz gekommen, als der Angriff der Pikten bereits gebrochen war. Sie feierten nun den leichten Sieg und die Rache für die Schmach, die die Pikten ihnen ein Dutzend Tage zuvor auf demselben Feld zugefügt hatten.

Doch auch aus dem Lager der Sachsen klang lautes Lärmen zu ihnen herüber. Vielleicht gab es dort Verwundete, die seines Beistandes bedurften? Möglicherweise war das eine Gelegenheit, ihnen ein Beispiel für Gottes Liebe vor Augen zu führen? Entschlossen machte er sich auf die Suche nach Ceretic, denn sein kurzes Gespräch – oder gerade Nicht-Gespräch – mit dem Ordulf genannten Sachsen am Vorabend der Schlacht hatte ihm deutlich gezeigt, dass er allein nicht weiterkommen würde. Er entdeckte den königlichen Ratgeber bald darauf inmitten der feiernden Britannier.

„Komm mit, du musst mir übersetzen“, forderte er seinen nicht mehr ganz nüchternen Freund auf. „Ich will sehen, ob es unter den Sachsen Verwundete gibt, die meiner Hilfe bedürfen.“

„Warum nicht“, antwortete Ceretic jovial. „Sie haben sich heldenhaft geschlagen und weißt du, wer das Schlachtenglück im letzten Augenblick zu unseren Gunsten gewendet hat? Niemand anders als der junge Ordulf, den ich persönlich vor dem sicheren Tode gerettet habe!“ Er sonnte sich kurz in der Bewunderung seiner Zechgenossen, die auf ihn eindrangen die Geschichte zu erzählen, bis Tallanus ihn etwas entnervt am Ärmel zupfte. „Wenn ich noch etwas ausrichten soll, dann müssen wir los. Du kannst doch später noch etwas trinken.“

Daraufhin hob Ceretic abwehrend die Hände. „Das ist eine lange Geschichte, die ich ein andermal erzähle. Ihr hört ja, jetzt werde ich bei den Sachsen gebraucht.“

Tallanus zog ihn mühsam mit sich fort. Er dirigierte seinen Freund in Richtung des sächsischen Lagers, welches ein wenig abseits bei den ehemaligen Wachfeuern hoch über dem Abus lag. Barbarischer Gesang und das Johlen Betrunkener klang ihnen schon von weitem entgegen.

Angewidert verzog Tallanus das Gesicht. „Diese Heiden können einfach kein Maß halten!“, schimpfte er, doch dann fiel sein Blick auf den leicht schwankenden Ceretic. Er seufzte und seine Züge wurden milder. „Wer kann es ihnen schon verübeln, bei unserem Vorbild. Und selbst unser Bischof hat noch nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, wie wir ihnen den rechten Weg zeigen können.“ Ceretic nickte unsicher und Tallanus fühlte sich dadurch in seinem Eifer bestätigt. „Auch Vortigern lässt sie nach ihren Sitten leben, solange sie nur als billige Söldner ihre Haut zu Markte tragen“, schimpfte er. Ceretic nickte wieder, blieb aber weiterhin stumm.

Plötzlich hielt Tallanus erschrocken inne. Neben einem der niedrigen Sträucher hatte er eine Gestalt entdeckt. Die johlenden Gesänge, die vom Lager herüberdröhnten, ließen den hingekauerten Mann noch einsamer erscheinen, als er ohnehin schon wirkte. „Frag ihn doch, ob er sich nicht über den Sieg freut“, forderte Tallanus Ceretic auf. Der Mann trug eine Augenklappe, was aber offenbar nicht auf eine frische Verwundung zurückzuführen war.

Ceretic zögerte. „Ich kenne den Mann“, informierte er seinen Freund. „Das ist einer jener Übeltäter, die drüben in Sachsen den jungen Ordulf töten wollten. Habe ich dir die Geschichte überhaupt schon erzählt?“

„Nein, hast du nicht, aber ich fürchte, das ist jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt dafür“, entgegnete Tallanus.

Ceretic gab eine Reihe hauchender Laute von sich. Der Angesprochene blickte kurz auf, als habe er Ceretics Stimme erkannt. Sein eines Auge verengte sich kurz zu einem schmalen Schlitz und Tallanus musste nervös schlucken. Der Blick gefiel ihm gar nicht, doch dann seufzte der Einäugige resigniert und starrte wieder stumpfsinnig vor sich hin.

„Der ist wohl betrunken“, bemerkte Tallanus. „Lass uns lieber wieder gehen. Sieht nicht so aus, als bräuchte der hier unsere Hilfe.“ Ihn fröstelte. Die Sachsen waren doch wilde Barbaren! Was hatte ihn nur dazu getrieben sich so vertrauensvoll in ihre Hand zu begeben? Am liebsten wäre er fortgelaufen. Zum Glück hatte er wenigstens Ceretic mitgenommen.

Doch gerade als er sich abwandte, antwortete der Fremde. Tallanus verstand natürlich nichts, aber er hatte inzwischen genug Sächsisch vernommen, um die Stimmung des Sprechers anhand des Tonfalls einzuordnen. Dieser Sachse klang nüchtern und vor allem zutiefst betrübt. Nach einem kurzen innerlichen Kampf gewann sein Mitleid die Oberhand über die Angst. Langsam drehte er sich um und zwang sich, eine freundliche Miene aufzusetzen. Doch das Auge des Fremden suchte so verzweifelt seinen Blick, dass ihm sofort die Schamesröte über die eigene Feigheit ins Gesicht stieg. Wie hatte er daran denken können einfach wegzulaufen? Serve male et piger – du fauler und unnützer Knecht, so würde der Herr Jesus auch zu ihm sagen, wenn er dereinst in aller Herrlichkeit an der Spitze der himmlischen Heerscharen käme, um die Welt zu richten. Er würde niemals zum Priester oder gar Bischof taugen, die Not dieses Unglücklichen hätte er auch ohne Worte spüren müssen.

„Was hat er gesagt?“, wandte er sich an Ceretic.

Der Angesprochene runzelte die Stirn. „Ich verstehe ihn zwar, aber ich verstehe nicht, was er meint“, antwortete der langsam.

„Was sagt er denn nun?“, drängte Tallanus. Auf einmal brannte es ihm geradezu unter den Nägeln zu erfahren, was den Sachsen quälte.

„Er sagt: Er hat mein Leben gerettet und mich doch vernichtet“, übersetzte Ceretic.

Tallanus spürte, wie sein eigener Herzschlag sich beschleunigte. Dieser Mann litt Seelenqualen! War das ein Zeichen des Himmels, dass er hier nicht nur körperliche, sondern auch tiefere seelische Verletzungen heilen sollte? „Was ist es, was dich quält? Erzähle es mir, denn es ist meine Aufgabe, bedrängten Seelen beizustehen!“, behauptete er aufgeregt und diesmal übersetzte Ceretic ungefragt.

„Dieser Swæn, der mir mein Auge genommen hat – ich kenne die Geschichte –“, übersetzte und kommentierte Ceretic gleichzeitig, „der hat mich damals verschont, aber mit welcher Arroganz! Zwei meiner Geschlechtsgenossen sind seinetwegen gestorben. Und heute, als uns der Feind hart bedrängte, ist er einfach hinter mir zurückgewichen und hat mich im Stich gelassen. Da habe ich meinen Hass herausgeschrien. Und was hat der Kerl gemacht? Er ist umgedreht und hat mich und die ganze Schlacht gerettet! Mein ärgster Feind hat mir das Leben gerettet. Und schlimmer noch, er ist stärker und mutiger als ich und auch als all die Anderen, mit Ausnahme Hengists vielleicht. Ich schulde ihm ewigen Dank und Gefolgschaft, aber die erlittene Schmach und die Treue zu meinem eigenen Geschlecht fordern, dass ich ihn hasse und vernichte. Mein gerettetes Leben verlangt, dass ich ihm meine Dienste anbiete, aber die Gesetze der Blutrache gebieten, dass ich ihn töte. Ich sehe keinen Ausweg, als mir selbst das Leben zu nehmen!“, übersetzte Ceretic wortgetreu. Dann drehte er sich zu seinem Freund um. „Und? Kannst du ihm nicht helfen? Du kennst dich doch mit solchen Dingen aus.“ Er sah Tallanus erwartungsvoll an und auch der Sachse blickte mit einer Mischung aus Schmerz und Spannung zu ihm auf.

Himmel, was für eine Not! Und obendrein war es ein Heide. Tallanus stöhnte. Ceretics hohe Erwartungen machten das Ganze nicht besser. Wieso habe ich den Mann nicht einfach in Ruhe gelassen? Bin ich überhaupt für die Heiden zuständig? Oh, serve male et piger!, schimpfte er sich in Gedanken nochmals. Was hat der liebe Heiland nicht alles um meinetwillen auf sich genommen? Und ich, sein unwürdigster Diener, bin erst zu feige und dann zu faul, um dieses unglückliche, verirrte und verwilderte Schaf zum guten Hirten zu führen?

Langsam setzte er sich gegenüber dem Sachsen auf die Erde. Wenn du mich als dein Werkzeug gebrauchen magst, Herr, dann gib mir auch die nötige Weisheit, betete er dabei im Stillen. Schließlich räusperte er sich und blickte dem Barbaren geradewegs in das gesunde Auge. „Hast du schon mal etwas von Vergebung gehört?“

Pert Acaiseid, August 441

Álainn

Krachend fiel die Schale zu Boden. Álainns rechter Zeige- und Mittelfinger schmerzten wieder wie am ersten Tag ihrer Gefangenschaft. Immer noch konnte sie kaum richtig zupacken. Doch im nächsten Augenblick vergaß sie den Schmerz in der Hand wegen des stärkeren Schmerzes im Gesicht. Nara hatte sie geohrfeigt.

„Du unnützes Ding, sieh, was du angerichtet hast!“ Die Scherben der Tonschale schwammen in der verschütteten Milch am Boden des runden Speichenhauses.

Álainn gehörte nun als Sklavin zu Eòghanns Sippe. Und wenn nicht Nara, Eòghanns Schwiegermutter, gewesen wäre, hätte sie sich sogar halbwegs in die Familie aufgenommen gefühlt. In dem kleinen Rundhaus, welches durch Mauervorsprünge, die wie die Speichen eines Rades ins Zentrum ragten, in mehrere Abschnitte aufgeteilt war, war der grausame Seeräuber Eòghann ein umgänglicher Mensch.

„Lass das Mädchen in Frieden“, kam der gerade eingetretene Hausherr ihr auch gleich zu Hilfe. „Du weißt doch, dass sie verletzt ist, du solltest ihr keine Aufgaben geben, die sie noch nicht verrichten kann“, knurrte er verärgert.

Álainn verstand den piktischen Dialekt inzwischen problemlos und sie genoss mehr Freiheiten, als sie als Sklavin erwartet hätte. Aber wohin sollte sie auch fliehen? Die Burg stand auf einem Felsvorsprung im stürmischen Ozean, hoch über den kleinen Buchten, in denen die Fischer- und Raubboote der Pikten lagen. Der einzige Zugang zu dem Felsen war nur wenig mehr als dreißig Schritte breit und zudem von einer Mauer geschützt. Der einzige Durchgang, eine etwa zehn Schritt lange Doppelung der Mauer, wurde durch drei hintereinanderliegende Türen verschlossen.

Doch auch jenseits dieses unüberwindlichen Hindernisses gab es für Álainn keine Hoffnung auf Flucht. Wohin sollte sie sich wenden, hunderte von Meilen von ihrer Heimat entfernt in einem unwirtlichen, rauen Land? Und sie war sich nicht einmal sicher, ob Pert Acaiseid überhaupt in Britannien oder nicht auf einer Insel lag. Die Menschen in der Siedlung waren für ihr Überleben jedenfalls ganz und gar aufeinander angewiesen und nun gehörte sie ebenfalls zu dieser Gemeinschaft. Eòghann hatte sie sogar manchmal ohne Bewachung und ohne jede Bedenken mit den Schafen hinaus auf die Weiden vor der Burg geschickt. Nun zog er sie am Arm von der zeternden Nara fort.

„Lass sie schimpfen. Du gehst heute wieder mit den Schafen auf die Weide oben im Westen“, beschied er.

So trieb Álainn bald Eòghanns Vieh durch die drei engen Pforten in der Mauerdopplung aufs Vorland. „Kommt mit, ich bring euch zu den besten Kräutern“, versprach sie den Tieren lockend. Sie kannte den Weg inzwischen gut und die Schafe folgten ihrer Stimme. Langsam löste sich ihre Anspannung und sie schritt rasch voran.

Das Meer plätscherte sanft in der Bucht unter der Felsenfeste, die salzige Luft war warm und mischte sich mit dem Duft von Heidekräutern und Torfmooren. Tief unter ihr lagen die Boote ihres Dorfes. Allesamt Currachs, lederbespannte Holzgerippe. Draußen, jenseits der Bucht, sah sie die kugeligen Köpfe der Robben in der Dünung tanzen. Immer wieder verschwand einer, um eine Weile später an anderer Stelle aufzutauchen. Darüber zogen kreischende Möwen ihre Kreise. Vielleicht war das Leben hier im Norden doch erträglicher, als sie befürchtet hatte. Wenn nur die alte Hexe nicht wäre.

Nach einer guten halben Stunde erreichte sie die von Eòghann bezeichnete Weide. Doch die Ruhe währte nicht lange. Plötzlich vernahm sie hinter sich Hufgetrappel. Sie fuhr herum. Ein einzelner Reiter auf einem der flinken piktischen Ponys galoppierte den Pfad entlang, der von Westen nach Pert führte. Ängstlich blickte sie um sich. Sollte sie versuchen sich hinter den niedrigen Büschen zu verstecken? Doch der Reiter hatte sie sicher schon bemerkt.

Dann atmete sie auf. Es war Carney, der aus einer etwas südlicher gelegenen Siedlung kam. Vor einigen Monaten war er häufig in ihrem Hause zu Gast gewesen, um Kilian, Naras Sohn, den die alte Hexe über alles vergötterte, zu besuchen. Kilian selbst und er zogen dann irgendwann fort, zum fernen Königssitz in Forteviot. Denn der Prinz der Uerturio hatte die Männer der nördlichen Stämme aufgefordert gemeinsam mit ihm gegen die Britannier zu ziehen. Álainn hatte den Königssitz selbst natürlich noch nie gesehen, aber Forteviot galt bei allen piktischen Stämmen als der reichste und vornehmste Ort im Norden. Es hieß, Prinz Koloman, für den selbst die Mädchen in Pert Acaiseid zur Sonnenwendfeier eine Unzahl Blumenkränze gebunden hatten, sei mit vielen tausend Männern aus allen Stämmen nach Süden gezogen, um Beute zu machen.

Jedenfalls hatte Nara, seit ihr geliebter Sohn fortgezogen war, begonnen, Álainn immer häufiger zu schlagen. Zum Glück war Eòghann selbst nicht mit den Uerturio nach Süden gezogen, sonst wäre sie der Alten völlig schutzlos ausgeliefert gewesen. Eòghann war ja bereits früher im Jahr mit ihrem eigenen Häuptling, der sich zwar nicht König nannte, aber doch völlig unabhängig über seine Sippe und die Sturminseln herrschte, zu einem bescheideneren Raubzug an die britannische Küste gefolgt. Álainn hatte es am eigenen Leib erfahren.

Inzwischen war Carney, von einer Staubwolke umhüllt, bis zu ihr herangekommen. Pferd und Reiter schwitzten stark in der Sonne. Álainn hob die Hand zum Gruß, während die Schafe erschrocken auseinanderstoben, als der Fremde sein Pferd dicht vor ihr zügelte.

„Was bringst du für Nachricht?“, fragte sie neugierig.

„Großes Unheil, Gruagach straft uns fürchterlich. Die Britannier haben eine Rasse von grausamen Riesen zu Hilfe gerufen. Unser Heer ist geschlagen, der Prinz gefallen!“, rief er ihr zu und trieb sein Pferd gleich wieder im scharfen Trab voran.

Álainn war wie vom Donner gerührt. Was hatte das zu bedeuten? Riesen, Britannier? Was war geschehen? Sollte ihr Volk endlich die Kraft gefunden haben, sich der Pikten zu erwehren? Und dürfte sie nun auf Befreiung hoffen? Aber nein, Pert Acaiseid war so weit im Norden, so weit entfernt von Britannien, und sie war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt über Land oder nur mit den schnellen Booten der Pikten zu erreichen war.

Am Abend trieb Álainn die Schafe zur Burg zurück. Eine düstere Stimmung lag über den eng um den alten Broch gedrängten Rundhäusern. Leises Wehklagen drang aus mehreren Ecken und Winkeln an ihr Ohr. Sie sperrte die Schafe in den Pferch und trat leise in Eòghanns Haus. Der Hausherr saß in Gedanken versunken an dem niedrigen Torffeuer in der Mitte des Raumes und drehte ihr den Rücken zu. Seine Gattin Gwen hockte ihm mit rotgeweinten Augen gegenüber. Ängstlich spähte Álainn nach Nara, doch die lag wimmernd und völlig besoffen in ihrer Nische des Rundhauses. Álainn atmete auf, jedoch ein wenig zu laut, denn Gwens Kopf ruckte nach oben und sie sah Álainn hasserfüllt an.

„Du freust dich wohl, Britannierin?“

Aber Eòghann wehrte ab. „Sie hat den ganzen Tag gearbeitet, was man von deiner Mutter da drüben nicht sagen kann. Also lass sie etwas zu Essen zu sich nehmen und in Frieden schlafen.“

Gwen sah ihr finster nach, als Álainn sich etwas Hafergrütze und Trockenfisch nahm und schüchtern in ihren eigenen Winkel des kleinen Radspeichenhauses zurückzog.

Eboracum, Juni 441

Ceretic

Gleich am nächsten Morgen gab Vortigern den Befehl zum Marsch nach Norden. Etwa fünfzig Mann blieben zurück, um die Bestattung der Gefallenen fortzusetzen und die wenigen Verwundeten vor versprengten Pikten zu schützen.

Vortigern ritt an der Spitze des Heerzuges, ihm folgten seine Ratgeber und die sächsischen Söldner. Viele unter ihnen trugen stolz piktische Waffen. Ceretics Augen suchten in ihren Reihen nach Ordulf, doch er erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Der junge Sachse trug ein prächtiges Kettenhemd mit vergoldeten Plättchen auf der Brust. Unter dem Herzen wies es ein gezacktes Loch auf, welches sein neuer Besitzer noch nicht repariert hatte. Als Ceretic sein Pferd neben ihn lenkte, bemerkte er, dass zwischen den eisernen Ringen noch getrocknetes Blut klebte. Doch das schien den jungen Sachsen weniger zu stören.

„Mal sehen, ob die eisernen Ringe wirklich so viel halten, wie man immer sagt“, erklärte er mit säuerlichem Grinsen.

„Mir ist ein fester Schild lieber, aber ich habe keinen mehr übrig.“

Erstaunt bemerkte Ceretic, dass Ordulf recht hatte und viele der Sachsen ohne Schilder marschierten. Eigentlich hätten sie dringend Zeit benötigt, um ihre Wehr in Stand zu setzen.

„Vortigern ist der Ansicht, Schnelligkeit sei wichtiger als Erholung“, antwortete er leicht spöttisch.

„Das habe ich bemerkt“, entgegnete Ordulf immer noch mit schiefem Grinsen. „Aber den Pikten, von dem ich dies hier habe“, dabei zeigte er auf sein neues Kettenhemd, „hat weder der schnelle Anmarsch noch sein Eisenhemd geschützt.“

Aller Sorgen ungeachtet marschierten sie den Tag über eine große Strecke, mal im Regen, mal in Sonne und Staub, immer weiter auf der endlosen Via Erminia Richtung Cair Ebrauc.

Ceretic ritt meist direkt bei Vortigern und den übrigen Ratgebern. Am Straßenrand entdeckte er mehrfach Ruinen und Trümmer verbrannter Gehöfte und Dörfer. Diesen Weg musste auch das piktische Heer gezogen sein, verbittert darüber, von den hohen Mauern Eboracums abgewiesen worden zu sein. Sie marschierten so rasch sie konnten. Obwohl die Männer von der Schlacht am Vortag noch geschwächt sein mussten, ließ Vortigern ihnen nur eine knappe halbe Stunde zur Mittagsrast. Bald schon drängte er weiter. Bis spät in den Abend hinein trieb er das Heer unbarmherzig vorwärts.

„Hier bleiben wir für die Nacht. Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir wieder auf“, verkündete Vortigern schließlich, als die Sonne hinter dem westlichen Horizont versank und die ersten Sterne am Himmel erschienen.

Erschöpft ließen sich die Männer neben der Straße fallen. Doch die Unterführer brachten sie wieder auf Trab. Zelte aufstellen, Feuerholz suchen, Wachen einteilen. Eigentlich war es schon viel zu spät, um geordnet zu lagern, und Ceretic vermutete, dass sie auf dem Gewaltmarsch eine nicht unerhebliche Zahl von Ausfällen und Nachzüglern hinter sich gelassen hatten.

„Herr, wenn wir weiter so marschieren, kommt nur die Hälfte von uns in Eboracum an“, wandte er sich daher an den König.

Doch der schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Wir müssen Eboracum morgen unbedingt erreichen.“

„Aber weshalb auf einmal diese Eile? Vor der Schlacht nahmen wir uns Zeit, die Toten zu begraben und nun, wo Eboracum keine Gefahr mehr droht, hetzen wir nach Norden?“ Ceretic war verwirrt.

„Er hat recht“, pflichtete ihm zu seinem Erstaunen Vortimer bei, der gemeinsam mit den übrigen Ratsmitgliedern am Feuer saß. „Müssen wir so lange marschieren? Das Heer ist erschöpft und gestern haben wir die Schlacht gewonnen.“

„Und die Sachsen haben sogar gestern und vorgestern gekämpft“, stimmte Ceretic zu.

„So hart kann das wohl nicht gewesen sein, die Pikten sind doch gleich geflohen“, warf Vortimer mit säuerlicher Mine ein.

Hätte mich auch gewundert, wenn er seine Haltung gegenüber den Sachsen grundsätzlich änderte, dachte Ceretic mit so etwas wie Befriedigung.

Doch Vortigern beachtete weder die Einwände seines Beraters, noch die des Sohnes. „Wir müssen nach Eboracum, bevor die Nachricht unseres Sieges dort eintrifft. So können wir Ahearn überraschen und dann wird er es nicht wagen, mir den Gefolgschaftseid zu verweigern. Die nördlichen Kleinkönige sind zu sehr auf ihre Eigenständigkeit bedacht, aber der einzige Hochkönig bin und bleibe nun mal ich! Auch Ahearn und der Norden müssen sich mir beugen.“

Tatsächlich lag bereits am frühen Nachmittag des nächsten Tages Cair Ebrauc vor ihnen in der Sonne. Die Regenwolken hatten sich gänzlich aufgelöst. Die mächtigen römischen Mauern ragten grau und drohend aus der hellen Sommerlandschaft. Ceretic konnte das Rechteck des alten Militärlagers im Norden der Stadt, zwischen den beiden Flüssen Ouse und Foss gelegen, von ihrem erhöhten Standort aus gut erkennen. Eboracum selbst erstreckte sich inzwischen über die Ufer beider Flüsse hinweg und die Mauern reichten im Süden fast bis an den Zusammenfluss. Das Umland der großen Stadt dagegen lag eigentümlich leer und verlassen zu ihren Füßen.

„Sie beobachten uns voller Sorge. Vermutlich halten sie uns für Kolomans siegreiche Pikten“, kommentierte Vortigern mit hämischem Grinsen. „Schwärmt aus und lasst unsere Banner wehen!“, ordnete er dann an und die Kolonne marschierte in ganzer Breite auf. Die Britannier entfalteten ihre Flaggen. Heilige, Kreuze, Tiere und Drachen flatterten auf bunten Tüchern über ihnen.

„Vorwärts!“, befahl der Hochkönig und die britannische Streitmacht marschierte mit breiter Front auf das große Torgebäude im Südwesten von Eboracum zu. Die Fahnen knallten im Wind und in Ceretics Brust machte sich ein erhabenes Gefühl breit, zu dieser siegreichen Macht zu gehören. Und nicht nur das. Er selbst, Ceretic ap Ruohim, hatte all dies überhaupt erst ermöglicht!

Schließlich kamen sie bis auf Rufweite an die abweisenden Mauern heran. Mächtige Türme flankierten das doppelte Tor. Zwischen den Zinnen auf der Mauerkrone sahen sie dicht gedrängt die Krieger des Nordens.

„Wer seid ihr?“, rief ihnen ein Mann mit dröhnender Stimme entgegen.

„Wer fragt?“, hielt Vortigern mit lauter Stimme dagegen. Er wollte sich offensichtlich nicht wie ein Bittsteller ausfragen lassen.

„Ich bin Ahearn, König von Elmet und Herr in Cair Ebrauc“, erhielt er zur Antwort.

„Und ich entbiete dir und den Kriegern des Nordens meinen Gruß. Ich bin Vortigern, euer Hochkönig und führe die Macht Britanniens herauf, um euch von den Pikten zu befreien!“

Einen Atemzug lang herrschte Stille, dann brandete lauter Jubel von den alten Mauern Eboracums auf. Bald öffnete sich das Tor und allen voran eilte Ahearn dem Hochkönig entgegen.

„Ihr habt die Pikten umgangen?“, fragte er staunend, als er Vortigern und einige britannische Edle erkannte.

„Ich habe sie vernichtet“, antwortete Vortigern stolz. „Prinz Koloman liegt erschlagen am Ufer des Abus. Ihr Krieger des Nordens könnt getrost in eure Weiler und Höfe zurückkehren. Euer Hochkönig hat euch Frieden gebracht und eure Feinde zertreten.“

Ahearn starrte ihn mit offenem Mund an, während seine Begleiter wiederum in Jubel ausbrachen. Schließlich fasste er sich. „Seid uns umso mehr willkommen … König Vortigern.“

Ceretic hatte die etwas zu lange Pause im Satz bemerkt. Der König von Elmet hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, Vortigern als Hochkönig anzuerkennen. „Seid uns willkommen in Cair Ebrauc. Du und deine Krieger aus dem Süden.“ Neugierig ließ er den Blick über Vortigerns Heer schweifen. „Viele deiner Banner kenne ich“, bemerkte er, „doch wer sind die Riesen mit den runden Schilden und blonden Bärten?“

Vortigern schaute grinsend zu den Sachsen hinüber, die nun zu seiner Rechten Aufstellung bezogen hatten. Dann spielte er den nächsten Trumpf aus. „Das sind Sachsen, sie leisten mir Gefolgschaft, wie bald auch schon die Pikten“, behauptete er listig.

Ahearn erbleichte und das aufgeregte Geplauder seines Gefolges erstarb augenblicklich. „Du hast diese Geißel Gottes tributpflichtig gemacht?“, fragte er erschrocken.

Gut, dass der stolze Hengist das nicht versteht, dachte Ceretic, während er gespannt die Unterredung verfolgte.

„Im Kampf sind sie ganz nützlich“, bemerkte Vortigern mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Nicht wahr, Ceretic?“ Dabei sah er ihn Bestätigung heischend an. „Ceretic ist einer meiner Ritter. Er versteht ihre Sprache und befehligt sie“, erklärte er.

Ceretic reckte stolz die Brust. „So ist es, Herr“, bestätigte er.

Hinter ihm sog Vortimer fauchend die Luft ein und als Ceretic sich kurz umwandte, sah er, dass der Prinz ebenfalls zum Platzen gespannt war, wenn auch nicht vor Stolz, sondern vor Neid.

Doch Ahearn lenkte seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. „Mein Hochkönig“, brachte er hervor und sank auf die Knie. „Willkommen im Norden deines Reiches. Wenn es dir gefällt, kannst du in die Stadt einziehen, aber gewähre uns eine Bitte: Lass deine Sachsen draußen vor den Toren!“

Eboracum, Juni 441

Ordulf

Eboracum war mit Mauern befestigt, die denen von Londinium glichen. Bewundernd glitt Ordulfs Blick über die Ecktürme des Tores. Achteckige Steinsäulen von unglaublicher Größe. Wie hatten diese sagenhaften Römer den Stein in solch eine Form gezwungen?

Ceretic hatte ihnen erklärt, dass sie vor der Stadt lagern sollten. Ordulf war enttäuscht, er hätte gerne auch die Gebäude im Inneren dieser Stadt bestaunt. Thiadmar dagegen war erleichtert. „Mir sind diese Steinklötze nicht geheuer“, gestand er.

Gerolf, der sich seit dem Tode Ypwines bei den beiden jungen Männern hielt, schnaufte zustimmend: „Das ist eine unnatürliche Art zu leben, hinter diesen Steinklötzen.“

Zwei Wochen später befanden sie sich wieder in Thanet. Vortigern hatte sie auf Pferden zurück nach Londinium geschickt, wo sie ihre wartenden Schiffe bestiegen. Diesmal ruderten sie die Schiffe direkt in das Fleet hinein, das Ypwine vor ihrem Marsch nach Norden entdeckt hatte.

„Endlich können wir den armen Ypwine beisetzen“, sagte Gerolf zu seinen beiden jungen Freunden, als sie die Heritog aufs Land zogen. „Wir wollen ihm einen Hügel aufschichten, hier, wo er sich einen Hof bauen wollte.“

Das Fleet war tatsächlich ein hervorragender Winterhafen und Hengist entschied sich, ein dauerhaftes Lager zu errichten, für welches sich bei den Sachsen bald der Name „Ypwinesfleet“ durchsetzte.

Auf Vortigerns Befehl hin organisierte Ceretic britannische Handwerker, die den Sachsen beim Fällen der Bäume und beim Häuserbau zur Hand gingen und noch bevor sich die Blätter verfärbten, stand Hengists Halle. Das frisch geschlagene Holz leuchtete weiß bis weit auf die See hinaus und diente den Sachsen als Landmarke für die Ansteuerung des Ypwinesfleets, wenn sie mit ihren Schiffen ausfuhren, um neues Baumaterial, Kleidung oder Nahrung vom Festland zu holen. Ordulf bemühte sich stets auf solchen Fahrten dabei zu sein, denn die Seefahrt gefiel ihm besser als die Arbeit auf der Baustelle und er zeigte großes Geschick beim Steuern eines Schiffes. Hengist, der Ordulf inzwischen zu einem seiner wichtigsten Unterführer gemacht hatte, vertraute ihm bald die Heldir an. Ordulf wunderte sich manches Mal, warum ihm gerade der einäugige Halvor, der bis vor kurzem doch sein ärgster Feind war, hilfreich zur Seite stand. Halvor war bereits in Dithmarschen zum Fischen aufs Meer gefahren und kein unerfahrener Seemann.

So kam es, dass er eines Herbsttages zusammen mit Ordulf am Strand unterhalb von Rutupiae stand, wo sie Versorgungsgüter für die kleine sächsische Ansiedlung auf Thanet luden, als sich Ceretic raschen Schrittes näherte.

„Ceretic, alter Freund“, begrüßte ihn Ordulf. „Wie schön dich zu sehen!“

„Wie geht es dem Priester Tallanus?“, wollte Halvor wissen.

Ceretic schüttelte beiden die Hände. „Gut, gut“, erwiderte er. „Prächtig, dass ich euch beide hier antreffe. Gerade zu euch wollte ich.“

Die beiden Sachsen sahen Ceretic erstaunt an, als dieser fortfuhr: „Vortigerns Rat, also ich und die übrigen Ratgeber, haben überlegt, dass es doch sehr unpraktisch ist, wenn nur ich allein zwischen euch Sachsen und uns Britanniern übersetzen kann. Daher hat mir Vortigern befohlen, einigen Sachsen die britannische Sprache zu lehren. Und Tallanus hatte eine hervorragende Idee: Er möchte zwei Sachsen bei einem Freund unterbringen und unterrichten lassen, einem heiligen Mann in Londinium. Da dachte ich an dich, Ordulf, denn du hast dich schon in Durovernum rasch zurechtgefunden und Tallanus schlug dann noch dich vor, Halvor. Im Frühjahr, wenn wir wieder gegen die Pikten ziehen, kehrt ihr zu Hengist zurück.“

Ordulf schaute zu Halvor hinüber. „Ich für meinen Teil würde gerne ein bisschen mehr von Londinium sehen“, antwortete er. „In Ypwinesfleet wird im Winter ohnehin nicht viel los sein.“

Halvors Gesichtsausdruck hatte während des Gespräches zwischen Erstaunen und Unglauben geschwankt. „Zu einem heiligen Mann, so wie Tallanus?“, fragte er, als könne er das Gehörte nicht richtig einordnen.

„Ja, ja“, antwortete Ceretic eifrig.

„Genau darüber habe ich in den letzten Wochen nachgesonnen“, behauptete Halvor.

Nun war es an Ordulf und Ceretic, ihn erstaunt anzustarren. Der Ebbingemanne erwiderte ihren Blick ebenso ratlos, sodass Ordulf sich ein Lachen verkneifen musste. „Wie meinst du das, du hättest darüber nachgedacht? Wusstest du etwa, dass Ceretic uns diesen Vorschlag machen würde?“, fragte er spöttisch.

Halvor schüttelte den Kopf. „Tallanus hat mir damals am Abus einiges erzählt. Von seinem Gott und … anderen Dingen.“ Verlegen wandte er den Blick von Ordulf ab. „Jedenfalls habe ich mir sehr gewünscht, noch einmal mit ihm über diese Dinge sprechen zu dürfen. Und nun fragt Ceretic, ob ich nicht den gesamten Winter bei solchen heiligen Männern, wie Tallanus einer ist, verbringen will.“ Langsam verwandelte sich der erstaunte Ausdruck auf seinem Gesicht in ein Grinsen. „Dafür will ich nicht nur Britannisch, sondern auch lesen und schreiben lernen, wenn das nötig ist.“

Nun war es an Ceretic zu lachen. „Das wird wohl fürs Erste nicht notwendig sein. Schreiben tut man in Latein und das kann nicht einmal ich!“

„Wir müssen aber Hengist um Erlaubnis fragen. Schließlich ist er unser Herr und Herzog und muss uns ziehen lassen“, wandte Ordulf ein.

„Das ist richtig, doch bin ich guten Mutes, dass er seine Zustimmung gibt“, nickte Ceretic. „Wer sollte sonst für ihn die Wünsche des Hochkönigs übersetzen, falls mir mal etwas zustößt?“

Am Abend, nachdem sie in Ypwinesfleet die Ladung aus dem Bauch der Heldir in den neuen Scheunen verstaut hatten, unterbreitete Ceretic Hengist seinen Vorschlag.

„Nach Londinium sollen die beiden?“, fragte er zurück. „Warum nicht? Das ist allemal besser als Willerichs Plan. Der will mit seinen Männern nach Keydingen zurückkehren. Als würden wir hier nicht mehr gebraucht!“

„Mein Entschluss steht fest, Hengist“, entgegnete Willerich störrisch. „Wenn du uns brauchst, kommen wir im nächsten Frühjahr wieder, doch nun wird es höchste Zeit, zu Hause die Ernte einzubringen. Nicht jeder hat auf seinem Hof so viele Knechte wie du.“

„Und ich danke dir für deine Treue diesen Sommer. Du wirst nicht mit leeren Händen nach Sachsen heimkehren“, bestätigte der Held.

So waren die Dinge beschlossen. Willerich rüstete seine Selah für die Fahrt nach Sachsen. Die meisten Keydinger und einige der Dithmarscher folgten ihm. Hengist machte zwar ein saures Gesicht, doch verließ ihn niemand, ohne reich aus der piktischen Beute und Hengists Silberhort entlohnt zu werden.

„Ihr sollt in Sachsen nicht mit leeren Händen ankommen. Alle Welt soll erfahren, dass Hengist ein glücklicher und großzügiger Heerführer ist!“, rief er, als die Ruder der Selah bereits den Bug des Schiffes gen Sonnenaufgang wendeten.

Ordulf und Halvor packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und ließen sich zusammen mit Ceretic nach Regulbium übersetzen. Vor Ordulfs geistigem Auge erschienen die Erinnerungen an seine ersten Tage in diesem neuen Land und ihren Ritt nach Durovernum. Und tatsächlich besorgte Ceretic ihnen in Regulbium wieder drei Pferde. Auf der flachen Römerstraße staunte Ordulf einmal mehr über dieses seltsame Volk, welches all diese Dinge gebaut hatte und dann von der Erdoberfläche verschwunden war.

Pert Acaiseid, November 441

Álainn

Álainn riss sich vom Anblick der wilden grauen See los und eilte zurück. Sie schlüpfte unter dem niedrigen Türstein durch und vorbei an dem schweren schmierigen Ledervorhang, der Regen und Wind notdürftig außerhalb des Hauses hielt. Der beißende Qualm des Torffeuers trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie unterdrückte ein Husten. Jetzt durfte sie bloß keinen Lärm machen, sonst bemerkte die alte Hexe, dass sie schon auf gewesen war. Aber die Hoffnung war vergebens.

„Wo hast du dich wieder rumgetrieben?“, schnarrte die verhasste Stimme hinter ihr.

Sie wandte sich um und noch stechender als der Torfrauch blies ihr der stinkende Atem der Alten ins Gesicht.

„Wo du dich rumgetrieben hast, habe ich gefragt“, fauchte sie.

„Ich wollte nach den Schafen …“, begann Álainn, doch da spürte sie schon einen brennenden Schmerz auf der Wange.

„Lüg mich nicht an. Du hast dich wieder rumgetrieben, um irgendeinen Mann zu bezirzen!“, zischte Nara erbost. „Das werde ich dir noch austreiben!“

Schon wieder durchzuckte Álainn der brennende Schmerz. Sie spürte, wie etwas Warmes an ihrer Wange herablief und wusste nicht, ob es Tränen oder Blutstropfen waren. Sie drehte sich um und rannte wieder hinaus, verfolgt vom Gezeter ihrer Widersacherin.

Álainn wandte sich zum Schafspferch und drückte sich hinein. Die Tiere blökten erschrocken, beruhigten sich aber gleich wieder, als sie ihre Hirtin erkannten. In der vorübergehenden Sicherheit des Schafstalls kauerte sich Álainn hin und weinte hemmungslos. Fürs Erste war sie weiteren Schlägen entronnen, aber sie konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit bei den Tieren bleiben. Wenn sie Dinge fallen ließ, beim Weben einen Faden verpasste oder ihr beim Spinnen das Garn riss, dann waren die Schläge vielleicht gerechtfertigt, aber in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Früher, vor dem Tode Kilians und des Prinzen Koloman, hatte Nara auch nie eine Weidenrute benutzt, sondern nur mit der Hand zugeschlagen und ohne Grund eigentlich nur, wenn sie besoffen war. Das kam damals vielleicht ein- oder zweimal in der Woche vor. Nun war sie jeden Tag volltrunken und eben war sie gerade erst aufgestanden und Álainn hatte keine ihrer zahlreichen Pflichten versäumt.

Brand und Mord. Die Britannien-Saga

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