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Marie hat Heimweh

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Überall muss Baldur sein Bein heben. Er ist total verwirrt von den vielen Bäumen und den vielen neuen Gerüchen. Am ganzen Körper zitternd wirbelt er umher, beschnüffelt sabbernd Baumstämme, Pfosten und Büsche und hinterlässt überall einige Tropfen. Er ist so aufgeregt, dass Marie ihn fast nicht festhalten kann. Während sie hinter ihm herläuft, wickelt sie sich die Leine um die Hand. Sie traut sich nicht, ihn freizulassen. Es könnte ja sein, dass er abhaut, und Marie kennt hier keinen Menschen. Keinen Menschen außer Tomas, aber der zählt fast nicht. Der sitzt bloß im Haus und ist sauer. Fährt mit der Straßenbahn in die Stadt oder liegt auf seinem Bett und schickt seiner Freundin eine SMS nach der anderen. Als ob sie weiterhin zusammen sein könnten, jetzt, wo Tomas weggezogen ist. Marie begreift auch nicht, wie sich ihr Bruder das leisten kann. So ein Handy ist doch schweineteuer. Das sagt Papa jedes Mal, wenn sie sich auch eins wünscht. Schon komisch, dass Tomas eins haben darf, er verdient doch gar nichts. Marie dagegen bekommt Geld dafür, dass sie mit Baldur spazieren geht.

Sie hat ein paar gute Touren ausgetüftelt. Anfangs sah hier alles ganz gleich aus. Überall zweistöckige Reihenhäuser, immer vier aneinander, und alle waren dunkelbraun. Anfangs war Papa sauer, weil sein Chef ihm ein Mittelreihenhaus besorgt hatte statt eins am Ende, aber das scheint er jetzt vergessen zu haben.

Auf ihren Spaziergängen mit Baldur hat Marie herausgefunden, dass es eigentlich zwei Reihenhaussiedlungen sind, sie liegen nur so dicht beieinander, dass sie wie eine wirken. Es gibt das Obere Feld, wo sie wohnen, und das Untere Feld, zu dem eine andere Straße führt. Man kann nicht mit dem Auto von einer Siedlung zur anderen fahren, sondern muss einen langen Umweg machen, am Laden vorbei und an der Schule, aber zu Fuß oder mit dem Fahrrad hat man die Grenze in wenigen Sekunden hinter sich gebracht, ohne sie auch nur zu bemerken. Und dann hat Marie festgestellt, dass die Häuser doch nicht ganz gleich sind. Es gibt zwei- und dreistöckige Reihenhäuser, Winkelhäuser mit nur einer Etage und ganz hinten am Wald eine Reihe von Häusern, die Terrassenhäuser heißen und aussehen, als wären sie aus Legosteinen gebaut. Alles ist viereckig.

Zu diesen Häusern geht Marie nun, dann eine Treppe hinunter, einen Schotterweg entlang bis zum Wald. Baldur beruhigt sich ein wenig, wenn sie ihn an der längeren Leine laufen lässt.

»Los, komm!«

Marie fängt an zu rennen. Sie folgen einem Weg, der am Waldrand entlang zum Fußballplatz führt. Baldur rennt immer wieder um Marie herum, so dass sich die Leine um ihre Beine wickelt, aber sie wagt nicht, loszulassen. Vielleicht später mal, in ein paar Wochen, aber jetzt noch nicht.

In den sieben Tagen, die sie nun schon hier wohnt, hat sie nicht ein einziges Kind gesehen. Unterwegs ist sie immer nur alten Leuten begegnet, Marie und Tomas sind die einzigen jungen.

Baldur bellt, dass die Tannen nur so zittern. Sie rennen den ganzen Weg über den Hügelkamm, bis sie die kleine Sprungschanze erreicht haben. Dort setzt sich Marie auf die Sprungkante und lässt die Beine baumeln. Das Herz hämmert ihr im Hals, das T-Shirt klebt ihr am Rücken, und in ihren Knien spürt sie dieses schöne Zittern, das nach einem langen Lauf immer ganz von alleine kommt.

»Siehst du unser Haus?«, fragt sie in Baldurs schwarzes Fell hinein. Sein Nacken riecht warm und vertraut. Marie schlingt beide Arme um ihn und schnuppert, saugt Erinnerungen in sich auf. Sie schließt die Augen und sehnt sich nach so vielen Dingen, dass sie sich gar nicht zwischen ihnen entscheiden kann. Vor allem wünscht sie sich, dass Mama bald nach Hause kommt. Aber wenn Mama hier wäre, hätte Marie nicht Baldur. Das glaubt sie jedenfalls. Schließlich haben sie Baldur gekauft, als Mama ins Krankenhaus musste. Vielleicht müssen sie Baldur wieder hergeben, wenn Mama zurückkommt. Das hat allerdings niemand gesagt. Darüber wird nicht gesprochen. Mama wohnt schon seit einem Jahr nicht mehr zu Hause. Jetzt ist sie in ein Krankenhaus in dieser Gegend verlegt worden. Und da hat Maries Vater um Versetzung gebeten. Damit sie in ihrer Nähe sein können. Sie werden sie oft besuchen, hat er gesagt. Aber Marie hat Heimweh nach Nordnorwegen, nach Målselv. Nach ihrem Haus. Nach ihren Freundinnen. Und nach damals, als Mama zu Hause gewohnt hat und da war, wenn Marie aus der Schule kam.

Baldurs Herz klingt wie ein leises Dröhnen. Seine Zunge liegt auf Maries Arm und macht ihn ganz nass. Wenn sie jetzt nicht losrennt, wird sie anfangen zu weinen, und das will sie nicht. Das hat sie seit einem ganzen Jahr nicht mehr gemacht. Sie wird nie wieder weinen.

Hier wohnt Ben und da Marie

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