Читать книгу Tonio Kröger von Thomas Mann: Reclam Lektüreschlüssel XL - Swantje Ehlers - Страница 7

Bürgerliche Figuren

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Gleich in den ersten beiden Kapiteln werden die eingeführten Figuren in einen sozialen Der soziale RaumRaum eingeordnet und die Hauptfigur in einen Gegensatz zu seinen Schulkameraden gebracht: Zunächst stellt der Erzähler Tonio Kröger und Hans Hansen in einen gemeinsamen sozialen Raum einer norddeutschen Hansestadt. Beide kommen aus großbürgerlichen, wohlhabenden und einflussreichen Familien. Der Vater von Hans besitzt ein Sägewerk, Tonios Vater ist Konsul und Inhaber eines Getreidehandels. Etwas später werden auch Erwin Jimmerthal als Sohn eines Bankdirektors, Ingeborg Holm als Arzttochter und Magdalena Vermehren als Tochter eines Rechtsanwaltes sozial gekennzeichnet. Ihre Schichtzugehörigkeit zum gehobenen Bürgertum, der hohe soziale Status ihrer Eltern und ihre Exklusivität, zu den ersten Kreisen der Stadt zu gehören, verbinden die Schulkameraden und zeigen sich auch am Besuch des angesehenen Gymnasiums, an ihrer Kleidung (Marine-Anzug, Gurt-Paletot) sowie ihrer Freizeitgestaltung (Reiten, Lektüre, Musizieren, Tanzstunden).

Tonio Kröger. Tonio wird als ein südländischer brünetter Typ mit weichem Kinn, der aus »umschattete[n] Augen mit zu schweren Lidern« (S. 8) träumerisch in die Welt schaut, beschrieben. Die »umschattete[n] Augen« signalisieren Züge von mangelnder Lebenskraft bei dem Helden. Er ist empfindsam, interessiert sich für Literatur, dichtet selbst und liebt das Meer. In seiner Fähigkeit zur Reflexion und seiner Vorliebe für die Poesie steht er für einen künstlerisch-sensiblen Typ mit eher femininen als maskulinen Eigenschaften und stellt eine Außenseiterfigur dar. Für das bürgerliche Erwerbsleben ist er offensichtlich untauglich.

Er fühlt sich als Jugendlicher von Schulkameraden und den Lehrern ausgegrenzt und leidet darunter. Mehr noch aber leidet er an der unerwiderten Liebe zu Hans und Ingeborg. Seine poetischen Neigungen und sein mangelnder Schulerfolg stehen einer sozialen Zugehörigkeit im Wege. Zugleich ist er durch den großbürgerlichen Lebensstil des Elternhauses geprägt und behält auch später in seinem Leben seinen bürgerlichen Habitus bei, wie sich an seiner Kleidung (grauer, gediegener Anzug), seinen Höflichkeitskonventionen, über die Lisaweta leicht spottet – »[…] kommen Sie ohne Ceremonien herein!« und »Es ist bekannt, daß Sie eine gute Kinderstube genossen haben und wissen, was sich schickt.« (S. 28) –, sowie seinem Reisestil »mit Komfort« (S. 43) und der Wahl des ersten Hotels in der Vaterstadt zeigt. Er entwickelt sich zwar zu einem anerkannten Schriftsteller, bleibt aber in seiner bürgerlichen und künstlerischen Identität gespalten.

Sein NameName deutet bereits auf eine nordisch-bürgerliche und südlich-künstlerische Seite im Helden hin: Der Vorname Tonio ist eine Abkürzung von Antonio, so heißt der Bruder der Mutter, und verweist auf das Südländisch-Künstlerische. Zugleich wird auf die Figur des Tonio in Ruggero Leoncavallos Oper Der Bajazzo1 – ein umherziehender und unglücklich verliebter Komödiant – angespielt. Der Nachname Kröger kommt bereits in dem Roman Die Buddenbrooks vor und ist in Tonio Kröger der Familie des Vaters und seinem nordischen Typus zugeordnet.

Gegensätzlich sind auch die Wesenszüge von Tonios ElternEltern. Während der Vater mit seinen blauen Augen, seiner Korrektheit und der sorgfältigen Kleidung für den nordischen, aufrechten und verantwortungsbewussten Typus des gehobenen Bürgertums steht und Anstoß nimmt an den schlechten Schulleistungen seines Sohnes, wird die Mutter mit ihren schwarzen Haaren als südländisch-exotisch beschrieben. Ihr spanischer Vorname »Consuelo« (S. 10), der wörtlich ›Trost‹ bedeutet, unterstreicht ihre südländische Herkunft. Sie musiziert, spielt Klavier und Mandoline und trägt wie ihr Sohn das Merkmal der Andersheit (S. 10 f.).

Tonio hat eine Distanz zu seiner Mutter, obwohl sie sich in ihrem Wesen ähneln, und hält sie für etwas »liederlich« (S. 11). Dagegen erkennt er seinen Vater, dessen Autorität und Wertmaßstäbe an und hält dessen Maßregelung seines mangelnden Schulerfolgs für völlig in Ordnung.

Konsul Kröger. Die Figur des Konsuls Kröger ist vielschichtig angelegt, wie seine äußere Beschreibung zu erkennen gibt: »[…] ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit sinnenden blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug« (S. 10). Die sorgfältige Kleidung des Konsuls Kröger ist Ausdruck seines bürgerlichen Selbstverständnisses und Lebensstils. Dagegen deuten die sinnenden blauen Augen, die Feldblume im Knopfloch und Eigenschaften wie wehmütig (S. 49, 72) und nachdenklich (S. 49), die ihm im Laufe des Textes zugesprochen werden, auf eine sensible, künstlerische Seite in ihm. Die Feldblumen sind eine Anspielung auf Theodor Storm, in dessen Werk sie Dichtung symbolisieren, und auf ein Altersbild von Storm, auf dem er eine Feldblume trägt.2

Hans Hansen. Hans wird im Unterschied zu Tonio mit sportlich-maskulinen Eigenschaften ausgestattet. Er ist eine attraktive Erscheinung mit schmalen Hüften, stahlblauen Augen und festem Gang. Er reitet, spielt Tennis, segelt, schwimmt und ist blond und blauäugig und entsprechend der Mode der Zeit in einen Matrosenanzug gekleidet. Statt für schöne Literatur interessiert er sich für Sport, Pferdebücher und ist von den einzelnen Phasen eines galoppierenden Pferdes in den Augenblicksphotographien, die erstmalig der amerikanische Photograph Eadweard Muybridge3 im 19. Jahrhundert festhielt, gefesselt. Hans Hansen steht für männliche Stärke und Lebenskraft und eine ungebrochene Bürgerlichkeit. Anders als Tonio ist er sozial integriert und genießt die Achtung seiner Mitschüler und Lehrer.

Ingeborg Holm. Ingeborg erhält als Figur keine eigene Stimme, sondern wird in ihrem Aussehen und Verhalten vorrangig aus der Sicht Tonios beschrieben: blonder Zopf, lachende blaue Augen, das übermütige Werfen des Kopfes, die Hand, die an den Hinterkopf geht und dabei den Ärmel ihres Kleides zurückfallen lässt (S. 17). Das Zusammentreffen zwischen Tonio und Inge erfolgt im Tanz; es findet keine direkte Kommunikation statt. Während Tonio sie liebt, beachtet sie ihn nicht und lacht bei seinem Tanzfehler über ihn. Sie vertritt den nordischen Typus und eine unbekümmerte Lebensfreude.

Magdalena Vermehren. Eine Gegenfigur zu Ingeborg ist Magdalena Vermehren. Sie fühlt sich von Tonio angezogen gerade auch aufgrund der Merkmale, für die andere ihn ausschließen: seine Sensibilität und poetische Tätigkeit. Da sie während des Tanzens hinfällt, wirkt sie ungeschickt und schwach. Sie ist innerhalb der bürgerlichen Welt eine Außenseiterin, markiert durch äußere Merkmale, die innerhalb der Novelle als ›südländisch-sensibel‹ konnotiert sind: braune Haare und dunkle Augen. Wegen ihrer Ähnlichkeit und Wesensverwandtschaft zu ihm und ihrer Ungeschicklichkeit lehnt Tonio sie ab.

Tonio Kröger von Thomas Mann: Reclam Lektüreschlüssel XL

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