Читать книгу Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt - Страница 10

Malve

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Was war das denn? Du hast doch Hände, oder nicht?«, schimpfte der kleine tropfnasse Hase, während er sich und seine langen Ohren unter Tin hervorschob. »Als wäre es nicht schon schlimm genug, als Hase von einer Eule getragen zu werden, fängst du mich noch nicht einmal auf! Dabei hat diese Dämonin von einer Eule ihr Bestes gegeben und mich zielgenau losgelassen.«

Der Regen hatte gerade ein wenig nachgelassen, und der junge Hase richtete sich auf und schüttelte sich, als wollte er einen üblen Geruch loswerden. Dann beugte er sich nach vorn und schnupperte an Tins Fingern.

»Über solche Hände habe ich schon viel gehört. Sehr schlau, sehr gefährlich, sagt man. Also, im Moment finde ich sie nicht sonderlich beeindruckend.«

Tin staunte nicht schlecht. Er setzte sich langsam auf, schaute auf seine Hände, die vom Sturz brannten, und öffnete und schloss sie. Dann fiel sein Blick auf den Hasen, der ihn mit seinen ausdrucksstarken Augen unverwandt musterte. Kurz dachte Tin, er wäre zu heftig auf den Kopf gefallen. Wahrscheinlich war der sprechende Hase eine Halluzination.

Der junge Hase schnupperte wieder an seinen Fingern. »Riecht, als wenn du in Schwierigkeiten steckst. Da komme ich ja genau richtig. Hoffentlich brate ich heute Abend nicht bei irgendjemandem über dem Feuer. Na, dann lass uns mal zusehen, dass wir dich aus der misslichen Lage befreien, die deine Hände so zum Schwitzen bringt. Die Grünzwillinge haben keinen Zweifel daran gelassen, dass du meine Hilfe brauchst.« Sein schwarzer Schwanz zitterte stolz. »Du kannst mich übrigens Malve nennen.«

Tins wilde Locken lagen angeklatscht am Kopf, und seine Kleider klebten so sehr an seiner Haut, dass sich seine Brust und seine Schultern, die durch Jahre voller Hunger knochig und mager geworden waren, deutlich abzeichneten. Er starrte den Hasen fassungslos an.

»Was, und sprechen kannst du auch nicht? Zu einem seltsamen Menschen habt ihr mich da geschickt, alte Grünzwillinge. Wir haben ja schon immer vermutet, dass das Leben innerhalb der Stadtmauern unerfreulich ist, aber das ist noch schlimmer, als ich …«

»Nein, nein, ich kann sprechen. Tut mir leid«, platzte es so unvermittelt aus Tin heraus, dass Malve erschrocken zurückwich. »Ich bin Tin. Kommst du von … jenseits der Mauer? Ich dachte, alle Tiere wären tot! Ich dachte, das wäre ein gefährlicher Ort voller Krankheiten und …«

»Alle tot?!«, rief der junge Hase und zuckte erheitert mit den Ohren. »Alle tot! Oh nein, ganz im Gegenteil, mein Freund. Da draußen ist es viel schöner als hier, so viel steht fest. An diesem schrecklichen Ort gibt es ja weit und breit kein Fitzelchen Grün, und ich bin am Verhungern!«

Das Geräusch von schweren, schnellen Schritten aus den Gängen unterm Innenhof schreckte beide auf.

»Um ehrlich zu sein, stecke ich ziemlich in Schwierigkeiten«, sagte Tin, der noch immer nicht begreifen konnte, was gerade passierte. »Und ich habe keine Ahnung, wie ich da rauskommen soll.« Er fuhr sich durch seine nassen Locken.

»Na, dann mal los!«, sagte Malve, der bereits davonhoppelte. »Mit bravourösen Fluchten kennen wir Hasen uns bestens aus.«

»Das ist keine Flucht!«, rief Tin. »Das ist eine Rettungsaktion!«

»Wie du meinst«, erwiderte der Hase.

Tropfnass sausten Tin und Malve die Stufen hinab, die auf der anderen Seite des Innenhofes unter die Bibliothek führten. Tin blieb kurz stehen, um die kleine Rapsöllampe aus seinem Rucksack zu holen und sie mit einem Stück gestohlenem Feuerstein anzuzünden. Sie warf nur ein schwaches flackerndes Licht an die Wände, was aber ausreichte, um sich in den Tunneln zurechtzufinden.

In den Gängen der Katakomben hinterließen sie nasse Schuh- und Pfotenabdrücke. Tin lief vorneweg und versuchte dabei keuchend, dem Hasen seine Einsiedlerspinne auf Rädern zu erklären. Es war natürlich verrückt, seinen Verfolgern entgegenzulaufen, aber er durfte nicht zulassen, dass sie sein Wunderwerk an sich rissen.

Plötzlich kam Malve in dem dunklen Gang zum Stehen. Weiter hinten befand sich die Tür zu dem Raum, in dem Tins Erfindung versteckt war. Malve richtete seine Ohren nach vorn.

»Sie sind schon da und unterhalten sich«, sagte er.

»Woher weißt du das?« Tin konnte nichts hören.

»Ich habe große Ohren, Dummerchen.«

Tin spürte, wie sich sein Herz vor Verzweiflung zusammenzog. Sie waren ihm zuvorgekommen! Es war zu spät. Er saß in der Falle. Aber noch schlimmer war, dass sie ihm seine Einsiedlerspinne wegnehmen würden.

»Du darfst nicht so einfach aufgeben!«, sagte Malve. Er konnte Tins Gedanken lesen wie ein Buch. »Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen!«

»Aber es ist aussichtslos«, sagte Tin fahrig. »Glaub mir. Von den Klosterbrüdern willst du nicht gefangen werden.«

»Wer spricht denn davon, gefangen zu werden? Wir müssen eben listig sein. Wie Füchse oder Raben«, sagte der Hase ein wenig selbstgefällig. »Wir Hasen lernen so viel wie möglich von unseren Fressfeinden, indem wir sie belauschen. Ich habe eine Idee. Du schreist jetzt so, als wärst du hingefallen und hättest dir ein Bein gebrochen. Locke sie zu uns.«

Tin schnaubte. Das war der dümmste Einfall, von dem er je gehört hatte.

»Und wir verstecken uns hier«, fuhr Malve unbeirrt fort. »In diesem praktischen Riss in der Felswand.«

Tin hob seine Lampe, und das Licht fiel auf eine enge Spalte. »Woher wusstest du, dass dort eine Spalte ist?«

»Luftströmungen. Riecht anders.«

»Hauptsache, die Klosterbrüder drehen sich nicht um, wenn sie an uns vorbeilaufen«, brummte Tin.

»Hoffentlich nicht«, sagte Malve. »Für den Fall der Fälle zeige ich dir, wie du erstarrst, und zwar ganz genau wie ein Hase. Eine effektive und lang erprobte Technik. Werde ruhig und richte deine Augen ins Nichts, atme so flach wie möglich und richte auch deine Gedanken ins Nichts. Sei so unauffällig und uninteressant, dass sie deine Anwesenheit überhaupt nicht wahrnehmen, auch wenn sie sich umdrehen.«

Tin musterte den Hasen. Selbst mit aufgerichteten Ohren reichte er ihm nur bis zu den Knien, trotzdem stand der Hase voller Selbstvertrauen und mit wackelnder Nase neben ihm.

»Und wie geht es weiter?«

Der Hase drehte seine Ohren nach hinten. »Das weiß ich auch nicht.«

Die übermütige Tapferkeit des jungen Hasen erinnerte Tin an sich selbst, und er musste lächeln. Dann schrie er auf, als hätte er große Schmerzen.

»Gut«, flüsterte Malve, nachdem das Echo verhallt war. »Sie haben dich gehört. Sie kommen.«

Er stupste den Jungen in den engen Felsspalt, doch Tins linke Schulter und sein Fuß waren noch immer sichtbar. Der Hase klemmte sich zwischen seine Waden. Als Tin seine Lampe ausblies, wurde es vollkommen dunkel.

»Jetzt leere deinen Kopf. Stell dir einfach ein Wasserbecken vor, das ausläuft, bis nichts mehr drin ist. Wenn ich es dir sage, rührst du dich keinen Millimeter. Und hältst die Luft an.«

Tin versuchte eine gefühlte Ewigkeit, seinen Geist zur Ruhe zu bringen, aber ihm kam immer wieder Sebastian in den Sinn. Sebastian, der Wache hielt, während Tin bei Kerzenlicht leise Geschichten erzählte. Sebastian, der mit ihm durch niedrige Tunnel kroch: stets direkt hinter ihm, ein wenig nervöser als er selbst und etwas kleiner, aber schnell und schlau. Sebastian, der hervorragende Kartenleser, der gut darin war, ein paar zusätzliche Eicheln aus dem Fass im Keller zu stehlen.

»He, schhhhh.«

»Ich habe doch gar nichts gesagt!«, flüsterte Tin verdutzt.

»Nein, aber dein Geist. Die Betriebsamkeit ist so deutlich zu hören wie knackende Zweige. Leere ihn, schnell, sie sind nicht mehr weit!« Dabei zwickte der junge Hase Tin in den Fußknöchel.

Tin hörte polternde Schritte. Er atmete aus, aber an Sebastian dachte er trotzdem. Flucht, grübelte er. Was hatte der Hase damit gemeint? War es wirklich möglich, dem Kloster zu entfliehen? Aber er konnte Seb nicht einfach zurücklassen, er war sein einziger Freund.

Malves dunkle Augen funkelten ihn an.

Jetzt waren die Schritte ganz nahe. Tin rührte sich nicht. Das schwache Licht einer Lampe hüpfte über die Wände.

»Wo ist dieser kleine Rotzlöffel nur hin?«, drang Bruder Warrens Stimme nicht weit von ihrem Versteck entfernt zu ihnen herüber. Er klang angespannt. »Der Schrei kam ganz aus der Nähe.«

»Er ist ein zäher Bursche«, antwortete Vater Ralstein. »Wahrscheinlich ist er gestolpert und dann direkt Richtung Schlafsaal fortgerannt. Vielleicht hat er geglaubt, wir hätten ihn nicht bemerkt, und er wollte wegen des Lauschens keinen Ärger kriegen.«

Plötzlich blieb Bruder Warren stehen, und zwar genau neben dem Felsspalt, in den Tin und Malve sich hineingequetscht hatten. Langsam drehte er den Kopf und die Laterne in seiner Hand.

Tin bekam einen trockenen Mund, aber dann dachte er an Malves leise Stimme und seine vollkommene Ruhe, und sein Kopf füllte sich mit Wolken und mit dem weiten Himmel.

Tin sah, wie der Blick des Bruders direkt auf Malves goldene Hinterläufe fiel, doch er schien sie gar nicht wahrzunehmen.

»Eigenartig«, sagte Bruder Warren und schnupperte, ehe er sich endlich wieder in Bewegung setzte. »Tut mir leid, Vater. Ich habe etwas gespürt, fast als wäre jemand in der Nähe. Ich dachte, ich hätte einen Hauch von verbranntem Rapsöl gerochen.«

»Siehst du Geister, Bruder?« Vater Ralstein lachte. »Wie gesagt: Wahrscheinlich ist der Junge durch diesen Gang zu den Schlafsälen zurückgerannt.« Er klang ein wenig gereizt. »Aber warum behandeln wir ihn eigentlich wie einen Dieb? Wir wollen ihn doch auf unserer Seite haben, und er soll uns das Geheimnis seiner goldenen Maschine verraten – die auf mich allerdings keinen besonders goldenen Eindruck gemacht hat. Warum ziehen wir ihn also morgen früh nicht einfach aus der Alchemie-Werkstatt ab und reden mit ihm von Mann zu Mann? Wir könnten seinem Ego bei einer Tasse Zichorien-Kaffee schmeicheln.«

Bruder Warren schwieg. »Ich denke, der Junge ist gewieft«, erwiderte er. »Ich denke, er wird nicht tun, was wir von ihm verlangen. Wir sollten ihn einfangen und seine Maschine sofort an uns nehmen.«

Die Stimmen der beiden Männer wurden immer schwächer.

»Unsinn, Bruder«, sagte der Vater. »Es gibt nichts, das sich von uns nicht brechen ließe. Nichts, das wir nicht bestechen können. Mit den Egos junger Männer kenne ich mich aus, glaub mir. Wir wollen keine große Sache daraus machen und ihn durch die Schlafsäle jagen, sonst ergreifen die anderen Jungen am Ende noch Partei für ihn. Sie sollen uns doch nicht für Diebe halten, Bruder. Besser ist es, wenn uns der Junge seine Erfindung aus freien Stücken bringt. Wir müssen ihm gut zureden, ihm Honig ums Maul schmieren.«

Als die Stimmen und Schritte, die durch den Tunnel hallten, allmählich erstarben, blieben Tin und Malve trotzdem noch eine Weile ganz still in ihrer Spalte.

Dann zündete Tin seine Lampe wieder an, warf Malve einen Blick zu und grinste. »Das war knapp!«

»Es ist immer knapp«, sagte der Hase, schüttelte seine langen Ohren und putzte erleichtert, aber auch noch ein bisschen nervös seine Brust. »Man gewöhnt sich daran. Und irgendwann lernt man, so still zu sein, dass nicht mal mehr das Herz laut klopft.«

Tin lockerte seine verkrampften Schultern und lief in dieselbe Richtung, in die seine Verfolger verschwunden waren.

»Warte mal!«, rief Malve, der sich auf seine Hinterläufe gesetzt hatte. »Ich hüpfe keinen Schritt mehr weiter, bis du mir erklärst, was um alles in der Welt hier los ist und was es mit dieser Einsiedlerspinne auf sich hat. Vorhin hast du so schnell geredet, da konnte ich gar nichts verstehen. Außer, dass du ein … ein Ding aus alten Teilen gebaut hast, das wie eine Spinne aussieht, obwohl es nicht wirklich eine Spinne ist. Und dass es etwas hat, das man einen Motor nennt – was so ähnlich wie ein Herz ist. Und wenn du dich in das Ding reinsetzt, wird es zu Gold und lebendig. Das klingt wie Zauberei!«

Tin musste über den ernsthaften Gesichtsausdruck des Hasen lächeln und versuchte, ihm alles zu erklären: die Einsiedlerspinne, die Alchemie-Werkstatt, die Brüder und ihr Gold und ihre Sternenbrecher. Währenddessen wurden die Augen des jungen Hasen immer größer, bis er Tin schließlich unterbrach.

»Das ist in der Tat sehr schlimm«, sagte Malve. »Die Grünzwillinge ahnen gar nicht, wie richtig sie damit lagen, mich zu dir zu schicken. Kennst du die wahre Natur von Sternengold? Haben sie euch je die Geschichten über das Wilde Volk erzählt?«

»Die Geschichten über das was?«

»Oje …« Der Hase seufzte. »Lass uns später darüber reden. Im Moment heißt die Devise Flucht! Wir müssen deine Einsiedlerspinne hier rausschaffen. In den falschen Händen ist sie sehr gefährlich.«

»Gefährlich?«

Doch Malve sprang bereits durch den Gang zur Einsiedlerspinne.

»Warte!«, rief Tin. »Zuerst müssen wir Sebastian holen. Er begleitet uns. Egal, wohin wir gehen.«

»In aller Hasen Namen, der Junge hat keinen Schimmer von schneller Flucht!«, grummelte der Hase in seine Schnurrhaare und hoppelte wieder zurück. »Wer ist Sebastian?«

»Er ist mein bester Freund. Wir haben immer gesagt, dass wir gemeinsam aus dem Kloster rauskommen. Ich muss ihn holen, sonst bin ich keinen Pfifferling wert.« Tin schaute finster zu Malve. »Ich will mir erst gar nicht angewöhnen, Leute im Stich zu lassen. Schließlich bin ich selbst im Stich gelassen worden.«

Eines war dem Hasen klar: In diesem entschlossenen Blick lag etwas von der Stärke, von der Bruder Warren gesprochen hatte. Wenn der Junge sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn nicht so leicht davon abbringen. Tins Augen erinnerten Malve an seine Zwillingsschwester Myrte und den blauen Himmel. Er dachte an die Zeit, als sie gerade erst auf die Welt gekommen waren und ihre Mutter sie in einem weichen Grasnest zurückgelassen und der Morgenhimmel sich weit über ihnen erstreckt hatte. Später hatten ihnen die Grünzwillinge erzählt, dass ihre Mutter von einem Kojoten erbeutet worden war. Er erinnerte sich an die Wärme seiner Schwester an diesem Tag, sie war seine einzige Familie in der ganzen großen, grünen und blauen Welt. Myrtes Blick war voller Furcht gewesen, als die Schleiereule sie mit ihren schrecklichen Krallen gepackt hatte und mit ihr in die Abenddämmerung geflogen war, um sie – genau wie Malve – ihrem Schicksal und ihrer Aufgabe entgegenzutragen. Das mutige Herz des jungen Hasen pochte. War das wirklich erst ein paar Stunden her? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Aber die Grünzwillinge hatten es so gewollt. Der Junge und das Mädchen sind eure Schützlinge, hatten sie gesagt. Die Form der Dinge verrät uns, in welcher Gefahr Farallone wieder schwebt. Dieses Mal könnte die gesamte Insel sterben und Mutter Hirsch nicht stark genug sein, um ihre Schöpfung zu retten, so wie sie es zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs getan hat. Es ist sehr wichtig, dass ihr die Kinder findet. Ihr und die Kinder habt etwas mit der Ganzheit zu tun, mit der Überwindung von Mauern und Grenzen und all den anderen Dingen, die uns – Stadtvolk und Hinterlandvolk und Wildes Volk – die letzten zweihundert Jahre in Angst voreinander leben ließen. Deshalb müsst ihr uns vertrauen und eure Aufgabe erfüllen. Wir kennen nicht die Einzelheiten, wir sehen nur die größeren Zusammenhänge: Uns allen droht furchtbare Gefahr. Folgt den Kindern, wohin sie auch gehen, und helft ihnen auf all ihren Wegen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.

Myrte war zu einem Dorf im Hinterland gebracht worden. Wie sollte er sie jemals wiederfinden, ohne Tin dabei zu verlieren? Der junge Hase ließ die Ohren hängen.

»In Ordnung, niemand wird im Stich gelassen, Tin«, sagte Malve ernst. »Jetzt bist du mit einem Plan an der Reihe.« Er fasste wieder Mut und hielt schnuppernd die Nase in die Luft. »Nicht, dass am Ende noch rumerzählt wird, wir Hasen wären Feiglinge, nur weil wir schnell rennen können.«

Tin lächelte und sah gleich viel freundlicher aus. »Ich soll dich in meinen Plan einweihen? Deinen Plan hast du mir auch nicht verraten. Also gut, ich habe mir Folgendes überlegt: Wir wecken Sebastian, schleichen uns alle drei wieder runter zur Einsiedlerspinne, hüpfen hinein und dann … puff, verschwinden wir!« Er lachte.

»Das kann man ja wohl kaum einen Plan nennen!«, sagte Malve. »Für mich hört sich das eher nach keinem Plan an.«

»Seb fällt bestimmt etwas Besseres ein«, sagte Tin. »Er hat alle Karten, die wir gezeichnet haben. Erst neulich haben wir einen Tunnel entdeckt, der viel tiefer nach unten geht als die anderen und der bis zur anderen Seite des Klosters zu führen scheint. Irgendwann haben wir fast keine Luft mehr bekommen, aber das ist bestimmt der richtige Weg nach draußen.«

»Lebendig begraben werden oder sich in Luft auflösen, mehr hast du nicht zu bieten?«, fragte Malve mit einem verächtlichen Schnaufen. »Großartig. Die Grünzwillinge haben mich in eine Todesfalle geschickt! Na, dann lass uns wenigstens keine Zeit mehr verlieren und uns ins Verderben stürzen! Hopp, hopp!« Mit diesen Worten sprang der junge Hase flink den Gang entlang.

»Und lass uns hoffen, dass sie nicht schon hinter der Falltür auf uns warten«, murmelte Tin, als er Malve nachlief.

Malve führte sie geschickt durch Gänge, die Tin selbst noch gar nicht erkundet hatte, und die beiden gelangten ohne Zwischenfälle wieder ins Freie. Tin musste sich eingestehen, dass er ohne den Hasen, der sich auf seinen Geruchssinn verließ, in diesen dunklen, verwinkelten Katakomben vollkommen verloren gewesen wäre.

Zu Tins Überraschung gelangten sie am Fuß des Westglockenturms durch eine sehr kleine Holztür, die hinter einem abgewetzten Wandteppich versteckt lag. Auf dem Teppich waren Früchte abgebildet, die Tin noch nie gegessen hatte – Granatäpfel, Aprikosen, Trauben –, und ein paar ungeschälte Mandeln. Eine schmale Stiege aus Eisen führte spiralförmig zu der Bronzeglocke hinauf, die zwar schon alt war und einen großen Sprung hatte, aber trotzdem jeden Tag morgens, mittags und abends in einem eigenartigen Moll-Ton läutete. Sowohl diesen als auch den anderen Glockenturm kannte Tin nur von außen, und bis auf die schwindelerregend steile Wendeltreppe gab es hier drinnen ja auch nichts zu sehen.

Tin hielt seine kleine Lampe in die Höhe, in der inzwischen fast kein Öl mehr war, und schlich auf Zehenspitzen durch den Raum zu der Tür, die in Richtung der Schlafsäle führte. Im Schloss steckte ein schwerer Schlüssel. Malve hoppelte dicht hinter ihm her.

»Warte«, sagte der Hase plötzlich und wandte seine Ohren zur Tür.

Tins Hand schwebte kurz über dem Schlüssel in der Luft.

»Dreh ihn zur Sicherheit ganz langsam um. Ich kann es kaum erwarten, von hier zu verschwinden. So eine gruselige Höhle. Wer kommt bloß auf die Idee, in so einem fürchterlich dunklen und kalten Steinbau zu wohnen?«

Tin überhörte das Murren des Hasen. Das Schloss knackte leise, und er öffnete vorsichtig die Tür, damit sie nicht knarzte. Jetzt standen sie im großen Versammlungssaal, auf der Seite, wo es zu den Schlafsälen ging.

»Gut«, seufzte er. Hier befand er sich wieder auf vertrautem Terrain – an diesen hohen, dunklen Wänden waren er und Sebastian schon unzählige Male vorbeigehuscht und hatten sich ihre Pläne zugeflüstert.

Hinter dem Rosettenfenster hatte das Unwetter einen Moment nachgelassen. Zwischen den Wolken schob sich die Mondsichel hervor und schickte einen langen weichen Lichtstrahl mitten über den Boden. Malve blieb stehen und betrachtete gebannt die Rosette mit den funkelnden Regentropfen, dem bunten Glas und dem Mondlicht. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Lass uns weitergehen«, flüsterte Tin und hielt die Tür zum Westflügel mit den Schlafsälen auf. Er zog seine abgenutzten Segeltuchschuhe aus und schlich fast so lautlos wie ein Hase die zwei steinernen Treppenabsätze hinauf. Malve folgte ihm. Im Flur herrschte eine Stille, wie sie wohl nur gegen drei Uhr in der Früh vorkam. Selbst die grauen Schatten schienen gedämpfter zu sein als sonst.

Tin machte sich mit seinem Dietrich an einem Schlüsselloch zu schaffen. Es kratzte, knackte, und gab dann nach. Sie waren in seinem Schlafsaal. Leise schloss Tin die Tür. Ihm schlug der vertraute Geruch nach frischen Bettlaken, die gewissenhaft jeden Sonntag gewaschen wurden, nach Schweiß und der muffigen Feuchtigkeit der Wände entgegen. Die Gerüche trösteten ihn auf sonderbare Weise; dieses überfüllte Zimmer kam für ihn einem Zuhause am nächsten.

In dem Schlafsaal standen vier Reihen aus jeweils acht schmalen Metallbetten. In der Mitte war ein Gang frei gelassen worden, der von der Tür zur Toilette führte. Am Fußende jedes Bettes befand sich eine kleine Holzkiste für Kleider, und neben jedem Bett gab es noch eine weitere Kiste, die als Nachttisch diente, auf dem man eine Kerze oder einen Wasserbecher abstellen konnte.

In der vorletzten Reihe stand Tins Bett, die Decke war zerknittert und um sein Kopfkissen geschlungen. Und direkt dahinter lag Sebastian. Seine dichten schwarzen Haare fielen ihm sanft ins Gesicht, als er sich im Schlaf bewegte. Tin packte schnell ein paar Dinge in seinen Rucksack und huschte dann leise zu Sebastian. Malve folgte ihm und bekam ganz große Augen. Der Hase musste sich sehr zusammennehmen, um beim Anblick so vieler Menschenkinder nicht zu zittern.

»Seb«, flüsterte Tin und rüttelte seinen Freund vorsichtig. »Seb, wach auf. Es geht los!«

Malve stellte seine Vorderpfoten auf die Bettkante und schnupperte an Sebs Kopf. Als der Junge sich plötzlich mit einem Ruck aufsetzte, wich der Hase erschrocken zurück.

»Was ist los? Ist was passiert?« Seb rieb sich die Augen.

»Pst, leise!«, wisperte Tin. »Wir verschwinden von hier, und zwar jetzt gleich!« Er war müde, verängstigt und aufgeregt. Und in dem Moment, wo er es aussprach, wurde ihm die ganze Tragweite seiner Worte bewusst. Inzwischen prasselte auch wieder der Regen aufs Dach.

Als Malve aufs Bett hüpfte, staunte Seb nicht schlecht.

»Was ist das denn, Tin?«, flüsterte er heiser. »Und wovon redest du?« Er schaute ungläubig zwischen dem Hasen und seinem Freund hin und her.

»Ich bin ein Schwarzschwanz-Hase«, sagte Malve. »Und kein das. Ich heiße Malve, und wir haben überhaupt keine Zeit für große Erklärungen. Tin hat darauf bestanden, dass wir dich holen. Ansonsten wären wir schon längst auf direktem Weg durch diese hasenverlassenen Straßen eurer finsteren Stadt zur Geheimtür in der Mauer.«

»Zur Geheimtür in der Mauer?«, flüsterten die Jungen gleichzeitig.

Tin hatte bisher nicht viel weiter als bis zu den Klostermauern gedacht, und Sebastian war noch damit beschäftigt, die vielen Wunder zu verarbeiten.

Der Hase blickte sie erstaunt an. »Was? Wollt ihr die Stadt etwa nicht verlassen?«

»Na ja … ist es auf der anderen Seite der Mauer denn nicht gefährlich? Und sind die Leute aus dem Hinterland nicht alle vergiftet und krank? Würden wir nicht … sterben?«, stotterte Seb, dem all die Dinge einfielen, die man ihnen erzählt hatte.

Malve stieß einen kleinen Hasenschnauber aus. »Krank? Gefährlich? Verglichen mit diesem Ort? Ihr ahnungslosen Menschen, was haben sie euch nur erzählt? Das Hinterland ist der schönste Ort auf der Welt. Im Frühling sind die Berge voller köstlicher Blumen – habt ihr jemals Blumen gesehen? Vermutlich nicht … Oh, bei den Sternen, was für arme Geschöpfe ihr doch seid! Seit hundertfünfzig Jahren hat es keine schweren Krankheiten mehr gegeben, und die Flüsse sind so klar wie der Regen!« Malve dachte an den leckeren Rotklee, an seine Schwester und an sein Zuhause.

Die beiden Jungen blickten sich an, ihnen schlug das Herz bis zum Hals.

Tin tat so, als hätte er das alles längst gewusst. »Siehst du! Es ist wahr«, wisperte er seinem Freund zu. »Und jetzt lass uns aufbrechen. Ich kann dir das im Augenblick nicht genauer erklären. Wir müssen zu den Tunneln, schnell.«

So leise wie möglich stand Seb auf, zog seine graue Hose und den Pullover mit den löchrigen Ellbogen an und klemmte sich seine abgerissenen Schuhe unter den Arm. Er verstand zwar kein Wort, vertraute Tin aber voll und ganz. Aus den Schlafsaalfenstern sah man durch den Regen die weißen Stromblitze auf der Stadtmauer.

»Wir kommen nicht wieder«, sagte Tin, dessen Gesicht vom Wetterleuchten erhellt wurde, und versuchte, überzeugend zu klingen. »Also pack ein, was dir wichtig ist, aber beeil dich. Sie wollen mir bei Tagesanbruch meine Einsiedlerspinne wegnehmen.«

»Deine was?« Seb stopfte gerade Socken, seine Zahnbürste und eine kurze Halskette aus glänzenden Kupferpfennigen, die ihm das Küchenmädchen Sophie eingewickelt in ein blaues Tuch geschenkt hatte, in den Rucksack. Doch nun hielt er mitten in der Bewegung inne.

»Psst! Ist jetzt egal. Erzähle ich dir auf dem Weg.«

Malve zwickte Seb in die Wade, damit er sich beeilte.

Sie schafften es ohne große Probleme bis zur Tür, nur ein paar Jungen bewegten sich im Schlaf. Tin und Seb hatten jahrelange Übung darin, sich beinahe lautlos fortzubewegen und zu unterhalten. Sie waren Meister darin, die Zeichensprache des anderen zu verstehen und Worte von den Lippen abzulesen. Aber die ganze Aufregung zehrte an Tin. Er war jetzt schon seit fast vierundzwanzig Stunden wach, und eine Verfolgungsjagd und das Zusammentreffen mit Malve, ganz zu schweigen von dem goldenen Aufleuchten der Einsiedlerspinne, lagen hinter ihm. Als Tin die selbstverriegelnde Tür mit seinem kleinen Dietrich öffnen wollte, flatterten seine Hände. Der Dietrich fiel hinunter und landete klirrend auf dem kalten Steinboden.

Seb zuckte zusammen.

Da! Bettfedern quietschten, jemand rührte sich und setzte sich auf.

Malve blieb ruhig stehen und zitterte leicht.

»Du schon wieder, Tin«, drang eine Stimme zu ihnen herüber.

Im Halbdunkel erkannten die beiden Jungen Thomas, dessen Haare wie Federn abstanden.

»Wenn du nicht den Mund hältst, Thomas, dann werde ich heißes Quecksilber in dein Bett schütten«, zischte Tin nach einem Moment angespannter Stille.

»Ach, ja, wirklich?«, knurrte Thomas laut und weckte dadurch ein paar weitere Jungen auf.

»Raus, raus!«, flüsterte Malve. Er sprang Tin mit einem großen Satz in die Arme.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Thomas. »Diesmal bist du wirklich zu weit gegangen, Tin. Ein Tier

»Ein Tier?«, fragte nun jemand anderes.

Jetzt erwachte der halbe Schlafsaal, noch mehr Decken raschelten, noch mehr Sprungfedern quietschten, und Hälse wurden gereckt.

»Beeilt euch!«, drängte Malve und drückte seine Pfoten gegen Tins Brust.

Seb hob den Dietrich auf und reichte ihn seinem Freund.

Tin ruckelte mit dem Dietrich ein wenig im Schloss herum, und dann ging die Tür endlich auf. Die Jungen rannten auf Strümpfen los, ihre Schuhe, die sie mit den Schnürsenkeln an die Rucksäcke gebunden hatten, schlugen dagegen. Malve war aus Tins Armen gehüpft und sprang vorneweg.

Sie schafften es unbehelligt bis zu der Falltür neben dem roten Teppich im Sitzungssaal, wo Vater Ralstein und Bruder Warren vorhin auf der Lauer gelegen hatten. Jetzt war der Raum leer, und die Jungen rasten im Dunkeln die aus Erde gestampften Stufen hinunter. Über ihnen schlug die Tür zu.

Erst als sie die Kellerküchen erreichten, blieben sie stehen, um durchzuatmen.

»Bestimmt sind die Hausväter inzwischen wach, und Thomas hat ihnen alles erzählt«, sagte Seb keuchend. »Ich hoffe, du hast einen verdammt guten Plan, Tin. Wie stellst du dir das überhaupt vor? Na klar, wir haben uns oft darüber unterhalten, wegzulaufen. Aber wir stecken jetzt schon im Schlamassel, dabei haben wir gerade einmal die Schlafsäle hinter uns gelassen!«

»Endlich ein kluges Kind!«, seufzte Malve. »Ich habe auch schon versucht, ihm das zu erklären. Nur leider ist der Junge dickköpfig und leichtsinnig und glaubt, kein Plan wäre der richtige Weg.«

Seb war kleiner als Tin, doch von breiterer Statur, hatte sehnige dunkle Arme und dicke Augenbrauen, die sich hoben, wenn er so wie jetzt lächelte. »Ja, das ist typisch für unseren Tin. Er ist immer guten Mutes und findet für alles irgendeinen Ausweg – im Zweifel erzählt er einfach eine Geschichte. Also wird uns hoffentlich überhaupt nichts passieren.« Nachdenklich betrachtete er die Wände des Tunnels. »Und du, Tin, verrätst mir jetzt besser, was du vorhast. Fang mit der Einsiedlerspinne an.«

»Wir haben keine Zeit«, sagte Tin und zog Seb am Arm. »Sie sind uns bestimmt schon auf den Fersen und werden die Einsiedlerspinne holen, bevor wir sie retten können! Ich erkläre dir alles, wenn wir drinnen sind.«

»Drinnen? Worin denn?«, rief Seb.

Aber da waren Tin und Malve schon längst wieder losgespurtet.

Das Wilde Volk (Bd. 1)

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