Читать книгу Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt - Страница 6

Die Einsiedlerspinne

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In der hintersten Ecke einer Kammer irgendwo in den staubig dunklen Katakomben schimmerte Tins Erfindung. Es war mitten in der Nacht des ersten Februartags, und das Fünfte Kloster der Gnade und des Fortschritts, das sich geduckt an die Stadtmauer schmiegte, wurde von einem Sturm durchgerüttelt. Aber Tin war weit weg von dem Sturm, tief unter der Erde. Er stand vor seiner Erfindung, die er seine »Einsiedlerspinne« nannte und die er während der letzten drei Monate unter alten Teppichen und einem Stück Segeltuch versteckt hatte. Jede Nacht hatte er sich davongestohlen und daran weitergearbeitet. Inzwischen war seine geheime Erfindung so gut wie fertig. Er musste heute nur noch die letzten Drähte des Schaltkreises zusammenschließen und sein Werk mit ein wenig Lampenöl auf Hochglanz polieren. Aber jetzt, wo er die Teppiche herunternehmen und die herabhängenden Drähte zusammenschließen wollte, wurde ihm etwas bange. Das Licht seiner Lampe tanzte über die spindeldürren Beine, die unter den Teppichen hervorlugten. Irgendetwas an der Einsiedlerspinne war anders als sonst, fast als wäre sie lebendig und würde jeden Moment von allein die Teppiche abschütteln.

Bestimmt liegt das nur an dem Schein meiner Lampe, dachte Tin und zog mit Schwung die Abdeckung weg. Aber das verstärkte den Eindruck sogar noch. Seine Erfindung leuchtete und kam ihm ganz fremd vor, beinahe so, als hätte er sie gar nicht selbst zusammengebaut, sondern sie einfach nur in den Katakomben entdeckt – ein unglaublicher Schatz aus der Zeit Davor.

Ganz vorsichtig griff er nach den losen Drähten und machte sich an die Arbeit. Sei nicht albern, sagte er sich. Du wolltest doch, dass es wie eine Spinne aussieht, oder nicht? Wahrscheinlich hast du das einfach ziemlich gut hinbekommen!

Das Gefährt sah einer Spinne tatsächlich bemerkenswert ähnlich, einer ziemlich großen Spinne allerdings. Seine glänzenden schmalen Beine waren auf spinnentypische Weise angezogen, an ihnen saß ganz vorn jeweils ein kleines bronzenes Rad. Tin hatte die Beine an einem runden Fahrerhaus angebracht, das er sorgfältig aus zerschlissenen Leder- und Wollresten und Abdeckplanen zusammengesteppt hatte und in dem mindestens zwei zwölfjährige Jungen Platz fanden. Es gab ein großes offenes Sichtfenster und eine Tür, die aus altem polierten Buntglas gefertigt war. Außerdem hatte Tin versucht, aus dünnem Kupferblech eine Geige zuzuschneiden, schließlich hatten echte Einsiedlerspinnen an ihren Köpfen eine ebensolche Musterung. Im Innern des Fahrerhauses befanden sich zwei Sitze, ein kleiner Steuerhebel aus Metall und acht Drehknöpfe, mit denen er die Richtung und die Geschwindigkeit jedes der acht Räder regeln konnte. Mit einem anderen Hebel ließen sich alle gleichzeitig zum Stehen bringen. Unter der Außenhaut verliefen in einem großen Wirrwarr überall Drähte, die die Räder mit der innen liegenden Steuerung verbanden. Und unter den Sitzen war ein kleiner Motor verstaut, der an eine alte Batterie angeschlossen war. Sowohl die Drähte als auch der Motor waren allerdings unbrauchbar, weil Tin keine Energiequelle hatte, um seine Erfindung zum Laufen zu bringen. Neben den Motor hatte er die große Spule eines elektrischen Spinnrads montiert, das er auf einer Müllhalde gefunden hatte. Er hatte Garn um die Spule geschlungen und aus Spaß einen Enterhaken darangeknotet. Das Garn ließ sich vom Sitz aus auf- und abwickeln. An sich war die Vorrichtung natürlich völlig unbrauchbar, doch sie erinnerte ein wenig an die Fähigkeit echter Spinnen, Fäden zu spinnen, was Tin ein Lächeln entlockte.

Er schloss den Schaltkreis und steckte die letzten beiden Drähte in die verrostete Batterie. Fast erwartete er eine Art Zauberfunken, aber nichts geschah. Kein Wunder, schließlich war die Einsiedlerspinne im Wesentlichen ein Geschöpf seiner Fantasie und aus irgendwelchen Resten zusammengesetzt, die eigentlich gar nicht zueinanderpassten. Die Drähte waren das i-Tüpfelchen, Tin hatte sich daran orientiert, wie die Adern in einem echten Körper verlaufen. Richtig funktionieren würden die zusammengewürfelten Teile nie, aber er mochte seinen Einfall mit den Drähten. Mit einem Lappen und etwas Öl polierte Tin jede Stelle seiner Einsiedlerspinne, und das so behutsam, als wäre sie lebendig.

Im Laufe ihrer Ausbildung wurde den Waisenjungen des Fünften Klosters der Gnade und des Fortschritts in der Metallwerkstatt der akkurate Umgang mit allen Werkzeugen beigebracht, damit sie Maschinen aus der Zeit Davor auseinandernehmen konnten. Wegen der Energieknappheit lief inzwischen keine Maschine mehr, aber die einzelnen Teile wurden unermüdlich wiederverwertet und in neue, von Menschen angetriebene Vorrichtungen umgebaut oder eingeschmolzen. Das Metall landete dann entweder in den Werkstätten der Alchemisten oder in Form von Nägeln, Reißzwecken, Eimern und Büchsen bei der Stadtbevölkerung. Bisher hatte Tin aus den Resten, die er am Ende eines Arbeitstages in der Metallwerkstatt fand, nur Miniaturapparate gebaut: eine winzige Schachtel, die klingelte, wenn man sie öffnete, und ein kleines Modell der Sonne, mit Flügeln, die flatterten, wenn man an Drähten zog. Und das alles ganz heimlich und zu seinem eigenen Vergnügen. Die Einsiedlerspinne war viel größer, und er hatte so einiges dafür aus den Katakomben stehlen müssen.

»Ich habe nie darüber nachgedacht, was ich mit dir anstellen soll, wenn du erst einmal fertig bist«, sagte Tin zu seinem Werk und polierte nacheinander die Räder. »Wenn ich doch bloß ein wenig Sternengold der Brüder besorgen könnte, würdest du bestimmt laufen!«

Er hielt inne und beobachtete, wie das Licht seiner Lampe über die frisch geölten Teile tanzte. Die Schatten, die die Beine der Einsiedlerspinne warfen, schienen ebenfalls zu tanzen. Bei diesem wunderbaren Anblick wurde es Tin ganz leicht ums Herz.

»Aber es gibt kaum noch Sternengold, weißt du«, fuhr er gesprächig fort. »Deshalb lassen sie uns Tag für Tag in den Alchemie-Werkstätten schuften und hoffen, dass wir neues machen. Doch selbst wenn ich davon etwas in die Finger bekäme, wüsste ich gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Die Brüder geben ihre Geheimnisse niemals preis. Wenn man aus Sternengold Energie gewinnen will, braucht man einen Sternenbrecher. Aber wahrscheinlich wird man getötet, bevor man dort auch nur einen Fuß hineinsetzen kann und begreift, wie sie funktionieren. Keiner weiß, wie sie in den Sternenbrechern das Sternengold spalten. Ich wünschte, ich würde es verstehen. Früher wurde die ganze Stadt mit Sternengold versorgt. Die Energie aus den Sternenbrechern hat alles angetrieben. Man brauchte bloß einen Knopf drücken, und schon wurde das Geschirr gespült oder die Kleidung gewaschen, ein heißes Bad lief ein, oder man schickte jemandem auf der anderen Seite der Stadt eine Nachricht. Die Stadt war perfekt, alles war miteinander verbunden, und niemandem fehlte irgendetwas. So wird es zumindest erzählt …« Tin verstummte.

Hier unten, in den alten Katakomben des Klosters, verhallten seine Worte bedeutungslos zwischen den beklemmenden Steinwänden. Der dunkle Kellerraum war mit stillgelegten Maschinen vollgestopft, die kein Mensch mehr brauchte, weil es keine Energie mehr gab, um sie zu betreiben.

Von plötzlicher Unruhe gepackt, nahm Tin seine Lampe, öffnete die Tür zum Fahrerhaus der Einsiedlerspinne und stieg ein. Das Licht seiner Öllampe schien von innen gegen das Buntglas, und die Blau-, Rot- und Grüntöne fielen sanft auf die sorgfältig zusammengenähten Fetzen, das silberne Lenkrad und die vielen kleinen Hebel. Tin sah sich um und seufzte. Jetzt, wo die Einsiedlerspinne fertig gebaut war, fühlte er sich eigenartig leer. Seine Spinne war das Einzige gewesen, worauf er sich jeden Tag gefreut hatte. Das Einzige, das ihn jeden Morgen die Plackerei und Gefahren in den Alchemie-Werkstätten vergessen ließ und auch die aufreibenden Schichten in der Metallwerkstatt am Nachmittag. Er hatte all seine heimlichen Träume in sie hineingelegt. Träume von Abenteuern, Flucht, dem Leben der Tiere und Sterne. Als Tin an die kleine Einsiedlerspinne dachte, der er vor drei Monaten im Schrank von Bruder Christoff begegnet war, lächelte er. Sie war das erste echte Tier gewesen, das er zu sehen bekommen hatte, und die Inspiration für seine eigene geheime Einsiedlerspinne.

Tiere waren innerhalb der Stadtmauern verboten, abgesehen von Rindern, die in sterilen Hallen aufgezogen und mit sterilem Getreide gefüttert wurden und die den Einwohnern als Eiweißquelle dienten. Außer den Leuten, die sich um sie kümmerten, bekam sie niemand zu Gesicht. Und es wurde erzählt, dass sie nur eine sehr kurze Lebenserwartung hatten, gerade lang genug, um Milch zu geben und zu Fleisch verarbeitet zu werden. Trotzdem war Tin schon immer ganz fasziniert von Tieren gewesen. Ihre Körper waren so anders und doch so schön, zumindest soweit er das aus den wenigen, zensierten Büchern wusste, die er und die anderen Waisenjungen als Teil ihrer dürftigen Ausbildung lesen durften. In den meisten Büchern waren nur gefährliche Tiere abgebildet, Tiere, die nach dem Zusammenbruch ausgerottet worden waren. In der Stadt waren sogar Insekten verboten, schließlich waren Stechmücken und Fliegen teilweise für die Verbreitung der Seuchen in der Zeit Davor mitverantwortlich. Deswegen hatte man auch die riesigen, tödlichen Lampen entlang der Mauer angebracht – zur Abwehr sämtlicher Krankheiten, die von Insekten übertragen wurden. Jede Stechmücke, jede Motte und jede Fliege, die an der Stadt vorbeikam, wurde unweigerlich von den Lichtern angezogen, wo sie umgehend einem Funken zum Opfer fiel und nur noch der Geruch nach verbrannten Insekten übrig blieb.

Es war Tin nach wie vor ein Rätsel, wie die kleine Einsiedlerspinne in Bruder Christoffs Schrank gelangt war. Er hatte sie entdeckt, als er zuletzt in den Wandschrank des Bruders gesperrt worden war – zur Bestrafung, weil er die anderen Jungen wieder einmal bis zum Morgengrauen mit seinen Geschichten wach gehalten hatte. Tin vermutete, dass ihn jemand verpfiffen und Bruder Christoff deshalb genau zur heimlichen Geschichtenerzählzeit sein Ohr an die Tür gepresst hatte: nämlich als es Punkt elf schlug. Vielleicht war es Thomas gewesen? Er spielte gerne mal den Starken und hatte von seinen ständigen Liegestützen dicke Muskeln. Allerdings hatte er erst letzten Monat nach einem Albtraum ins Bett gepinkelt.

Als der Bruder, ein junger Mann mit bereits beginnender Glatze, in den Schlafsaal gestürmt kam, waren die Jungen eilig auseinandergestoben. Nur Martin und sein bester Freund Sebastian waren geblieben, wo sie waren, und funkelten den Bruder an.

»Martin Hyde, hast du eine Vorstellung davon, wie viele Regeln du in diesem Moment brichst?«, hatte der Bruder gezischt und seine blaue Kutte, die er über seinem karierten Schlafanzug trug, enger zugezogen.

»Aufbleiben nach der Nachtruhe und brennende Kerzen nach der Nachtruhe«, fing Tin mit der Aufzählung an. »Eine Geschichte erzählen, und dann noch die anderen Jungen anstacheln, damit sie mit mir aufbleiben. Hetze und Anstiftung oder wie immer das heißt. Das müssten so um die fünf Regelverstöße sein, oder?« Dabei tat er so, als würde er eifrig an den Fingern mitzählen. Seine lockigen Haare glänzten im Kerzenschein, und er grinste frech.

»Wenn man bedenkt, was für Schwierigkeiten du uns machst, bist du dein Essen kaum wert. Ich würde meinen, wir sprechen hier von sechs gebrochenen Regeln, und das bedeutet sechs Stunden im Schrank, ohne Essen und Trinken«, sagte Bruder Christoff. »Dein schlimmster Verstoß ist natürlich die Blasphemie. Wie kannst du nur so eifrig von den Tieren des Hinterlandes erzählen, wo sie erwiesenermaßen alle krank und gefährlich sind?« Fassungslos schüttelte er den Kopf.

Sebastian kicherte, und das war zu viel. Der Bruder packte Tin energisch am Arm, zerrte ihn aus dem Schlafsaal und verpasste ihm im Flur sechs Gürtelhiebe, um ihn anschließend in den engen, feuchten Schrank mit dem Putzeimer zu sperren.

Stöhnend vor Schmerz lehnte Tin sich vorsichtig gegen die Schrankwand, sein Po und seine Oberschenkel brannten so sehr, dass er sich nicht setzen konnte. Dann zündete er den Kerzenstummel an, den er in der Sockenspitze mitgeschmuggelt hatte. Wenn er einen Erzählabend plante, versteckte er immer vorsorglich einen Kerzenstummel in seiner Socke – die Schrankstrafe kannte er schon, und mit ein wenig Licht ließ sie sich besser ertragen.

Als die Kerze brannte, fiel ihr flackerndes Licht auf eine Spinne, die in einem schiefen Netz in der Ecke des Schrankes saß. Sie hatte lange braune Beine und einen dicken Körper. Die Spinne warf einen langen Schatten. Zuerst rührte Tin sich nicht. War das wirklich eine echte Spinne? Er schnappte aufgeregt nach Luft und lehnte sich nach vorn, damit er die Spinne genauer betrachten konnte. Auf ihrem kupferfarbenen Kopf war ein seltsames Muster, es sah aus wie eine Geige. Er hatte schon immer gemocht, wie sich die Geigen sonntags während der kurzen Lobgesänge, bevor Vater Ralstein über Gnade und Fortschritt predigte, schwungvoll von dem faden Dröhnen der Orgelpfeifen absetzten. Und plötzlich fiel ihm mit einem Anflug von Panik der Name Einsiedlerspinne ein. Sie war in einem seiner Bücher abgebildet gewesen. Es war eine tödliche Spinne. Er drückte sich so weit wie möglich an die Wand.

Die Einsiedlerspinne schien ihn von ihrem Netz aus zu beobachten. Dann schob sie sich auf ihren seidigen Fäden vorsichtig zurück und zog ihre Beine an den Körper. Es hatte nicht den Anschein, als wäre sie besonders daran interessiert, ihn zu beißen. Seltsam, wie lautete noch gleich der Leitspruch, den Tin ein ums andere Mal zu hören bekam? Traue nicht deinen Gefühlen, sie sind irreführend und schräg. Traue nur der Vollkommenheit der Bruderschaft und dem Goldenen Weg.

Jetzt krabbelte die Spinne wieder näher. Sie beobachtete ihn, ganz bestimmt. Konnte er nicht sogar ihre kleinen Augen erkennen? Ungeachtet all dessen, was er gehört hatte, wirkten sie freundlich.

Und wenn ich mir eine Erkältung einfange, dachte Tin entschlossen, ist mir das egal! Das dort ist eine echte Spinne! Und sie schaut mich an!

Nach einer Weile drehte die Einsiedlerspinne sich um und flickte ein paar zerrissene Fäden ihres Netzes. Tin hielt den Kerzenstummel noch etwas näher heran, aber ganz vorsichtig, damit er keine Fäden versengte, und verfolgte staunend, wie sie die Seidenfäden aus ihrem Körper verwebte. Wo genau kamen sie her? Woraus waren sie gemacht?

Nichts, was er bisher gesehen hatte oder was ihm beigebracht worden war, erklärte auch nur annähernd die Schönheit der Faser, die sie webte, die Anmut, mit der sie ihre acht flinken Beine bewegte, den perfekten, schimmernden Körper oder das Geigenmuster, ihre ganze Andersartigkeit. Wie war sie in den Schrank geraten? War sie im Hinterland zu Hause? Wie war es dort draußen? Ihm schwirrte der Kopf. Sie war ein winziges Geheimnis und verbarg in ihrer Vollkommenheit ein viel größeres. Ob er ein Modell von ihr bauen könnte, eines, das geräumig genug war, um hineinzuklettern, eine Art Fahrzeug? Vielleicht würde er dann besser begreifen, was sie ausmachte und welches Geheimnis in ihr – und allen anderen Tieren – wohnte.

Die restliche Zeit im Schrank hatte Tin sich die verrücktesten Baupläne ausgedacht. In Gedanken hatte er sein Fahrzeug bis ins kleinste Detail skizziert: jedes Schimmern, jede Kurve und jede Linie, die Facettenaugen und die Krümmung der acht Beine. Vor der tödlichen Einsiedlerspinne fürchtete er sich nicht mehr. Sie war seine Freundin geworden.

Nun, wo er drei Monate später im Fahrerhaus seiner Erfindung saß, wurde ihm klar, dass er nicht mehr verstand als damals – weder wusste er, wie Spinnenseide entstand, noch, was es mit all den anderen Geheimnissen der Tiere auf sich hatte. Ganz zu schweigen davon, was mit dem verunglimpften Hinterland außerhalb der Stadtmauern los war. Die ernüchternde Realität seines Lebens holte ihn wieder ein: Er war ein Waisenkind und gehörte seit seiner Geburt den Brüdern des Fünften Klosters der Gnade und des Fortschritts. Ganz egal, was er tat, was er erfand oder entdeckte, er würde wahrscheinlich nie frei sein. Selbst dann nicht, wenn ihm gelänge, wonach alle täglich strebten, und er herausbekäme, wie man Altmetall in Sternengold verwandelte. Würde er jemals sein eigener Herr sein und nicht ihr Eigentum?

Täglich mussten die Waisenjungen und -mädchen der fünf Stadtklöster sich anhören, dass sie weniger wert waren als der letzte Rest Sternengold, der die Stadt mit Strom versorgte. Dass ihre Körper nutzlos und entbehrlich waren. Wohl auch deswegen zwangen die Brüder Kinder, mit giftigen Stoffen zu arbeiten, um neues Gold zu erschaffen. Einige starben bei dem Versuch, doch das nahmen sie in Kauf. Erst letzte Woche war eine Phiole voll flüssigem Quecksilber explodiert und hatte zwei Jungen, die in der Schicht vor Tin gearbeitet hatten, getötet. Vater Ralstein hatte eine kurze Ansprache gehalten und lobend erwähnt, die Jungen hätten sich dem höheren Ziel der Stadt, nämlich dem Fortschritt und der Perfektion, geopfert. Es gab keine Trauerfeier. Solche Dinge passierten häufig, weshalb Tin während der Rede nur ein frostiger Schauer über den Rücken gelaufen war. Viele Jungen waren abgestumpft und mutlos, und nur eine einzige Sache hielt Tin davon ab, genauso zu werden: Er erfand Geschichten oder erschuf mit seinen eigenen Händen kleine Apparate. Sonst wäre das Gefühl, gegen die Brüder, ja, sogar gegen die Steinmauern kämpfen zu wollen, übermächtig geworden und das Leben im Kloster vollkommen unerträglich.

Eine plötzliche Bewegung ließ Tin aus seinen Gedanken hochschrecken. Das Licht der Öllampe schien durch den dunklen Raum zu tanzen. Und drehten sich da nicht auch gut geölte Räder? Beinahe hätte er überrascht aufgeschrien. Die Einsiedlerspinne bewegte sich! Sie rollte vorwärts und beugte dabei leicht die Beine.

Instinktiv umklammerte Tin das Lenkrad, damit die Spinne nicht gegen die Wand lief. Unter seiner Berührung leuchtete das Metallrad golden auf. Und jedes andere Metallteil in der Fahrerkabine auch, und zwar in der Farbe von Sternengold! Jetzt schrie Tin wirklich. Dann sprang er mit einem Satz durch die Tür des Fahrerhauses und fiel auf den Steinboden, wobei beinahe seine Lampe zerbrach. Die Einsiedlerspinne kam sofort zum Stehen, und das Leuchten erlosch.

Tin setzte sich benommen auf und keuchte. Er begann zu zittern. Was war da eben passiert? War das Zauberei? War das echtes Sternengold, oder sah es nur so aus? Er stand auf und legte vorsichtig einen Zeigefinger auf seine Erfindung. Nichts geschah. Tin holte tief Luft, kletterte wieder in die Fahrerkabine zurück und setzte sich. Diesmal war er nicht mehr ängstlich, sondern vollkommen konzentriert und behielt alles – jeden Draht und jedes noch so kleine Stück Metall – im Auge, falls sich die unglaubliche Verwandlung noch einmal vollzog. Ihn überkam ein eigenartiges Gefühl. Es war, als würde sich in ihm bis in die Mitte seines Körpers ein warmes Licht ausbreiten. Ein goldener Stern. Und dann bewegte sich die Einsiedlerspinne wieder, genau wie eben. Der Motor unter den Sitzen schnurrte leise. Die Räder an den flexiblen Beinen drehten sich. Tin packte das Lenkrad und beobachtete, wie es zusammen mit dem Rest der Einsiedlerspinne erneut den goldenen Farbton annahm.

Die nächste Stunde sauste und flitzte Tin in der dunklen Steinkammer umher und probierte aus, wie schnell die Einsiedlerspinne werden konnte oder welche Richtungswechsel möglich waren. Er lernte, die acht Beine gleichzeitig zu steuern, und war erstaunt, wie geschmeidig und naturgetreu seine Schöpfung war und wie gut sie funktionierte. In diesem Moment spielte das Wie und Warum dieser wunderbaren Lebenskraft keine Rolle. Tin wusste lediglich, dass er noch nie so glücklich gewesen war. Über alles andere würde er später nachdenken, morgen in den Alchemie-Werkstätten, während er das Quecksilber zerkleinerte, das sie nun schon über ein halbes Jahr für die neuen Experimente der Brüder benutzten.

Ein Geräusch von draußen ließ ihn unvermittelt innehalten. Die Einsiedlerspinne blieb lautlos stehen, ihr schwach schimmerndes Licht fiel auf die Wände. Tin spitzte die Ohren. Hatte das nicht wie ein unterdrücktes Husten geklungen? Und war jetzt hinter der Steintür nicht das Scharren von Stiefeln zu hören? Tin atmete nur flach. Aber inzwischen war es in den Katakomben wieder ganz still, so still, dass es in seinen Ohren rauschte. Vielleicht hatte er sich das Geräusch ja nur eingebildet. Oder es war von der Einsiedlerspinne gekommen und hing mit den Bremsen oder einem Rad zusammen. Eine Weile saß er noch regungslos da und lauschte angestrengt. Doch außer seinem eigenen Atem hörte er nichts. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, dass die Einsiedlerspinne von den Brüdern entdeckt wurde. Was auch immer die Einsiedlerspinne zum Laufen brachte, hatte etwas mit Sternengold zu tun; dem Sternengold, das die Brüder um jeden Preis haben wollten. Tin verstand nicht, warum sich seine Erfindung plötzlich bewegte, aber wenn die Brüder sie in ihre Finger bekämen, wäre ihre Schönheit und Rätselhaftigkeit bestimmt für alle Zeit verloren.

Doch das Geräusch hatte sicher nichts zu bedeuten, hier unten war niemand. Er achtete schließlich stets darauf, sich unbemerkt in die Katakomben zu schleichen. Trotzdem stieg er nun lieber aus der Einsiedlerspinne, schob sie zurück in die Ecke und zog die Teppiche und ein wenig von der Plane darüber. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis das goldene Leuchten verblasste. Kurz meinte Tin, dass auch seine Hände leuchteten. Aber wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, denn es war schon sehr spät, und er zitterte vor Müdigkeit und Aufregung. Er musste das alles unbedingt Sebastian erzählen! Bis jetzt hatte er die Einsiedlerspinne auch vor ihm geheim gehalten, doch er brauchte jemanden, mit dem er dieses Wunder teilen konnte, und Sebastian war sein bester Freund.

»Bis morgen Abend dann«, flüsterte er der Einsiedlerspinne zu und erwartete fast, dass sie antwortete. Aber sie saß einfach nur schweigend unter ihren Teppichen.

Der Weg zurück schlängelte sich durch die Kellerküchen, verlief unter der Bibliothek, den Alchemie-Werkstätten und der Metallwerkstatt entlang und ging dann im Zickzack durch verlassene und staubige Gänge. Leise kroch Tin hinter alten Weinfässern vorbei, die die Brüder mit niemandem teilten. Und er huschte an Bohnensäcken und Wannen voller geschmackloser Haferflocken vorüber, die sie täglich zu essen bekamen. Der Hafer stammte aus dem Landwirtschaftsbetrieb von Albion, wo auch sämtliche Düngemittel und Pestizide produziert wurden, damit Jahr für Jahr ausreichend Nahrungsmittel für die Bürger der Stadt angebaut werden konnten, und Raps, aus dessen Samen das Laternenöl stammte.

Tin näherte sich der Falltür, die er normalerweise als Ein- und Ausstiegsluke benutzte, und zog einen raffinierten Dietrich aus seiner Tasche, den er und Seb angefertigt hatten. Diese Falltür lag dem Flügel mit den Schlafsälen am nächsten. Sie befand sich neben einem abgetretenen roten Teppich in einem der Nebenräume, die sich an den Versammlungssaal anschlossen, wo Vater Ralstein wöchentlich seine Predigt hielt. Mitten im Raum stand ein großer Tisch, der von einigen riesigen Leuchtern gesäumt wurde, aber soweit Tin wusste, hielt sich hier nur selten jemand auf.

Er stieg die Kellertreppe hinauf, und als er die letzte Stufe erreicht hatte und die Hand schon nach der Falltür ausstreckte, hörte er die Stimmen zweier Männer. Stuhlbeine quietschten, irgendwer hatte sein Gewicht verlagert. Aber es war doch bereits weit nach Mitternacht. Warum waren die Brüder noch wach? Tin war schon Dutzende Male zu so später Uhrzeit durch genau dieses Zimmer gegangen, und es war bisher immer leer gewesen. Dann hörte er, wie sein Name fiel, und ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. Reglos kauerte er sich unter der Luke zusammen.

»Martin Hyde heißt er also? Nun, möglicherweise hat es sich ja tatsächlich gelohnt, mich zu dieser Geisterstunde aus dem Bett zu holen.« Der Sprecher brach in ein tiefes Gelächter aus.

Ein anderer, der Stimme nach jüngerer Mann antwortete in einem weinerlichen Tonfall.

Die Stimmen verrieten Tin noch nicht, wer die beiden Männer waren, aber der jüngere klang sehr angespannt, und Tin musste unwillkürlich an Bruder Warren denken, diesen schmächtigen stillen Zeitgenossen, der in der Bibliothek ständig Texte abschrieb. Tins Herz schlug so laut, dass er sich einen Moment lang nicht auf die Worte der beiden konzentrieren konnte. Sollte er lieber umdrehen und eine andere Falltür wählen, die irgendwo in der Nähe des Klosters rauskam? Aber dann wäre er ausgesperrt und könnte erst zur Vormittagsgymnastik wieder zurück ins Gebäude gelangen. Oder sollte er einfach auf der Treppe abwarten, bis sie gegangen waren? Warum sprachen sie überhaupt über ihn?

Tin achtete auf die Stimme des Älteren, und ihm wurde klar, warum er ihn nicht gleich erkannt hatte: Es war Vater Ralstein höchstpersönlich! Mit dem Abt des Klosters hatten die Jungen nie etwas zu tun, außer wenn sie seinen wöchentlichen Predigten über Gnade und Fortschritt lauschten, die er mit dröhnender Stimme vortrug. Jetzt aber unterhielt er sich in ganz normaler Lautstärke, und Tin wusste nur wegen des tiefen Lachens, um wen es sich handelte. Es war ein furchtbares Lachen. Tin lauschte angestrengt.

»Und du behauptest also, dass dieses Ding, das er gemacht hat – dieser Apparat –, wie eine Spinne geformt ist? Und dass er eine Möglichkeit gefunden hat, sie in Gold zu verwandeln?«, fragte Vater Ralstein.

Bei seinen Worten lief Tin der Schweiß über die Stirn, und er bekam einen ganz trockenen Mund. Woher wussten sie von seiner Einsiedlerspinne? Hatte er sich das Geräusch vorhin also doch nicht eingebildet? Wie lange hatten sie ihn beobachtet? Und warum war ihm das nicht aufgefallen? Seine Einsiedlerspinne! Sie war sein Geheimnis, und das Einzige auf dieser Welt, das wirklich ihm gehörte. Wenn er sich vorstellte, dass die Brüder sie in ihre Finger bekämen und dieses wundersame Gold an sich rissen, hätte er fast vor Wut platzen können.

»Ja, Vater, ja!«, sagte Bruder Warren mit erhobener Stimme. »Das hört sich unglaublich an, ich weiß, aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Wenn der Junge darinsitzt, verwandelt sich das Ding in pures Gold, und es bewegt sich vorwärts, genau wie eine Spinne auf acht Beinen. Es ist unglaublich!«

»Deine Aufregung ist verständlich, Bruder«, sagte Vater Ralstein. »Doch woher weißt du, dass es wirklich Sternengold ist, das wir selbst seit Hunderten von Jahren vergeblich herzustellen versuchen? Erinnere dich an die unzähligen Male, als ein Junge in den Alchemie-Werkstätten irgendetwas Sternenähnliches erschaffen hat. Der goldene Schimmer hielt nie länger als eine Woche an und schmolz im Sternenbrecher zu einem Nichts zusammen. Lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

»Ja, Vater. Aber die Maschine läuft, verstehst du? Von irgendetwas muss sie ja angetrieben werden, und das ist bestimmt kein gewöhnlicher Treibstoff. Der Junge hat eine sehr wichtige Entdeckung gemacht, er hat das Geheimnis gelüftet, welche Kräfte dem Sternengold innewohnen. Wir wussten schon immer, dass er außerordentlich schlau ist. Deswegen habe ich ihn auch ständig im Auge behalten«, sagte Bruder Warren nicht ohne Stolz.

Tin wurde ganz bange. Er hatte seine Einsiedlerspinne nicht als Werkzeug für die Brüder gebaut, sie war einfach nur seiner Fantasie entsprungen. Und jetzt wollten sie ihm die Einsiedlerspinne wegnehmen und sie so lange untersuchen, bis alle Wunder verschwunden waren, so wie sie es mit sämtlichen Dingen machten. Sein ganzes Leben lang hatte er zu hören bekommen, dass seine Bemühungen, Gold herzustellen, der Gemeinschaft dienten, dem Wohl der Stadt, damit sie wieder so prachtvoll wurde wie früher. Aber so froh und glücklich wie heute Nacht hatte er sich in all den Jahren nicht gefühlt. Er würde ihnen den Zauber der Einsiedlerspinne nicht einfach verraten!

»Weißt du, Bruder Warren, wie bedenklich niedrig unsere Sternengold-Reserven inzwischen sind?«, fragte Vater Ralstein düster. »Bei den jetzigen Verbrauchsmengen werden sie nicht mal mehr ein Jahr reichen. Womöglich nicht einmal mehr über den Frühling, es sei denn, wir schränken den Verbrauch in der Stadt drastisch ein. Und ich spreche vom letzten Sternengold der ganzen Stadt. Inklusive dem, was wir von den Fassaden und aus den Schmuckschatullen der Frauen zusammenkratzen konnten.«

»Ja, Vater, ja! Daher …«

Doch Vater Ralstein ignorierte die Schmeicheleien des Bruders. »Ich erinnere mich an die Geschichten, die mir mein Urgroßvater erzählt hat, als ich ein kleiner Junge war, über die Kindheit seines eigenen Urgroßvaters in der Zeit vor dem Zusammenbruch. Damals strahlte die Stadt wie ein großer goldener Stern, sogar heller als die Sonne und noch vollkommener. Nun sieh dir an, wie heruntergekommen die Stadt inzwischen ist. In was für entwürdigenden Zuständen wir leben. Die ungepflegten Bedürftigen, die unsere Generatoren betreiben und Tag und Nacht die Wasserräder drehen, nur damit unsere Laternen brennen. Das ist erbärmlich!«

»In der Tat, das ist eine Schande!«, bekräftigte Bruder Warren. »Aber vielleicht ist das jetzt bald Vergangenheit, Vater?«

»Oh, mein lieber Bruder Warren, wie wenig du doch weißt!« Vater Ralstein hörte sich allerdings keineswegs niedergeschlagen an, seine Stimme strotzte nur so vor Zufriedenheit. »Ich werde dir etwas verraten, Bruder. Es gibt eine geheime Verfügung, die seit der Zeit des Zusammenbruchs von Klostervater zu Klostervater weitergegeben wurde – nämlich an uns, die wir die Reste des Sternenpriester-Wissens in uns tragen. Aufgeschrieben wurde sie von Solomon Pierce, einem der letzten Männer, der Sternenbilder deuten konnte. Er ist an einer Seuche gestorben, aber vorher hat er noch zwei Botschaften hinterlassen.

Die erste besagt, dass der Fluss Lutea an seinem zweihundertsten Todestag wieder sauberes Wasser mit sich führen wird und dass wir an diesem Tag einige Brüder ausschicken sollen, um es auf Verunreinigungen und Keime hin zu untersuchen.

Die zweite Botschaft hörte sich eher wie das wirre Gerede eines Fieberkranken auf seinem Sterbebett an. Trotzdem wurde sie niedergeschrieben, auch wenn bisher niemand wusste, was sie bedeutet. Doch heute Abend ist mir ein Licht aufgegangen.« Vater Ralstein hielt inne und lächelte selbstgefällig. »Wenn die Spinne Gold webt, das Land dereinst erlebt, wie das Alte sich erhebt. Solomon Pierce war sicher ein wenig verrückt. Aber er prophezeite den Zusammenbruch, verstehst du? Und wie es scheint, sah er auch unsere Wiedergeburt voraus. Doch den Teil mit der Spinne hat, wie gesagt, niemand je verstanden. Und mit der Zeit vermuteten wir, der Schreiber habe sich am Sterbebett womöglich verhört. Manche glaubten, es müsse etwas mit dem legendären Spinnentier zu tun haben, das von den ersten Sternenpriestern, die hier vor fünfhundert Jahren ankamen, erschlagen wurde: dieses Monster, das so groß wie ein Pferd war und das sie tief unten im Herzen der Stadt entdeckt haben, wo wir heute nach Grundwasser bohren. Wirklich Sinn ergab das alles trotzdem nicht. Erst jetzt, Bruder Warren, hat es den Anschein, als fügten sich seine beiden Botschaften zusammen.

In vierzehn Tagen ist der zweihundertste Todestag von Solomon Pierce. Ein kleiner Trupp der städtischen Privatgarde wurde eingeweiht und bereitet sich auf eine Geheimmission vor«, fuhr Vater Ralstein fort. »Der Fluss Lutea soll auf seine Wasserqualität und das Hinterland auf seine Bewohnbarkeit überprüft werden. Das alles ist natürlich strengstens geheim. Wo kämen wir denn hin, wenn gewöhnliche Stadtbewohner davon erführen und sich auf einmal irgendwelche Flausen über Freiheit in ihren Köpfen breitmachten? Oder schlimmer noch, wenn sie die Stadt verlassen wollten …

Heute Abend nun hast du mir die Spinne gebracht. Du hast das Rätsel gelöst! Die Spinne, sie ist das Zeichen für unsere Wiedergeburt. Die Stadt wird auferstehen! Wir sind die alten Herrscher, die sich endlich erheben, um das Hinterland von seiner Barbarei zu befreien. Wir werden es erneut in das ertragreiche Paradies verwandeln, für das es sich so hervorragend eignet. Ohne unsere Eingriffe ist dieser Landstrich dort draußen zu einer bedeutungslosen, unzivilisierten und vergifteten Einöde verkommen. Er muss wieder perfektioniert werden!« Vater Ralsteins Stimme schwoll an, aber er zügelte sich sofort. »Bring mir den Jungen. Bring mir die Spinne«, verlangte er.

Tin wollte so schnell und so weit wie möglich fortrennen. Aber er bekam kaum Luft, und sein Herz hämmerte dermaßen heftig, dass er zu hastig aufstand und benommen mit dem Kopf gegen die Falltür stieß.

»Aha«, grollte Vater Ralstein. »Mir scheint, wir hatten einen Lauscher.«

»Zweifellos dieser Martin«, antwortete Bruder Warren aalglatt. »Hier kommt er normalerweise heraus.«

Die beiden Männer sprangen gleichzeitig zur Falltür und rissen sie auf.

Aber es war niemand da.

Tin war es trotz seines Schwindelgefühls gelungen, rechtzeitig wegzulaufen.

Bruder Warren fluchte. »Widerspenstiger Bengel«, fauchte er. »Er überlässt uns seine Erfindung bestimmt nicht ohne Weiteres.«

»Alle Schätze sind käuflich«, sagte Vater Ralstein und sprang die Stufen in einem Satz hinab. »Und alle Jungen können gebrochen werden.«

Tin war durch einen anderen Ausgang nach draußen in den Klosterhof gelangt, wo die Jungen täglich ihre Leibesübungen machten. Er war so schnell gerannt wie noch nie in seinem Leben. Jetzt schnappte er nach der regennassen Luft, Adrenalin rauschte durch seine Adern, und seine Gedanken rasten. Warum wurde ihm angst und bange, wenn er nur daran dachte, dass diese Männer seine Einsiedlerspinne dazu benutzen würden, um der Stadt zu ihrer alten Pracht zu verhelfen? Wenn das Gold und die Vollkommenheit wieder Einzug hielten, diente das doch schließlich dem Gemeinwohl, so zumindest war es ihm beigebracht worden. Wieso verspürte er dann diesen unbändigen Drang, auf der Stelle wieder nach unten in die Kellerräume zu laufen und seine Erfindung mit dem Hammer zu zerstören? Sollte er nicht viel eher hier draußen im Regen stehen bleiben und abwarten, bis sie ihn fanden? Dann könnte er sie zu seinem Werk führen und sich selbst jenem Schicksal hingeben, das sie für ihn vorgesehen hatten.

Es regnete stark, und ein Donnerschlag zerriss die Stille, dicht gefolgt von einem Blitz in unmittelbarer Nähe. Als der Himmel sich aufhellte, sah Tin etwas äußerst Merkwürdiges: einen hellen Vogel, der sehr tief über ihn hinwegflog. In seinen Krallen hielt dieser Vogel ein langbeiniges Geschöpf mit großen Ohren. War das etwa eine Eule? Und trug sie einen Hasen? Oder ein Kaninchen? Dunkel erinnerte Tin sich an die Tiernamen, die er aus Büchern kannte. Diese Nacht steckte wahrhaftig voller Wunder! Was um alles in der Welt geschah hier gerade?

Plötzlich ließ die Eule ihren Gefangenen fallen, und zwar genau über Tin. Der war so überrascht, dass er einen Satz zur Seite machte. Das Tier prallte gegen seine Schulter, und beide schrien erschrocken auf und stürzten zu Boden.

Das Wilde Volk (Bd. 1)

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