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Myrte

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Kurz nachdem Comfrey vom Opferaltar nach Hau- se gekommen war, setzte der Regen ein und ließ die ganze Nacht über nicht nach. Es peitschte und stürmte, und der Donner grollte. Sämtliche Kerzen auf den Altären entlang des Grenzlandes erloschen zischend. Comfrey erzählte ihrer Mutter nichts von den Korb-Hexen. Sie tat so, als sei alles in Ordnung, und flüchtete in ihr Zimmer. Dann zog sie das Stück Filz vor ihrem Fenster zurück, das die Feuchtigkeit abhielt, und starrte nach draußen in den Sturm. Es regnete hinein, und die Tropfen spritzten ihr ins Gesicht.

In Gedanken war sie wieder auf der Lichtung bei der Frau mit den dunklen Augen und dem senfgelben Kleid, die sie angesprochen hatte. Warum hatte sie so seltsam gelächelt, warm und grimmig zugleich? Und der Korb, den die Frau geflochten hatte – noch nie hatte Comfrey etwas derartig Zartes, fein Verarbeitetes, etwas so Wundervolles gesehen.

»Der Korb meines Schicksals. Meine Bestimmung suchen«, flüsterte sie und streckte ihre Hände aus dem Fenster, um den Regen zu spüren. Was bedeutete das? Hatte das irgendetwas mit dem Luchs-Mädchen zu tun, das ihren Namen gekannt hatte? War das Schicksal wirklich etwas, was man gestalten konnte wie einen Korb?

Plötzlich flatterte eine weiße Gestalt direkt auf ihre Fensterbank zu. Erschrocken zog Comfrey die Hände zurück. Ihr blieb nicht einmal mehr Zeit, aufzuschreien, denn im nächsten Moment flog die nasse Schleiereule bereits so nah an ihr vorbei, dass sie Comfrey mit den Flügeln an den Haaren streifte. Der Vogel setzte einen quietschenden und zappelnden Hasen aufs Fensterbrett, schüttelte empört seine Flügel und flog auch schon wieder davon.

»So wahr mir die Hasengötter helfen, hoffentlich hat sich das gelohnt!« Vor Schreck schüttelte sich nun auch der junge Hase, wobei die Regentropfen aus seinem Fell spritzten.

Feine Tropfen, die nach feuchter Wolle und Gras dufteten, bedeckten Comfreys Gesicht. Sie wischte sich über die Augen und starrte den Hasen an, der sich anmutig das weiße Stück Fell um seine Nase herum putzte. Dann hüpfte er auf den Fußboden.

Comfrey konnte ihre Aufregung nicht länger verbergen. War das etwa schon die dritte Begegnung? »Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber … gehörst du zum Wilden Volk?«

Der Hase legte die Ohren zurück und hob den Kopf. »Ach herrje, ich? Wie kommst du denn darauf? Ist mir bei diesem schrecklichen Eulenflug etwa ein seltsamer Menschenarm gewachsen?«, fragte er und schaute erschrocken an sich hinab.

»Nein, nein, es ist bloß, weil … du sprechen kannst, obwohl du ein Hase bist. Was Hasen ja normalerweise nicht tun. Nur die vom Wilden Volk sehen aus wie Tiere und können wie Menschen sprechen«, sagte Comfrey atemlos, die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus. »Haben die Korb-Hexen dich geschickt?« Auf einmal wurde ihr schwindelig. Sie ließ sich auf ihr zusammengerolltes Bettzeug auf den Boden plumpsen. »Stecke … stecke ich in Schwierigkeiten?«

Der junge Hase sprang zu ihr hinüber. »Korb-Hexen? Schwierigkeiten? Es sieht ganz so aus, als wäre ich gerade rechtzeitig gekommen«, sagte er gut gelaunt und wackelte mit den Schnurrhaaren. »Ich bin übrigens eine Häsin und heiße Myrte. Und um ehrlich zu sein, habe ich nach diesem Eulenflug durchaus Appetit. Hast du vielleicht eine Kleinigkeit für mich zu essen? Mit leerem Magen lässt es sich nur schwer in deiner Menschensprache unterhalten.« Kurz betrachtete das Hasenmädchen die Wolldecke, dann setzte sie sich bequem auf ihre Hinterläufe und schaute Comfrey erwartungsvoll an.

Comfrey sauste auf leisen Hausschuhsohlen in die Küche und konnte vor Aufregung kaum atmen. Aus dem Steinguttopf beim Fenster nahm sie einen kleinen Eichelkuchen und packte ihn in eine Serviette aus Nesselfasern. Dazu legte sie noch eine Möhre aus der Vorratskiste, dann schlich sie mit dem Essen wieder zurück. Allerdings schätzte Comfrey in der Dunkelheit den Abstand zu ihrem Türrahmen falsch ein, stieß sich mit einem Rums den großen Zeh und fluchte unterdrückt.

Ihre Mutter, deren Bett im Zimmer nebenan stand, regte sich.

»Frey?«, rief Maxine schlaftrunken.

Comfreys Herz klopfte. »Ich habe mir nur Wasser geholt, Mama. Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken«, flüsterte sie laut an der Tür ihrer Mutter.

Maxine seufzte beruhigt und drehte sich wieder um.

Comfrey wartete, bis ihre Mutter gleichmäßig atmete. Dann schlüpfte sie zurück in ihr Zimmer, schloss ganz sachte die Tür und legte das Essen vor die Häsin.

Myrte langte sofort zu. Eine Weile war nichts außer ihrem heißhungrigen Knabbern zu hören.

»Schon viel besser«, sagte die Häsin schließlich, als sie bereits den kompletten Eichelkuchen und die halbe Karotte verputzt hatte.

»Myrte?«, fragte Comfrey ungeduldig, nachdem die Häsin den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Was hast du mit gerade rechtzeitig gekommen gemeint?«

Die Häsin sah zu dem Mädchen hoch. Comfrey hatte sich zwei Kissen aus gewebten Nesselfasern hinter ihren Rücken geschoben und saß gegen die Lehmwand gelehnt im Schneidersitz auf ihrer zusammengerollten Schlafmatte. Im Kerzenlicht schimmerten ihre Zöpfe so dunkel wie Gewitterwolken. Sie waren von der Kletterpartie durch die Weidenbäume zwar etwas zerzaust, hatten sich aber nicht vollständig aufgelöst. Das Mädchen war schlank und groß, wahrscheinlich war sie erst vor Kurzem tüchtig gewachsen und hatte sich noch nicht an ihre schlaksigen Arme und knöchernen Knie gewöhnt, die im Moment unter dem robusten alten Leinenstoff ihres Nachthemdes hervorlugten.

Myrte näherte sich schnuppernd Comfreys Hand und zögerte. Im Gegensatz zu dem ordentlichen kleinen Haus, den eingezäunten Gemüsebeeten oder den Bienenstöcken und Ziegen roch das Mädchen ungewöhnlich wild. Unter dem Duft von Pfefferminzseife und wildem Lavendel lag ein gewisser scharfer Moschusgeruch. Die Häsin sah wieder hoch. Comfreys Augen setzten sich hell gegen ihre dunkle Haut ab, im Kerzenlicht wirkten sie grünlich, wissbegierig, aber ohne Arglist. Myrte war Expertin und spürte jede Art von Trickserei oder Unehrlichkeit. Diese Dinge lernte jeder Hase schon kurz nach der Geburt.

»Hör mal«, sagte sie und setzte sich neben Comfrey wieder auf ihre Hinterläufe. »Ehrlich gesagt ist mir das Ganze auch ein Rätsel. Ich bin nicht wie ein normaler Schwarzschwanz-Hase im Unterholz und auf Wiesen aufgewachsen, wo man lernt, herumzuspringen und sich selbst zu versorgen. Ich wurde mit meinem Zwillingsbruder Malve von deinesgleichen großgezogen. Na ja …« Die junge Häsin zögerte. »Von irgendwas zwischen deinesgleichen und meinesgleichen – von den Grünzwillingen.«

»Den Grünzwillingen? Gibt es sie denn wirklich?«, fragte Comfrey und hielt die Luft an. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein erstauntes Lächeln aus.

»Aber natürlich!«, sagte Myrte.

»Und du hast mit ihnen zusammengelebt? Wie war das? Haben sie tatsächlich grüne Haare und …« Comfrey unterbrach sich. »Es tut mir leid. Ich bin einfach so neugierig, verstehst du, weil hier nämlich kaum jemand etwas über das Wilde Volk weiß. Und wenn doch, dann heißt es gleich, es sei ein verbotenes Thema

»Ist das so? Wie seltsam ihr Menschen doch seid«, sagte die junge Häsin verwundert. »Ja, ich habe fast die ganzen neun Monate meines bisherigen Lebens in ihrem grünen Wagen gewohnt, der von Hirschen gezogen wird. Sie und mein Zwillingsbruder Malve sind meine einzige Familie. Die Grünzwillinge haben uns immer wieder verschiedene kleine Aufgaben gegeben: Einmal sollten wir ein Büschel Bärentraubenblätter herbeiholen, und zwar die Blätter von den Pflanzen, die auf der Felszunge mit dem grünem Marmor wachsen. Ein andermal sollten wir Gauklerblumen sammeln, doch nicht irgendwelche, sondern nur die besonders orange leuchtenden, die auf dem heißesten Hangstück gedeihen. Oder sie trugen uns auf, uns das gebrochene Herz der kurvenreichen Straße näher anzuschauen, wo vor vielen Jahren, in der Zeit, als es noch Automobile gab, Hunderte von Waschbären ermordet wurden.«

»Straßen können gebrochene Herzen haben?«, flüsterte Comfrey mit großen Augen.

»Aber natürlich. Und Seelen. Im Grunde genommen sind die Grünzwillinge das, was ihr wahrscheinlich Ärzte nennen würdet«, fuhr Myrte fort. »Doch sie kümmern sich um ganze Berge und Wiesen und Luchsfamilien oder eben um alte Straßen und uralte Geisterscheunen. Um alles, was während des Zusammenbruchs oder in der Zeit danach verwundet wurde. Und mein Bruder und ich sind – oder besser gesagt, waren bis jetzt – ihre flinken Helfer. Sie haben uns beigebracht, uns in der Menschensprache mit ihnen zu unterhalten. Sie haben uns die Straßen und Wege durch alle Hügel und Täler und Berge und Wüsten des Hinterlandes gezeigt.

Und heute Abend baten sie uns, tapfer zu sein und zwei Eulen zu gestatten, uns hoch hinauf in den Nachthimmel zu tragen. Sie erklärten uns, das sei unsere bislang wichtigste Aufgabe. Angelika, die Zwillingsschwester, sagte, dass mich die Eule zu dem Mädchen Comfrey fliegen würde, das in einem Strohlehmhaus in einem Dorf namens Erle wohne. Ich dürfe unterwegs nicht zappeln, und wenn ich bei dem Mädchen sei, solle ich ihr einfach nur folgen. Aber ich sollte sie, wenn nötig, auch führen, weil es hier um Leben und Tod gehe – und zwar nicht nur für sie und mich, sondern für ganz Farallone. Meinem Zwillingsbruder Malve ist das Gleiche passiert, er wurde allerdings in die Stadt …«

»Die Stadt?«, fragte Comfrey heiser, ihr Herz klopfte wie verrückt. »Und du wurdest zu mir geschickt? Die Grünzwillinge wissen also auch, wie ich heiße, genau wie das Luchs-Mädchen?«

»Luchs-Mädchen?«, fragte Myrte. Sie putzte sich ihr Brustfell und dachte nach. »Irgendetwas scheint hier wirklich gerade im Gange zu sein …«

»Ich habe kaum etwas gesagt!«, stammelte Comfrey, die inzwischen vor Aufregung fast glühte. »Das Luchs-Mädchen hat mit mir gesprochen! Und dann habe ich heute aus Versehen ein paar Korb-Hexen beobachtet, und sie haben mich gefragt, ob ich lernen möchte, meinen Schicksalskorb zu flechten!«

»Haben sie das tatsächlich?«, fragte Myrte mit wackelnder Nase. »Du bist aber auch ein neugieriges Menschenmädchen, genau wie du riechst. Wie ich schon vermutet habe: Es scheint, als wäre ich gerade rechtzeitig gekommen! Du kannst dich nicht einfach auf eigene Faust in die Gebräuche und Sitten des Wilden Volkes einmischen. Allerdings weiß ich gar nicht, was wir eigentlich gegen all das tun sollen.«

»Gegen was?«, fragte Comfrey und lehnte sich nach vorn.

»Genau das ist das Problem«, antwortete die junge Häsin. »Darüber haben die Grünzwillinge kein Wort verloren! Sie sind nun mal sehr geheimnisvoll, verstehst du? Ich weiß nur, dass ich dich begleiten und unterstützen soll und wir auf diese Weise ganz Farallone helfen.«

»Ganz Farallone?«, flüsterte Comfrey. »Aber ich bin noch nie weiter als bis nach Holzapfel gekommen! Und das auch bloß ein einziges Mal, als wir zum Blütenfest eingeladen waren … Von dort aus konnte man das schneebedeckte Wacholdergebirge sehen! Ich habe schon vom Reihertal gehört, wo die Weintrauben herkommen, und einmal ist der Schuster zur Hochzeit seiner Schwester nach Teichbinse ans Flussdelta gereist. Aber ganz Farallone kenne ich deswegen noch lange nicht. Schwebt die Insel wirklich wieder in Gefahr, Myrte? Wird es einen zweiten Zusammenbruch geben? Es scheint doch gerade alles so friedlich und … normal.«

Als Comfrey an die Geschichten aus der Zeit des Zusammenbruchs dachte, lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wenn jemand krank wurde, und hatte er auch nur eine normale Erkältung, löste das bei den Dorfbewohnern gleich Panik aus. Sie erinnerten sich an das, was schon die Großmütter ihren Großmüttern erzählt hatten: an die Seuchen und vergifteten Gewässer und die vielen Menschen, die gestorben waren.

»Ich kann es dir nicht sagen«, meinte Myrte und blinzelte mit ihren goldenen Augen. »Die Grünzwillinge sind überzeugt, dass die Art und Weise, wie wir uns voneinander abgeschottet haben – die Stadt vom Hinterland und das Hinterland vom Wilden Volk –, unser Verderben sein wird. Niemand traut mehr dem anderen, und es gibt keine Vermittler zwischen den drei Parteien. Aber wie zwei junge Hasen und zwei Menschenkinder diese Parteien zusammenführen sollen, ist mir auch ein Rätsel!«

Comfrey schwieg eine Weile, zupfte an einem Stück Decke und betrachtete das Licht der Kerze an der Wand. In Gedanken war sie bei ihrem Vater, und sie fragte sich, was ihn vor acht Jahren dazu bewogen hatte, in die Stadt aufzubrechen. Visionen, Träume? Was hatte er gewusst? Was gesehen? Würde sie in seine Fußstapfen treten? Trotz ihrer Angst keimte so etwas wie Stolz in ihr auf.

»Hör mal, Myrte«, sagte sie und versuchte, möglichst erwachsen zu klingen, so wie jemand, auf den die Grünzwillinge zu Recht all ihre Hoffnung setzten. »Die Korb-Hexen scheinen etwas über mein Schicksal zu wissen. Und wenn mein Schicksal mit dem von Farallone zusammenhängt, sind die Frauen vielleicht ein guter Ausgangspunkt, oder?«

Ihre Worte hörten sich etwas dünn an, so, als würde sie ihnen selbst nicht wirklich glauben. Schließlich war sie nur ein ganz normales Mädchen aus dem Hinterland! Und doch, sagte eine zweite Stimme in ihr, und doch waren deine Augen dein ganzes Leben lang auf die Welt des Wilden Volkes gerichtet. Vielleicht bist du ja gar nicht so gewöhnlich.

Myrte musterte sie. »Aber Comfrey, du kennst das Wilde Volk nicht. Stell ihnen eine Frage, und sie antworten dir mit einer Gegenfrage. In Olima ist nichts so einfach, wie es scheint. Trotzdem ist dein Plan so gut wie jeder andere. Er ist immerhin ein Anfang.« Und dann gähnte das Hasenmädchen, wobei ihre langen stumpfen Vorderzähne und ihre rosafarbene Zunge zu sehen waren. Sie setzte sich bequem hin, legte das Kinn auf die Brust und die Ohren flach auf den Rücken und schlief kurz darauf fest ein.

Obwohl Comfrey immer noch ein wenig zitterte, weil der Tag ihr so viele außergewöhnliche Wunder auf die Türschwelle gelegt hatte, blies sie die Kerze aus, rollte ihr Bettzeug aus, zog die Wolldecke bis zur Nasenspitze und versuchte, ein wenig zu schlafen. Irgendwo hinter all dem Staunen spürte sie eine seltsame Zuversicht. Und als es fast schon wieder dämmerte, versank sie endlich in ihren Träumen.

Comfrey wachte erst wieder auf, als ihre Mutter ins Zimmer kam. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und schien warm durchs Fenster.

»Comfrey, Liebes, bist du krank?«, fragte Maxine besorgt.

Schlaftrunken blinzelte Comfrey, ihre Augenlider waren schwer und voller Schlafsand. Sie rieb sich die Augen, setzte sich mit einem Ruck auf und legte die Hand auf die Stelle, wo Myrte gesessen hatte. »Schlecht geträumt, schrecklich geschlafen«, murmelte sie und versuchte, ihre Sorge um die Häsin zu verbergen.

»Ich habe dich nicht geweckt, Schatz, weil ich dachte, dass du dir vielleicht eine Erkältung geholt hast. Aber jetzt stehst du besser auf, am Holzofen steht heißes Wasser zum Waschen. Und nachdem du die Gänse gefüttert hast, kannst du mir mit den Milchkuchen für heute Abend helfen.« Maxine tätschelte Comfreys Beine, die unter der Decke steckten, und ließ ihre dunklen Augen forschend über das Gesicht ihrer Tochter gleiten. Dann machte sie sich auf den Weg zurück in die Küche. Als sie schon fast aus dem Zimmer war, bückte sie sich und hob verwundert ein herrenloses Karottenstück auf. Sie machte die Tür hinter sich zu, und ihre nackten Füße tappten auf die vertraute Weise über den Flur, wie Comfrey es gerne abends und morgens hörte.

Kaum war die Tür geschlossen, sprang Comfrey auf.

»Myrte? Wo bist du?«, flüsterte sie. Doch sie bekam keine Antwort, und ihr wurde ganz schwer ums Herz. Hatte sie das etwa alles nur geträumt? Sie zog den Filz vor dem Fenster weg.

Da sprang Myrte zwischen Ringelblumen und Pfefferminzstauden hervor und hüpfte mit einem großen Satz aufs Fensterbrett. An ihrem braungelben Fell hingen einige der klebrigen, orangefarbenen Blütenblätter, und sie brachte den Duft von Minze mit ins Zimmer.

»So schnell vergrault mich niemand«, sagte die Häsin und leckte sich den Schmutz von der schlanken Pfote. »Ich hab nur gefrühstückt. Köstliche Möhren, vorzüglicher Grünkohl.«

»Myrte, das ist unser Essen! Was, wenn dich jemand gesehen hätte? Es ist gefährlich. Die Leute töten Kaninchen und Wild, das über die Grenze in unsere Dörfer kommt. Sie glauben, dass sich diese Tiere freiwillig als Nahrung anbieten und das Wilde Volk es gutheißt.«

»Ich bin kein Kaninchen! Ich bin ein Hase«, sagte Myrte beleidigt. »Das ist ein großer Unterschied. Hasen sind viel schneller. Und Menschen, die mich fangen wollen, machen mir auch keine Angst, nur Falken und Luchse. Die sind unglaublich leise, und ihre Krallen sind schärfer als jedes Messer.« Myrte hüpfte lautlos auf den Boden.

»In Ordnung«, stotterte Comfrey, die von dem Gefühlsausbruch der Häsin ein wenig überrascht war. »Hör mal, ich habe vergessen, dass heute ein Feiertag ist. In der Dorfmitte gibt es ein Festmahl, wir feiern das Kerzenfest und die Rückkehr von Milch und Saft und Pflanzen. Jeder kocht etwas und bringt es zum Feuer, und während die Sonne untergeht, wird getanzt und musiziert. Ich weiß noch nicht, wann ich mich davonschleichen kann, ohne dass meine Mutter es bemerkt.«

Comfrey ging zu der Tannenholztruhe in der Ecke des Zimmers und nahm ein Paar Wollstrümpfe heraus. Bei dem Gedanken an ihre Mutter geriet sie ins Grübeln. Und während sie langsam ihre Strümpfe anzog, fiel ihr ein, wie traurig Maxine gestern bei der Erwähnung ihres Vaters ausgesehen hatte. War sie eigentlich verrückt, einfach so dem Wilden Volk hinterherzujagen? Und wenn das nun die allumfassende Ordnung durcheinanderbrachte? Womöglich bekam ihre Mutter die Grippe, oder sämtliche Gänse wurden von einem Luchs gefressen?

»Myrte?«, sagte sie und klang gar nicht mehr so zuversichtlich wie am Abend zuvor.

Die Häsin sah von ihrer Fellpflege auf – die Ringelblumenblütenblätter waren sehr klebrig und nur schwer zu entfernen – und musterte das Gesicht des Mädchens.

»Werde ich Unglück über meine Familie bringen, wenn ich den Korb-Hexen nachlaufe? Ist das nicht verboten? Ich habe keine Angst, nicht um mich.« Ihre Stimme kippte, verriet die Lüge. »Aber meine Mutter … sie hat schon meinen Vater verloren. Und ich könnte es nicht ertragen, wenn ich etwas Falsches tue, was sie verletzt.« Und doch wanderten Comfreys Gedanken weiter zu dem Luchs-Mädchen, das aus den Büschen hervorgelugt hatte. Sie dachte daran, wie sie aus Ton Luchse getöpfert hatte. An die gelben Weidenzweige an der Stelle, wo sie die Frauen mit den Händen, die so alt wie der Regen waren, beobachtet hatte.

Dünne weiße Wolken schoben sich über den Morgenhimmel. Eine Drossel sauste am Fenster vorbei, dann ein Rotkehlchen.

»Ich weiß nicht, was passieren wird«, sagte die junge Häsin schließlich. »Aber ich weiß, dass die Grünzwillinge uns nicht zusammen losschicken würden, wenn es nicht absolut erforderlich wäre. Trotzdem ist es wahrscheinlich am besten, kein Risiko einzugehen. Und da ich kein Mensch bin: Wie wäre es, wenn du mich als eine Art Vermittler über die Grenze schickst? Ich werde mir diese Korb-Hexen mal genauer ansehen und so viel wie möglich herausfinden und dir Bericht erstatten. Und dann …«

»Ja!« Comfrey strahlte wieder. »Das ist eine gute Idee. Ich werde dich bis zu den Opferplätzen begleiten, und wenn die Luft rein ist, folge ich dir. Wir werden ja sehen, was wir herausbekommen. Ich helfe meiner Mutter nur noch mit ein paar Sachen, dann können wir uns auf den Weg machen.«

Comfrey lief in die Küche und wusch sich schnell am Becken beim Holzofen.

Maxine beobachtete ihre Tochter aus den Augenwinkeln, und sie bemerkte ihr geheimnisvolles Lächeln. Während sie einen Kürbis schälte und ihn in Scheiben schnitt, schüttelte sie den Kopf. Die Stimmungsschwankungen zwölfjähriger Mädchen waren immer wieder überraschend.

Comfrey zog sich ein braunes Wollkleid und einen Pullover über. Dann fütterte sie die Gänse und versorgte sie mit Wasser und melkte die Ziegen in einen Holzeimer und schnitt für die Kuchen mehrere Hände voll Grünkohl ab – und das alles tat sie viel zügiger als sonst. Vom schnellen Melken schmerzten ihre Hände, und die Ziegen musterten sie wissend mit ihren eigenartig schrägen Pupillen.

»Ich will nur noch eben nach unseren Opfergaben schauen, Mama!«, platzte es aus Comfrey heraus, als sie ins Haus zurückkam. Ihr Gesicht war vor Kälte und von der geschäftigen Tüchtigkeit gerötet.

»Ich brauche Hilfe bei diesen Küchlein, Frey. Zwölf Stück kann ich nicht allein backen!« Maxine, die vor der Küchenanrichte stand und bis zu den Handgelenken in dem milchig-süßen Teig steckte, sah wenig erfreut auf.

Comfrey kannte diesen Gesichtsausdruck, und er gefiel ihr gar nicht. »Nur eine halbe Stunde. Bitte! Ich möchte so gerne wissen, ob sie alles mitgenommen haben!« Normalerweise verbarg sie nichts vor ihrer Mutter, doch nun lächelte sie unschuldig, und ihre brennenden Wangen überdeckten, dass sie errötete.

Maxine verdrehte die Augen und scheuchte sie davon. »Aber beeil dich.«

In ihrem Schlafzimmer legte sich Comfrey wieder den blauen Umhang um, dieses Mal versteckte sie allerdings Myrte unter ihrem linken Arm. Die Häsin beschwerte sich und beulte den Umhang ein wenig aus. Als Comfrey in ihren Wildlederstiefeln aufgeregt nach draußen lief, blickte Maxine zum Glück nicht von ihrer Arbeit auf.

»Du musst unter dem Umhang bleiben, bis wir aus dem Dorf raus sind«, flüsterte Comfrey, während sie auf die Bienenstöcke zuging.

»Das ist lächerlich!«, sagte Myrte und strampelte sich frei. »Ich kann mich ganz gut alleine verstecken, vielen Dank.«

Comfrey schaute auf die dickköpfige Häsin hinab, die nur aus Fell und Muskeln bestand, und seufzte. »Wie du willst.«

Vor den Bienenstöcken machte das Mädchen kurz halt, neigte ihren Kopf und murmelte, sie wolle nach den Opfergaben sehen. Dann stellte sie den Bienen Myrte vor.

Die Häsin beugte respektvoll Kopf und Ohren. »Die Grünzwillinge haben mich geschickt.«

Comfrey schaute sich unwillkürlich um und hoffte, dass niemand vorbeikam und den sprechenden Hasen entdeckte. Dann machte sie kehrt und lief schnell einen matschigen Feldweg entlang. Die Häsin hüpfte unterdessen flink hinter einen Brombeerstrauch in das hohe, nasse Gras, wobei ihr goldenes Fell kurz aufblitzte.

Als sie den Weg erreichten, der das Weidetal bis zu den Opferhügeln durchschnitt, sahen sie, dass der Sturm ein paar silbrig-graue Esskastanienbäume umgeknickt hatte, die nun quer über dem Weg lagen. Es roch nach frischer Erde und Holzrauch und harzigen Blättern. Comfrey rannte vorneweg, sie wollte unbedingt noch kurz nach den Opfergaben schauen, bevor sie Myrte zu der Stelle führte, wo sie die Korb-Hexen entdeckt hatte. Schließlich erreichten sie einen Trampelpfad, über den Rinnsale strömten, die von Erlen- und Lorbeerblättern übersät waren.

»Es ist weg! Alles ist weg, sogar das Tuch und die Kerzen!«, rief das Mädchen aufgeregt, als sie den Opferplatz am Berghang schon sehen konnten. »Normalerweise nehmen sie nicht den ganzen Altar mit!« Sie kletterte den Hang hinauf, um sicherzugehen. Und tatsächlich: Von den Opfergaben war nichts als ein roter Faden übrig, der an einer Distel hing, und ein bisschen verlaufenes goldenes Wachs, das auf dem glatten Stein ausgehärtet war.

Myrte war ihr im Nu hinaufgefolgt und schnupperte die Ränder der Felszunge aus grünem Marmor ab. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich niemanden vom Luchs-Volk rieche«, sagte sie und schnüffelte weiter im Gras herum. »Den Geruch von Luchsen kenne ich gut!« Sie stellte sich auf die Hinterläufe und hielt die Nase in die Luft, dann setzte sie ihre Vorderpfoten wieder ab. »Ich rieche Weiden und Rehe und gut geölte Räder. Aber ganz sicher bin ich mir nicht; es ist ein verwirrender Geruch.«

»Denkst du, das sind die Korb-Hexen, Myrte?«

»Ich springe noch ein bisschen weiter den Berg hinauf und schaue nach«, sagte die kleine Häsin, »ich bin in Windeseile wieder zurück!« Und schon hüpfte sie davon.

Comfrey spürte ein nervöses Flattern in der Brust. Was trieb sie überhaupt hier draußen? Und was fiel ihr ein, an der verbotenen Grenze entlangzulaufen?

Ein hohes Kreischen, das von der anderen Seite des Bergkammes zu kommen schien, riss sie aus ihren Gedanken. »Comfrey!«, drang Myrtes gepresste Stimme verzweifelt zu ihr. »Hilfe!«

Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um sich über verbotene Grenzen Sorgen zu machen. Sie schaute noch einmal zurück, über das sumpfige Weidetal, in die Sicherheit des Hinterlandes. Dann atmete Comfrey tief ein, murmelte ein Schutzgebet Richtung Opferplatz und rannte den Berg hinauf. Vom steilen Anstieg brannten ihre Beine, aber sie hielt nur kurz bei einem Felsvorsprung mit Lorbeerbäumen an, um nach Luft zu schnappen. Zwischen den schlanken Stämmen der Lorbeerbäume sah sie etwas Rotes aufblitzen.

»Myrte, wo bist du?«, rief sie.

Fünf Meter weiter oben war bereits der Gipfel. Wieder blitzte etwas rot auf. Dieses Mal mit einem Hauch von Orange, fast wie Feuer.

Im selben Moment tauchte ein großer Vogel über dem Bergkamm auf. Er flog ganz schief, denn er hielt Myrte in den Fängen, die ihm mit ihren starken Hinterläufen in den Bauch trat. Zuerst dachte Comfrey, es wäre ein riesiger Rotschwanzbussard. Aber als er auf dem Luftstrom segelte und seine Flügel und Schwanzfedern voll ausbreitete, keuchte Comfrey laut auf – es war ein Falke, aber die roten, aufgefächerten Schwanzfedern leuchteten glühend orange und wurden, genau wie die Flügel, von Flammen umzüngelt.

»Halt!«, schrie Comfrey, der im gleichen Augenblick bewusst wurde, wie dumm das klang. Vögel kümmerten sich nicht um die Befehle eines Mädchens!

So schnell sie konnte, rannte sie weiter den Berg hinauf, direkt auf den flammengefiederten Falken zu, der Myrte inzwischen mit seinen Klauen gegen den Boden drückte und ihr mit seinem scharfen Schnabel jeden Moment die weiße Kehle aufschlitzen würde. Die Panik verlieh Comfrey ungeahnte Kräfte. Sie brüllte, raffte mit einer Hand ihr braunes Kleid zusammen und winkte hektisch mit der anderen.

Überrascht von dem schreienden Geschöpf, das mit zwei fliegenden schwarzen Zöpfen so plötzlich auf ihn zugerast kam, hüpfte der Vogel ein Stück zurück. Dieser Bruchteil einer Sekunde genügte Myrte, um zu fliehen. Sie stürzte sich in Comfreys Arme.

Der Falke zischte die beiden mit weit geöffnetem Schnabel an, sodass man seine leuchtend rote Zunge sehen konnte, und hob ab.

Comfrey hielt die bebende Häsin gut fest und beobachtete, wie der Falke mit orangefarbenen Flügelschlägen über sie hinwegflog und dann auf der anderen Seite des Berges nach unten schoss. In seinem Sog wirbelten Funken durch die Luft. Der Falke kreiste nun über einem schief stehenden Wagen, der ein Stück unterhalb des Bergkammes stand. Und eine Frau mit einer aufgetürmten kegelförmigen Frisur in einem gelben Kleid, das sich leuchtend von ihrer mammutbaumdunklen Haut abhob, rührte in einem Kessel, der daneben über einem Feuer schaukelte. Comfrey spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Sie schaute zu Myrte, die ihren Kopf in den Falten des blauen Umhangs vergraben hatte. Die Brust der Häsin hob und senkte sich zitternd mit jedem Atemzug.

»Schhh, alles in Ordnung, jetzt bist du in Sicherheit«, sagte Comfrey und streichelte die zarten Ohren der Häsin. Sie wunderte sich selbst über die Zuversicht in ihrer Stimme. Dann untersuchte sie Myrtes Rücken, wo der Falke mit seinen Klauen zugepackt hatte.

Als der Falke auf dem Wagen landete, blickte die Frau vom Topf über dem Feuer auf. Klappernd legte sie den Suppenlöffel beiseite.

Comfrey sprang ein paar Schritte zurück. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie und Myrte getan hatten. Sie befanden sich auf der Rückseite des Bergkamms. Sie waren in Olima! Ungezügelte Panik breitete sich in Comfrey aus, sie drehte sich um und rannte los.

»Nicht so eilig, meine Liebe«, sagte die Frau. Sie rief nicht, trotzdem war ihre Stimme mit dem rauchigen Klang selbst über die weite Distanz hinweg klar und deutlich zu hören, wie das Echo in einer Höhle.

»Wir wollten nicht so weit gehen. Na ja, in gewisser Weise schon, aber …«, stotterte Comfrey nun und stolperte rückwärts. Was würde die Frau mit ihr machen? Wie naiv sie doch gewesen war, zu glauben, die Korb-Hexen könnten ihre Freunde werden! »Wir sollten jetzt besser nach Hause.«

Doch die Frau lief bereits zu ihnen hinauf, der Falke saß inzwischen lodernd auf ihrer Schulter, versengte aber nicht ihr aufgetürmtes Haar.

»Nach Hause? Du kannst nicht nach Hause gehen, Kind. Du bist in das Land Olima eingedrungen. Schau hinter dich«, sagte sie mit nun honigsüßer Stimme und zeigte den Berg hinunter. Der Falke plusterte sich auf, Funken flogen.

Myrte streckte ihren Kopf aus dem Umhang, schnüffelte, fiepte und tauchte wieder ab.

Comfrey drehte sich um. Dort unten, am Rand des sumpfigen Weidetals, das die Grenze zwischen den Welten bildete, hatten sich hochgewachsene Kojoten-Männer mit goldfarbenem Fell aufgestellt. Ihre langen Menschengesichter wechselten beängstigend schnell von einem freundlichen Ausdruck in einen drohenden. Sie trugen das eng anliegende Gewand der Krieger, schwarz und zerfetzt, und ihre Gürtel strotzten nur so vor verschieden großen Knochenmessern. Jetzt bleckten sie die Zähne, und einer legte den Kopf nach hinten und stieß ein durchdringendes Heulen aus.

Das Wilde Volk (Bd. 1)

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