Читать книгу Das Wilde Volk (Bd. 1) - Sylvia V. Linsteadt - Страница 4

Оглавление

1

Die Grünzwillinge


In einem Nest aus Gras schmiegten sich zwei neugeborene Hasen an den Bauch ihrer Mutter und träumten. Der Mond über ihnen strahlte in einem milchigen Weiß. Die Hasenmutter döste nur leicht, ein Ohr hatte sie aufgerichtet, um nach Gefahren zu lauschen. Hin und wieder leckte sie ihren kleinen, schlafenden Kindern mit ihrer rauen Zunge über das Fell.

Kurz vor Sonnenaufgang verkündete ein Blauhäher mit einem lautstarken Warnruf, dass ein Kojote über die Wiese schlich. Als die Hasenmutter sich aufsetzte und schnupperte, wehte ihr sein unverkennbarer Geruch in die Nase – sein feuchtes, stinkendes Fell; sein säuerlicher Atem; ein Hauch von Blut. Konzentriert horchte sie, aus welcher Richtung der Kojote kam. Zu ihrer Linken raschelten seine Pfoten gedämpft im Gras. Jetzt war sie hellwach, und ihre großen Ohren zitterten.

Ihre Kleinen schliefen immer noch tief und fest: zwei blassgoldene Knäuel mit vier weißen, weichen Ohren. Dann hörte die Hasenmutter direkt neben sich den hechelnden Atem des Kojoten. Von einer großen Angst erfasst, machte sie einen Satz zur Seite, woraufhin der Kojote überrascht ein paar Schritte zurückwich. Verzweifelt lief die Hasenmutter los und schlug irrwitzige Haken über die Wiese. Sie tat ihr Möglichstes, um den Kojoten von ihren schlafenden Babys abzulenken – und der Kojote jagte ihr tatsächlich nach. Der Winter war gerade eben erst dem Frühling gewichen, und das Gras war zwar saftig, aber kurz. Der Häsin bot sich kaum Deckung, und obwohl sie schnell war und auf starken Beinen davonsauste, stolperte sie über den Eingang eines Dachsbaus. Dieses eine Stolpern genügte: Der Kojote setzte zum Sprung an.

Auf der Wiese wurde es still.

Nach einer Weile zog der Kojote weiter und hinterließ nichts als drei Spritzer Hasenblut.

Als sich die Sonne über den Bergrücken schob, wachten die Hasenzwillinge auf. Verschlafen suchten sie nach ihrer Mutter, um bei ihr zu trinken, fanden aber nur eine große, kalte Kuhle. Auf einmal kam ihnen der Himmel über ihren Köpfen und die Erde unter ihren Pfoten sehr weit und sehr leer vor. Der Zwillingsbruder zitterte. Seine Schwester gab einen leisen, beruhigenden Laut von sich, so wie es ihre Mutter gemacht hätte, und schob sich näher an ihn heran. Ihre Mutter würde bald zurückkehren. Sie kehrte immer zurück. Jedes Mal, wenn sie zum Fressen loszog, sagte ihre Mutter ihnen, dass sie sich unter keinen Umständen rühren durften. Ganz egal, was passiert, sagte sie, seid leise und verhaltet euch ruhig. Also warteten ihre beiden Kinder und schliefen irgendwann wieder ein.

Als die kleinen Hasen das nächste Mal aufwachten, wurden sie von einer warmen Hand aus ihrem Grasnest gehoben. Kurz überlegte die Schwester, ob sie das unbehaarte Ding, das sie gepackt hatte, beißen sollte, aber die Hand roch nach Grassamen und Milch. Über ihnen summte eine Stimme vertraute Klänge – Wind, der durch Tannen strich, Mutters Atem. Es klang wie die Hasenworte für Seid ruhig, meine Herzchen. Habt keine Angst. Also versanken die Zwillingshasen wieder in ihren Träumen und ließen sich von der Wiese ihrer Geburt über einen rauschenden Quellbach zu einem grün gestrichenen Wagen tragen, der zwischen einer Gruppe Erlen stand. Zwei Fenster mit rosenrot getönten Scheiben verliehen dem Wagen das Aussehen eines Lebewesens mit Augen. Aus dem silberfarbenen Schornstein kringelte sich Rauch. Vier Hirsche, die ausgespannt waren und kein Zaumzeug mehr trugen, knabberten im Schatten an den violetten Blüten des Wald-Ziest.

Als die jungen Hasen ein drittes Mal aufwachten, waren sie sehr hungrig und fanden sich in einer alten, verrosteten Blechdose in einem Nest aus Gashalmen und Hasenfell wieder. Von dort aus blickten sie auf einen prasselnden Holzofen, neben dem ein Mann und eine Frau saßen. Die beiden ähnelten sich sehr, hatten das gleiche breitwangige Gesicht, die gleichen kurz geschnittenen tannengrünen Haare, die gleiche dunkle Haut und die gleichen runden, hellen Augen. Sie hießen Angelika und Gabriel, aber vor langer Zeit waren sie auch unter dem Namen »die Zauberzwilling-Landärzte des Wilden Volkes« bekannt gewesen. Und die Menschen aus dem Hinterland, für die sie kaum mehr als eine alte Sage waren, nannten sie einfach »die Grünzwillinge«. Gerade legten die Grünzwillinge neue Zweige ins Feuer, und das taten sie mit einer gemeinsamen Hand.

Da die Hasen noch nicht lange auf der Welt waren und noch nie Menschen zu Gesicht bekommen hatten, fanden sie diese zusammengewachsene Hand nicht eigentümlicher als den grünen Wagen oder das Feuer in dem Eisenkasten. Sie fanden die Hand auch nicht eigentümlicher als die uralten Tiegel auf den niedrigen Regalen, in denen unterschiedlichste Kräuter in dunklem Wein eingelegt waren, oder als den Stapel mit Tierfellen und die gewebten Schlafmatten in der Ecke. Nicht eigentümlicher als die alten abgeplatzten Emailletöpfe und -pfannen beim Holzofen oder den großen Korb voller Eicheln neben der Tür. Das alles war für sie eine vollkommen neue Landschaft aus verschiedenen Formen, Farben und Gerüchen. Die jungen Hasen setzen sich auf, ihre hellen Ohren zitterten, ihre goldenen Augen blinzelten, und sie erschnupperten ausführlich die Umgebung, so wie sie es von ihrer Mutter kannten.

Und sofort war die zusammengewachsene Hand wieder bei ihnen und hielt ihnen ein Stückchen Stoff entgegen, das in Milch getränkt war. Gierig leckten sie daran.

»Willkommen im Haus der Grünzwillinge, kleine Hasen«, murmelte eine Stimme, die sie verstehen konnten. »Habt keine Angst. Wir haben auf euch gewartet.«

Den ganzen Frühling, Sommer und Herbst hindurch zogen die Grünzwillinge die beiden Hasen wie ihre eigenen Kinder auf. Entweder schliefen sie am Ofen oder im Schutz der immergrünen Zweige der Bärentraube, je nachdem, wonach ihnen gerade war. Die Grünzwillinge redeten sowohl in der Sprache der Menschen als auch in der Sprache der Hasen mit ihnen und gaben ihnen Menschennamen. Die Schwester nannten sie Myrte, nach den silbergrünen Büschen, die entlang der Bergkämme wuchsen, und ihren Bruder Malve, nach dem süßen Kraut, das überall am Wegesrand alter Straßen gedieh.

Es waren angenehme Monate – die Tage begannen mit dem Frühstücken von saftiger Vogelmiere auf feuchten Wiesen und endeten mit langen Abenden am Feuer. Dort erzählten Gabriel und Angelika den jungen Hasen viele Menschengeschichten. Sie erzählten ihnen die uralten Schöpfungsgeschichten von Farallone: von der Spinnenfrau, die aus dem Sternenstaub der Sternschnuppen einen Faden drehte und ihn bis zur Erde hinuntertrudeln ließ. Von einem Hirsch, der das Sternengold mit Dunkelheit und Milch vermischte und alle Geschöpfe, Pflanzen, Gewässer und Steine erschuf. Von den vielen Tausend Jahren, in denen die Menschen, Pflanzen, Tiere und der Himmel in Frieden miteinander gelebt hatten. Und sie erzählten von der Ankunft der Sternenpriester und dem Bau der Stadt Neu Albion. Von der Gier der Städter nach der Energie, die sie aus Sternengold gewannen, das sie an Flüssen, Bächen und Bergen abbauten. Auch von der Zeit des Zusammenbruchs erzählten die Grünzwillinge, als die Stadt sich übernommen hatte und alles auseinanderfiel – damals, als Farallone von einer Seuche heimgesucht wurde und die Sternenpriester eine riesige Mauer um die Stadt herum bauten, um sich zu schützen. Sie erzählten von der Geburtsstunde des Wilden Volkes, das die Schäden heilen sollte, die die unersättliche Stadt der Insel Farallone zugefügt hatte. Und von den Gesetzen, die derzeit das Leben auf der Insel in einem zerbrechlichen Gleichgewicht hielten. Ihre Befürchtungen verschwiegen die Grünzwillinge den beiden Hasen jedoch, denn die Zerstörung war noch nicht vorbei. Durch die Errichtung von Mauern aus Angst und Kränkungen zwischen Stadt, Hinterland und den Gebieten des Wilden Volkes war die Insel Farallone noch stärker gespalten worden, war sie noch verletzlicher und dadurch noch anfälliger als bisher.

Normalerweise brauchen Hasen keine Geschichten, um die Welt zu begreifen, schließlich erleben sie jeden Moment in ihrem Leben sehr intensiv, so intensiv wie den Duft von frischem Gras. Aber die Grünzwillinge hatten Myrte und Malve aus einem bestimmten Grund ausgesucht: Hasen sind einmalig, wenn es darum geht, unter, über, durch oder um eine Mauer herum zu gelangen. Dafür aber mussten sie die Welt zunächst einmal wie Menschen verstehen lernen. Und die Geschichten halfen ihnen dabei, weil sich Menschen ihre Welt auch durch Geschichten erschlossen.

Eines Abends zogen sich im Osten am Horizont Gewitterwolken zusammen. Die Grünzwillinge und die jungen Hasen hatten ihr Lager auf dem östlichsten Berggipfel aufgeschlagen, von dort aus konnte man über die Große Salviawüste bis nach Neu Albion sehen. Selbst zweihundert Jahre nach der Zerstörung war das Tal noch eine Einöde. Außer Salbeisträuchern wuchs hier nichts, und auch die sonst so zähen Rehe und Hirsche mieden das Gebiet, ebenso wie die meisten Eidechsen. Die Gewitterwolken warfen einen dunklen Schatten über die Silhouette der Stadt, die in der Ferne aufragte und sich ganz im Osten der Insel ausbreitete. Die schier endlose Metallmauer, die die Stadt vom Hinterland trennte und sie vollkommen umschloss, schimmerte unheilvoll in der aufziehenden Dunkelheit. Die Laternen auf dem Mauerkranz beleuchteten mit ihren glimmenden Lichtern einen der Sternenbrecher. Insgesamt standen sechs Laternen entlang der Stadtmauer, große runde Metalltürme mit jeweils acht Turmspitzen. In jedem der Türme befand sich ein Reaktor, der die Moleküle jedes noch so winzigen Stückchens Sternengold spalten und in pure Energie verwandeln konnte – Energie, auf die die Stadt sich vor dem Zusammenbruch jahrhundertelang verlassen hatte. Jetzt warf die untergehende Sonne einen letzten gelborangefarbenen Strahl auf die kronenförmige Spitze des Sternenbrechers, wo er sich in ein Netz aus feinen Fäden auffächerte.

Gabriel und Angelika schauten sich über den Korb voller Eicheln, die sie im Abendrot schälten, hinweg an. Dann blickten sie zu Myrte und Malve, die am Waldrand Winterportulak knabberten und sich zwischen den einzelnen Happen unbekümmert unterhielten. Die zwei Hasen waren inzwischen zu langbeinigen, ausgelassenen Jungtieren mit starken Hinterläufen herangewachsen. Die Haut ihrer Ohren war so zart, dass selbst in dem Licht der untergehenden Sonne viele kleine Äderchen durchschimmerten.

Nachdem die Grünzwillinge lange geschwiegen hatten, formte Angelika ihre Lippen zu einem O. Dann lockte sie mit leisen Rufen zwei Schleiereulen aus dem Abendhimmel. Klackernd landeten sie auf dem Wagendach.

Es war so weit.

Das Wilde Volk (Bd. 1)

Подняться наверх