Читать книгу Das Schloss am Moor - Sylvia Weill - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеNiemals würde ich vergessen, welche Freude es mir als Kind bereitet hat, wenn meine Mutter mir Märchen aus ihrer deutschen Heimat erzählte. Davon konnte ich nie genug bekommen, und oft bettelte ich darum, dass sie mir ein neues erzählte oder aber mir eins der Märchen noch einmal vorlas, welches ich schon in- und auswendig kannte.
Mutter besaß das seltene Talent, ihre Zuhörer in eine Welt voller Magie und Zauberei zu entführen. Alle Kinder aus der Nachbarschaft hingen an ihren Lippen, wenn sie zuhören durften und Mutter von Schneewittchen und den sieben Zwergen, Hans im Glück oder der Prinzessin auf der Erbse erzählte.
Die meisten Kinder mochten das Märchen von Hänsel und Gretel. Meine Mutter konnte die böse Hexe so gut nachmachen, dass wir dabei alle Angst bekamen. Mir jedoch gefielen die Geschichten, in denen der starke Prinz die schöne Prinzessin aus ihren Schwierigkeiten erlöste und sie für immer glücklich und zufrieden lebten.
Ich war allerdings am liebsten alleine mit meiner Mutter. Meist saß sie dann in ihrem alten Ohrensessel, im Kamin flackerte ein behagliches Feuer, und ich hockte auf ihrem Schoß oder spielte auf dem Boden, wo mir keins von ihren Worten entgehen konnte. Und in diesen Momenten holte sie oft aus ihrer alten Ebenholztruhe ein schon ganz zerfleddertes Märchenbuch hervor und las mir die Geschichten der Gebrüder Grimm auf Deutsch vor.
Wenn wir alleine waren, sprach sie immer in ihrer Muttersprache mit mir. Es war ganz selbstverständlich für mich, ich kannte es nicht anders. Mein Vater war davon zwar nicht begeistert, konnte und wollte es aber auch nicht verhindern. Mit ihm und vor allen anderen Personen in meiner Umgebung sprachen wir natürlich nur englisch. Vater beherrschte Mutters Sprache nicht sehr gut, aber er liebte ihre Heimat ebenso wie sie. Schließlich gab es ein starkes Band zwischen den beiden Ländern.
Unsere junge Königin Victoria entstammte dem Herrscherhaus Hannover, das seit 1714 die englischen Könige stellte, und ihr Prinzgemahl Albert, den sie so abgöttisch zu lieben schien, dem deutschen Adelshaus Sachsen-Coburg und Gotha. Es hieß, sie sprachen deutsch miteinander, wenn sie allein waren. So fühlte ich mich wie viele Engländer mit den Deutschen freundschaftlich verbunden, und wie jedes andere Mädchen in England sehnte ich mich nach einer so glücklichen Ehe mit so vielen Kindern, wie die beiden es Tag für Tag vorführten.
Natürlich wusste auch jeder in England inzwischen, dass unser junges Königspaar das Weihnachtsfest nach deutschem Ritual feierte. Seit ich denken konnte, hatte meine Mutter auch darauf bestanden, das Weihnachtsfest nach dem Brauch ihrer Heimat zu begehen. Dazu gehörte ein Tannenbaum, den sie organisierte und dann liebevoll schmückte. Dabei erzählte sie mir Geschichten von den Weihnachtsfesten ihrer Kindheit in Freiburg im Breisgau, wovon ich ebenso fasziniert war wie von den Märchen.
An Heiligabend gab es Geschenke, und wir sangen deutsche Weihnachtslieder. Mein Vater konnte nur mitsummen, aber das war in Ordnung so und tat der Stimmung keinen Abbruch.
Großen Wert legte meine Mutter jedoch darauf, meinen Vater nicht zu vernachlässigen. Deshalb hing am ersten Feiertag immer ein Strumpf für jeden am Kamin, in dem noch einmal kleine Geschenke steckten. Über den Türen hatte sie Mistelzweige angebracht, aber natürlich gab es zum Essen Gänsebraten wie in Deutschland. Der Nachtisch allerdings musste Plumpudding sein, mit dem sie sich immer große Mühe gab. So konnte mein Vater Weihnachten auch sehr britisch genießen.
Ich glaube, in diesen Momenten der Magie, wenn Mutter von den sieben Zwergen, die in ihrem Wald für Schneewittchen sorgten, erzählte, fühlte sie sich wieder wie zu Hause.
Sie und Vater hatten sich in Mutters Heimatstadt Freiburg kennengelernt, einer kleinen, mittelalterlichen Stadt am Rande des Schwarzwaldes, als Vater eine Bildungsreise durch Deutschland unternommen hatte. Mutter lebte damals zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester auf einem kleinen Bauernhof, der vor den Toren von Freiburg lag. Am Markttag musste sie immer Eier, Butter und Käse auf den Markt vor dem Münster bringen, um es dort zu verkaufen. Einen Sommer lang blieb er, um ihr dann einen Heiratsantrag zu machen. Im Herbst musste er jedoch zurück nach England, um dort eine Stellung anzutreten. Schweren Herzens war sie ihm nach England gefolgt. Aber da sie ihn so sehr liebte, nahm sie dieses Schicksal auf sich. Nie mehr in ihrem Leben konnte sie nach Deutschland zurückkehren, um ihre Verwandten zu besuchen und heimische Luft zu schnuppern. Ich weiß, dass sie sich sehr nach den Wäldern ihrer Heimat gesehnt hatte.
Schon damals hatte ich mir fest vorgenommen, irgendwann einmal in meinem Leben dorthin zu fahren, um die Stadt zu sehen, in der meine Mutter aufgewachsen war. Sie hatte mir so viel erzählt: von dem berühmten Freiburger Münster und den kleinen Bächen, die durch die mittelalterliche Stadt flossen, den wunderschönen alten Stadttoren und von der verfallenen Burg etwas außerhalb. Zudem musste ja auch immer noch ihre Schwester dort leben.
Mein Vater war es, der mich sehr schonend darauf vorbereitete, dass meine Mutter uns bald verlassen würde. Ich verstand zuerst nicht, was er damit meinte, mit dem Tod hatte ich bisher nicht viel zu tun gehabt. Natürlich hörte man von Todesfällen in der Umgebung oder auch in Vaters Verwandtschaft, aber jetzt war ich zum ersten Mal direkt damit konfrontiert.
Man sagte, es sei die Schwindsucht gewesen. Ich konnte es zunächst gar nicht richtig begreifen, weil sie Zeit ihres Lebens immer gesund und vital gewesen war, doch jetzt verfiel ihr Körper relativ schnell.
Mein Vater und ich waren uns in dieser Zeit eine große Stütze, auch bei der Pflege meiner Mutter. Sie hustete fast ununterbrochen, und immer war ihr Taschentuch voller Blut. Ich sagte ihr ständig, wie sehr ich sie liebte, und sie sagte mir ein ums andere Mal genau dasselbe.
Sie starb, als ich vierzehn Jahre alt war.
Auf ihrem Totenbett musste ich ihr versprechen, ihrer Schwester in Freiburg letzte Grüße von ihr zu überbringen und wie schade sie es gefunden habe, nie nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Tränenreich gab ich ihr mein Versprechen.
Tagelang wusste ich nicht, wie ich weiterleben sollte, so sehr traf mich ihr Tod. Lange bewegte ich mich nur noch wie in Trance durchs Leben. Ich aß und ich schlief, an mehr erinnere ich mich nicht mehr, bis die Zeit dann auch an mir ihre heilsame Linderung vollbrachte und ich langsam wieder unter die Lebenden zurückkehrte.
Mein Vater jedoch brach unter dem Tod seiner Frau wirklich zusammen. Monatelang war er nicht ansprechbar. Abwechselnd kamen seine Verwandten ins Haus, um unseren Alltag aufrechtzuerhalten. Ich war damals selber zu verletzt und auch noch viel zu jung, um alles zu regeln. Immer wieder ertappte ich meinen Vater dabei, wie er mit meiner Mutter sprach, als sei sie noch an seiner Seite. Es war wohl seine Art, Abschied von ihr zu nehmen.
Aber auch dieser Kummer legte sich irgendwann wieder. Vater konnte wieder in seine Kanzlei gehen und schien sich langsam von dem schweren Verlust zu erholen. So wie früher wurde er aber nie wieder. Er hatte meine Mutter vergöttert.
Und auch ich kam schließlich in ein Alter, in dem andere Sachen viel viel wichtiger wurden.
Umso überraschter war ich, als mein Vater mir eines Tages mitteilte, er wolle mit mir nach Deutschland reisen. Entgeistert sah ich ihn an.
Da mein Vater vom Scheitel bis zur Sohle Engländer war, hatte ich nie damit gerechnet, dass er das einmal tun würde. Schließlich war es eine beschwerliche Reise, und nichts war ihm heiliger als sein Komfort.
Ich dachte also immer, ich müsste warten, bis ich selbst verheiratet sein würde und mit meinem Ehemann dorthin fahren könnte.
„Wie meinst du das?“
Seelenruhig sagte er über seine Teetasse hinweg: „Ich will mit dir nach Freiburg fahren, damit du die Heimat und auch die Verwandten deiner Mutter kennenlernst.“
Ich stellte meine Teetasse so heftig ab, dass sie fast zerbrochen wäre. „Ist das dein Ernst?“, brachte ich nur heraus.
„Mein vollster Ernst. Du sollst die Heimat deiner Mutter kennenlernen, ehe du heiratest.“
Ich sah ihn noch einen weiteren Moment lang überrascht an und stieß dann einen lauten Schrei aus, sprang auf, lief um den Tisch herum und drückte ihn ganz fest an mich. „Womit habe ich das denn nur verdient? Niemals hätte ich gedacht, dass du so etwas machen würdest!“
Dabei sah ich ganz genau, dass ihm eine Träne aus dem Auge kullerte.
Er tat es auch für sich. Erst später sollte ich das erkennen.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen vor Aufregung. Und erst da fiel mir der Nebensatz meines Vaters auf: ehe du heiratest.
Was hatte er damit gemeint? Wie konnte ich denn in meinem Alter schon ans Heiraten denken? Das würde noch ein paar Jahre dauern, und schließlich gab es absolut niemanden in meiner Umgebung, der dafür infrage gekommen wäre.
Also tat ich es schließlich als nur dahingesagt ab und begann mir den Aufenthalt in Freiburg vorzustellen. Meine Mutter hatte mir so viel von der Stadt an dem Fluss Dreisam und ihrer Umgebung erzählt, dass ich glaubte, mich sofort dort heimisch fühlen zu können. Am meisten interessierte mich die uralte Burg der Zähringer. Irgendwann schlief ich dann schließlich ein und träumte davon, wie ich glücklich durch diese alte Stadt lief.
Natürlich würde ich auch endlich meine Tante und ihren Mann kennenlernen. Viele Verwandte gab es wohl nicht mehr, in den Briefen schrieb meine Tante immer wieder von Todesfällen. Meine Mutter und ihre Schwester hatten sich Zeit ihres Lebens sehr nahegestanden. Leider war das die letzten Jahre nur noch brieflich möglich gewesen, aber das hatte ihrer engen Bindung keinen Abbruch getan, und so wussten sie immer voneinander Bescheid.
Tante Sabinelotte schien es kaum erwarten zu können, das einzige Kind ihrer geliebten Schwester in die Arme zu schließen.
Mit den wenigen Verwandten meines Vaters konnte ich nie warm werden. Er selbst hielt sich auch von ihnen fern und besuchte sie nur, wenn es sein musste. Sie lebten in Wales, waren sehr nationalistisch und konnten meinem Vater nicht verzeihen, dass er eine Ausländerin und keine waschechte Waliserin geheiratet hatte. Und so kam es dann, dass sie von mir, der Tochter dieser Ausländerin, auch nichts wissen wollten. Meinen Vater hatte das anfangs sehr verletzt. Es gab lange Zeit keinen Kontakt zwischen ihnen, bis sie sich dann doch wieder bei ihm meldeten. Von da an besuchte er sie zwar ab und zu, aber ich blieb weiterhin außen vor. Ich hatte das lange nicht verstanden, irgendwann jedoch als gegeben akzeptiert.
Meine Mutter hatte das alles nicht berührt. Sie machte sich darüber keinerlei Gedanken. Es war ihr nicht wichtig gewesen, die Anerkennung der Familie meines Vaters zu bekommen. Im Ort hatte sie ein paar Freundschaften zu Frauen in ihrem Alter geknüpft, und in einem Nachbarort besuchte sie öfter eine Frau, die auch aus Deutschland kam. Mit ihr konnte sie in ihrer Muttersprache über die Ereignisse in Deutschland reden, und von diesen Besuchen kam sie immer bestens gelaunt zurück. Manchmal hatte sie mich mitgenommen. Ich mochte diese Frau auch sehr gerne, aber wenn sie sich dann über den deutschen Kaiser oder politische Vorkommnisse in Deutschland unterhielten, langweilte ich mich. Deshalb ging ich irgendwann nicht mehr mit. Ich glaube, meiner Mutter und ihrer Freundin war das auch recht so.
Auf der Beerdigung musste Tante Rose, wie ich sie nannte, so sehr weinen, dass sie gestützt werden musste. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag sollte die Reise nach Deutschland losgehen. Es musste so viel geregelt und organisiert werden, dass ich schon gar nicht mehr an eine Abreise glaubte.
Meine wenigen Freundinnen, die mir noch aus der Schule geblieben waren, beneideten mich natürlich glühend. Immer wieder wollten sie alles über die Reise und Freiburg wissen. Ich glaube, sie wären am liebsten alle mitgekommen.
„Wir werden unser Leben lang nicht aus England herauskommen“, sagten sie immer wieder mit dem größten Bedauern.
„Du wirst bestimmt deinen zukünftigen Ehemann dort kennenlernen“, flüsterte Vicky, meine beste Freundin, mir immer wieder zu.
Ich lachte sie dafür allerdings nur aus. An Heirat und Ehe dachte ich damals ganz bestimmt nicht. Ich hatte nur die Reise im Kopf und das, was ich dort wohl erleben würde. Später erst habe ich ab und zu an Vickys Worte gedacht.
Für meinen Vater war die bevorstehende Reise eine willkommene Ablenkung von seinem Kummer. Ich glaube, er hoffte, sich Mutter an ihrem Heimatort wieder näher fühlen zu können, denn er konnte sie einfach nicht vergessen. Zudem hatte er sich in Freiburg sehr wohlgefühlt und auch Tante Sabinelotte in sein Herz geschlossen.
Heute kommt es mir seltsam vor. Meine Freundinnen hatten damals nur ein Thema: wen sie wohl heiraten würden, wie viele Kinder sie haben würden und wo sie leben wollten.
Mir war nichts fremder als das. Zwar hatte mir auch der eine oder andere Junge in unserer Schule gefallen, aber das waren flüchtige Gefühle, die keinerlei Spuren hinterlassen hatten.
Vicky und die anderen Mädchen waren da ganz anders. Jede von ihnen hatte genaue Vorstellungen, wen sie zu ehelichen gedachte, auch wenn der betreffende Junge davon noch gar nichts wusste. Ihr Weg lag klar und eindeutig vor ihnen.
Das war bei mir nicht der Fall. Ich dachte nur an die Reise und dass ich meine Tante endlich kennenlernen würde. Nie habe ich mir auch nur einen Gedanken darum gemacht, was sein würde, wenn wir von dieser Reise wieder zurückkehren würden. Vielleicht hätte ich das tun sollen, denn vielleicht hätte ich diese Reise dann gar nicht angetreten, sondern darauf gewartet, sie mit meinem zukünftigen Ehemann zusammen zu machen.
Später sollte ich ab und zu daran zurückdenken. Hätte es etwas geändert?