Читать книгу Das Schloss am Moor - Sylvia Weill - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеSo war dann irgendwann im Frühling alles geregelt. Mein Vater war in seiner Kanzlei beurlaubt, alle nötigen Papiere waren beisammen und unsere Sachen gepackt. Der Abreisetag rückte endlich näher.
Einen Tag vorher ging ich noch auf den Friedhof, um das Grab meiner Mutter zu besuchen. Das tat ich nicht sehr oft, mein Vater ging viel häufiger hin und hielt Zwiesprache mit ihr, aber ich wollte mich von ihr verabschieden. Als hätte ich gewusst, dass ich sehr lange nicht mehr an ihr Grab kommen könnte.
Ich erzählte ihr, wie sehr ich mich auf Freiburg freute und bat sie um ihren Segen für die Reise.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie sich freute und mich an mein Versprechen auf dem Totenbett erinnerte, Tante Sabinelotte Grüße von ihr auszurichten.
Ich legte den kleinen Blumenstrauß, den ich für sie gekauft hatte, auf das Grab und murmelte ein paar letzte Worte. Dabei musste ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Sie war einfach viel zu früh von uns gegangen, und wie gerne hätte ich diese Reise mit ihr und meinem Vater zusammen gemacht.
Die Überfahrt über den Kanal war alles andere als lustig.
Da ich noch nie mit einem Schiff gefahren bin, hatte ich mir das alles ganz romantisch und anheimelnd vorgestellt.
Wir hatten eine sehr einfache Kabine mit zwei Pritschen gebucht, auf denen schmuddelige Decken lagen. Dort verstauten wir unsere Sachen und gingen sofort wieder an Deck, um uns von England gebührend zu verabschieden.
Die Sonne schien, und wir winkten den zurückbleibenden Menschen auf dem Kai zu, die Verwandte oder Freunde zu der Fähre gebracht hatten.
Ich konnte es kaum erwarten, bis das Schiff endlich auslief. Ganz langsam setzte es sich in Bewegung, und immer wieder war die Schiffssirene zu hören.
Ich erschrak, als ich bemerkte, wie leichenblass mein Vater neben mir stand und sich an die Reling krallte. „Vater, was ist denn mit dir?“, fragte ich ihn beunruhigt.
Er lächelte. „Ach, ich glaube, ich bin jetzt schon seekrank. Kümmere dich nicht weiter um mich.“
Ich sah ihn zweifelnd an, aber dann überwog die Neugier, und ich widmete mich wieder der Zeremonie des Auslaufens. Die Fähre war schwerfällig, und es dauerte sehr lange, bis sie endlich auf der glatten See ihre Fahrt aufnehmen konnte.
Neben mir stand ein Mädchen mit ihren Eltern, das wohl ungefähr so alt war wie ich. Sie war auch das erste Mal auf einem Schiff, hatte sie mir erzählt. Abwechselnd wiesen wir uns auf dies und jenes hin, wir waren beide begeistert und bekamen ansonsten nicht mehr viel mit.
Ich lief mit meiner neuen Freundin über das Deck. Während mein Vater sich in einen der bereitstehenden Liegestühle gelegt hatte, um sich zu sonnen, erkundeten wir die Fähre. Als es dunkel wurde, gingen wir unter Deck, um etwas zu essen.
Ich hatte großen Hunger und aß die bescheidene Mahlzeit mit großem Appetit. Mein Vater rührte jedoch nicht viel an. Das war wohl der Seekrankheit geschuldet.
Nach dem Essen gingen wir in unsere Kajüte. Zuerst hatte ich befürchtet, dass ich auf den unbequemen Pritschen nicht würde schlafen können, aber ich schlief sofort ein, kaum dass ich die Decke über mich gezogen hatte.
Nachts wachte ich durch einen ohrenbetäubenden Donner auf. Es klang, als hätte der kurz darauffolgende Blitz direkt in das Schiff eingeschlagen. Ich war zuerst verwirrt, weil ich aus einem tiefen Traum hochgeschreckt war. Erst als ich meinen Vater auf seiner Pritsche sitzen sah, fiel mir wieder ein, wo wir waren.
Das Schiff schaukelte gewaltig, und ich musste mich ein ums andere Mal an der Pritsche festhalten, um nicht herunterzufallen.
Mein armer Vater war ganz grün im Gesicht und sagte immer wieder leise vor sich hin: „Ich hab’s gewusst. Ich hab’s gewusst. Genau wie damals, als ich das erste Mal über diesen verdammten Kanal gefahren bin.“
Mir wurde übel. Ich wollte hoch an die Reling rennen, aber mein Vater hielt mich zurück. „Bleib hier, die lassen niemanden hoch. Zu gefährlich.“
Also musste ich mit dem Eimer vorliebnehmen, der eigentlich als Nachtgeschirr dienen sollte.
Diese Nacht sollte ich so schnell nicht vergessen. Ich dachte, sie nimmt niemals ein Ende, und ich würde mir die Seele aus dem Leib erbrechen.
Mein armer Vater hingegen hielt sich tapfer, aber auch er litt sehr. Erst gegen Morgen ließ das Gewitter nach, und der Seegang wurde ruhiger. Endlich konnten wir einschlafen, auch wenn an ruhigen Schlaf nicht zu denken war.
Diese erste Nacht auf einem Schiff hatte mir die Lust auf Seereisen ein für alle Mal verdorben. Ein romantisches Flair hatte das bestimmt nicht und essen konnte ich auch nicht mehr viel.
Als wir endlich in Bremerhaven ankamen, konnte ich es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich verabschiedete mich von meiner neu gewonnenen Freundin, die mit ihrer Familie weiter nach Berlin reiste.
Einen Blick zurück auf die Fähre warf ich nicht mehr. In diesem Moment war ich fest entschlossen, nie wieder ein Schiff zu betreten.
Was mir in Bremerhaven zuerst auffiel, war, dass plötzlich alle deutsch sprachen. Ich hatte zwar Mühe damit, denn das Deutsch, das ich beherrschte, war das aus Freiburg, einem Ort, der viele hundert Meilen weiter südlich lag. Aber ich konnte es doch im Großen und Ganzen verstehen und atmete auf. Endlich war ich im Heimatland meiner Mutter, das dadurch ja auch in gewisser Weise mein Heimatland war.
Ich wusste, dass von nun an ich die Führung übernehmen musste, da mein Vater mit der Sprache auf Kriegsfuß stand. Zwar verstand er wohl das meiste, konnte aber kaum deutsch sprechen.
Ich tat es gerne, gerade weil ich bemerkte, dass er immer noch angeschlagen von der Überfahrt war. Er war schmal im Gesicht und hatte eine ungesunde Hautfarbe. Außerdem sagte er kaum etwas. Mir hingegen war es direkt wieder gut gegangen, kaum dass wir an Land waren.
Wir übernachteten in einer kleinen Pension direkt am Hafen von Bremerhaven, worüber mein Vater sehr erleichtert war. Er fühlte sich wirklich nicht wohl.
Meine Mutter hatte mir viel von den typisch deutschen Lokalen erzählt. Nun saßen wir in so einem, an einfachen Tischen und Stühlen zwischen holzgetäfelten Wänden, und das in einer ziemlichen Lautstärke, denn das Lokal war voll besetzt.
Gegessen wurde deftig. Aber ich hatte so einen Hunger, dass ich eh fast alles gegessen hätte. Die deutsche Küche kannte ich zudem auch. Mutter hatte ab und zu Gerichte aus ihrer Heimat gekocht, wenn sie Lust dazu hatte und die Zutaten bekam. Mir hatte es immer geschmeckt. So ein Riesenunterschied zur englischen Küche machte es für mich nicht.
Ich konnte ja noch nicht wissen, dass die Gastronomie im Süden Deutschlands, unserem Reiseziel, noch typischer war als hier.
Nach einer Nacht, in der ich sehr gut schlief, machten wir uns dann auf den Weg gen Süden. Wir würden mehrere Tage unterwegs sein, vielleicht noch einmal mit einem Schiff auf dem Rhein, aber das wusste ich noch nicht genau.
Es war alles neu, und ich sog es in mich auf wie die Luft zum Atmen. Wo ich konnte, sprach ich mit anderen Reisenden und fragte sie Löcher in den Bauch. Ich wollte alles wissen, aber auch wirklich alles. Die meisten gaben mir bereitwillig Auskunft, waren wahrscheinlich froh für die Abwechslung auf der doch eher eintönigen Reise.
Zum Glück fuhr auch hier schon längere Zeit die Eisenbahn, sonst wären wir wahrscheinlich Wochen unterwegs gewesen. Aber wir mussten oft umsteigen und immer wieder irgendwo übernachten, weil die Anschlüsse so schwierig waren.
Vom Zug aus konnte ich den Rhein sehen, den sagenumwobenen Fluss der Nibelungen. Ich fragte Vater, ob wir den Ort schon passiert hätten, an dem die Nibelungen gewohnt hatten, aber er wusste es nicht. Er wusste nur, dass wir in Mainz, der alten Bischofsstadt, auf ein Schiff umsteigen mussten, und irgendwo in der Nähe lägen Worms und Speyer, wo die Nibelungen herkamen.
In Mainz angekommen, wollte Vater sich ausruhen, ehe es dann weiterging. Ich bummelte also alleine durch die alte Stadt, bewunderte die Fachwerkhäuser und stellte mir vor, dass es in Freiburg auch so aussehen würde. Wovon ich restlos begeistert war, war mein Besuch in dem uralten romanischen Dom. Dort blieb ich lange sitzen, atmete den leichten Geruch nach Weihrauch ein und dachte an meine Mutter.
In der Umgebung der Stadt sah ich auch die ersten Weinberge, die mich jetzt bis Freiburg begleiten würden, das wusste ich. Unser Prinzgemahl Albert hatte die Sitte eingeführt, deutschen Wein zum Essen zu trinken. Da ich mich schon fast als Deutsche fühlte, war ich richtig stolz. Ich hätte gerne die Stadt Coburg gesehen, aus der er kam, aber mein Vater erklärte mir, dass sie sehr weit weg in einer ganz anderen Gegend läge.
Die Schiffspassage auf dem Main dauerte nicht lange. Innerhalb eines Tages waren wir in Frankfurt, und im Gegensatz zu der Passage des stürmischen Kanals merkten wir davon so gut wie nichts. Ich war sogar auf dem Deck eingeschlafen. Es hieß, dass Mainz der Rheinhafen von Frankfurt sei, und man sagte scherzhaft in beiden Städten: Frankfurt und Mainz sind eins. Darüber schmunzelte ich, obwohl ich es nicht ganz verstand. Im Deutschen reimt es sich.
Schon als wir die Stadt langsam ansteuerten, begriff ich, warum es sich um eine der bedeutendsten Städte Deutschlands handelte. Alles sah großzügig, weltoffen und stolz aus.
Wir würden ein paar Tage bleiben. In Frankfurt fand gerade eine Messe statt, und es war geplant, dass Vater sich mit ein paar Bekannten traf, die geschäftlich dort waren.
Am alten Zeughaus stiegen wir aus.
Man hatte für uns in der Nähe des Römers, dem Rathaus der Stadt, ein Zimmer in einem der besseren Hotels vorbestellt, und zu meiner Freude stellte ich fest, dass wir dort mitten in der Stadt wohnten.
Die Betten waren sehr hart, aber vor allen Dingen sauber. Vater legte sich sofort hin und war auch schon im nächsten Moment eingeschlafen, obwohl von draußen das geschäftige Treiben der Stadt zu hören war.
Ich nahm erst einmal ein ausgiebiges Bad, das man mir gerne zubereitete. So schmutzig wie auf dieser Reise hatte ich mich in meinem Leben noch nie gefühlt.
Vater fühlte sich etwas besser, und so gingen wir am Abend hinaus und besuchten ein Lokal, das Zum Steinernen Haus hieß und ganz nah am Römer lag. Es hatte große Butzenscheibenfenster mit bunten Glasmalereien darin.
Hier trafen wir auf zwei von Vaters Geschäftsfreunden, die sich sehr freuten, uns zu sehen. Natürlich sprachen sie gleich englisch miteinander.
Da ich mich am Gespräch nicht beteiligen konnte, blieb mir nur, mich umzusehen und an meinem Apfelwein zu nippen, dem Frankfurter Nationalgetränk. Für ungewohnte Gaumen, wie es der unsrige nun einmal war, schmeckt er zunächst sauer und wenig delikat. Aber nach ein paar Schlucken wurde er richtig gut und entfaltete sein Apfelaroma. In das erste Glas hatte ich mir etwas Wasser geben lassen. Den Rat hatte mir Mutter irgendwann einmal gegeben.
Sie war sehr angetan von der Stadt gewesen und hatte mir auch einiges über ihre Geschichte erzählt, unter anderem, dass hier fast alle Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation gekrönt worden waren. Den Krönungsweg wollte ich mir am nächsten Tag unbedingt anschauen. Auch Goethe war hier geboren worden, über dessen Werk wir in England viel gehört hatten und der erst vor ein paar Jahren gestorben war. Er lebte aber schon als junger Mann in Weimar.
Als das Essen kam, staunte ich. Wir hatten alle das Frankfurter Nationalgericht Grüne Soße bestellt. Ich wusste erst nicht, was das war und sah Eier in einer dicken, wirklich intensiv grünen Soße mit Kartoffeln auf meinem Teller. Eier und Soße waren kalt. Man klärte uns auf, dass die Grüne Soße aus sieben Kräutern bestand und tatsächlich kalt serviert wurde. Das Essen schmeckte köstlich, und der Apfelwein passte perfekt dazu. Nach dem zweiten Glas war ich davon allerdings beschwipst, und Vater bestellte nur noch süßen Most für mich.
Manche Gäste hatten Sauerkraut bestellt. Davon hatte Mutter immer geschwärmt, aber in England gab es das leider nicht. Das wollte ich in den nächsten Tagen unbedingt probieren, ebenso wie das Bier, das ich auf manchen Tischen sah, obwohl die meisten hier Krüge mit Apfelwein vor sich stehen hatten.
Die Atmosphäre des Steinernen Hauses nahm mich gefangen. Auch hier waren die Wände holzverkleidet und die Tische, Bänke und Stühle waren aus demselben Holz. Die Menschen waren fröhlich und laut. Manche rauchten Pfeife. Da ich den Geruch mochte, atmete ich immer wieder tief ein. Die Bedienungen hatten Schürzen vorgebunden und trugen eng geschnürte Leibchen. Die meisten hatten die Haare zu Zöpfen gebunden.
Ich konnte mich gar nicht sattsehen.
Abends fiel ich erschöpft, aber glücklich ins Bett und schlief sofort ein.
Nachts wachte ich einmal auf und hörte den tiefen, vollen Stundenschlag der Glocke, die vom Dom her bis zu uns herüberklang. Das fand ich so heimelig, dass ich gleich wieder einschlief.
Am nächsten Tag war Vater verabredet und würde die restlichen Bekannten aus England treffen. Er ließ mich ungern allein und schärfte mir ein, mich nur in der Innenstadt umzusehen und keinesfalls in menschenleeren Straßen oder den Außenbezirken aufzuhalten. Mittags wollten wir uns zu einem Essen wieder im Steinernen Haus treffen.
Ich konnte es kaum erwarten, auf Entdeckungstour zu gehen.
Der Römer, das Frankfurter Rathaus, befand sich in der Nähe und war mein erstes Ziel. Ich bewunderte den mittelalterlichen Platz mit dem alten Brunnen und ging dann die wenigen Schritte des Krönungswegs bis zum Dom, in dem der Erzbischof von Mainz die Kaiser gekrönt hatte. Was musste das für ein Pomp gewesen sein? Ich hätte es gerne miterlebt. Ob meine Mutter auch hier entlanggelaufen war?
Der Dom gefiel mir auch gut, aber den Mainzer Dom fand ich viel imposanter.
Um den Dom herum standen lauter kleine Verkaufsstände. Sie wurden Schirne genannt. Dort schlenderte ich herum und kaufte mir an einem der Stände ein paar bunte Haarbänder.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Da ich hier niemanden kannte, gab ich erst nichts darauf, doch dann drehte ich mich doch um.
In einiger Entfernung stand ein junger Mann, der mich anstarrte. Als ich mich ihm zuwandte, kramte er sofort in den Auslagen der Schirn, vor der er stand, und begann ein Verkaufsgespräch.
Ich war kurz irritiert, aber dann ging ich zum Steinernen Haus, da es bereits Essenszeit war.
Vater nahm mich kaum wahr, er wirkte etwas nachdenklich und konnte sich auch an dem Gespräch mit seinen Geschäftspartnern gar nicht richtig beteiligen.
Am Nachmittag schlenderte ich durch die Altstadt, spielte mit einem kleinen Kind Ball und setzte mich an einen Brunnen, um auszuruhen.
Kurz glaubte ich, den jungen Mann vom Vormittag an einem Haus stehen zu sehen. Als ich genauer hinsah, bog er jedoch schnell um die Ecke. So konnte ich ihn wieder nicht genau ansehen.
Auch jetzt kümmerte ich mich nicht weiter darum. Also beschloss ich noch, an den Main zu gehen und dort ein wenig zu flanieren. Da die Sonne schien und viele Menschen wohl denselben Gedanken gehabt hatten, bestand für mich keine Gefahr, und ich konnte mich nah am Wasser auf eine Bank setzen und nach Sachsenhausen hinüberblicken, dem allerersten Ortskern von Frankfurt. Da, wo ich jetzt auf der Bank saß, war früher ein ausgedehntes Moor gewesen, das erst mit den Jahren mühevoll trockengelegt werden musste.
Die wenigen Tage in Frankfurt gingen viel zu schnell vorbei. Das fand auch Vater und nahm sich vor, auf der Rückreise hier wieder Station zu machen.
Von dem neuen Hauptbahnhof, der etwas außerhalb der Stadt lag, und mir sehr groß vorkam, fuhren wir dann weiter in Richtung Freiburg. Ich hatte auch langsam genug von fahrenden Zügen, Umsteigen und Nächten in schlechten Pensionen.
Meinem Vater schien es auch so zu gehen, obwohl er sich nicht beklagte. Es kam mir nur so vor, als würde er immer schmaler werden. Ich schrieb es den Reisestrapazen zu und sah ihn unter Tante Sabinelottes fürsorglicher Gastfreundschaft wieder aufblühen.