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4. Kapitel

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In den nächsten Tagen wollte ich unbedingt Freiburg erkunden. Eigentlich hatte ich gedacht, mich alleine auf den Weg zu machen.

„Das kommt überhaupt nicht infrage. Friedrich wird dir alles zeigen. Er hat gerade Schulferien. Du bist viel zu hübsch, um alleine loszuziehen. Das wäre ja noch schöner.“ Tante Sabinelotte verdrehte die Augen und ließ keinerlei Widerspruch zu. Also fügte ich mich, und bestimmt war Friedrich kein schlechter Stadtführer.

Mein Vater meinte, er würde ja schon alles kennen und bliebe deshalb lieber zu Hause. Er wolle sich in den Garten setzen und den Hühnern zuschauen. Darüber musste ich lachen, und schon zog mich Friedrich nach draußen.

Wir betraten die Stadt durch ein altes Tor in der Stadtmauer, das Martinstor. Gleich dahinter kamen wir in die mittelalterliche Stadt, wo ich gleich die Bächchen zu sehen bekam, die es so in keiner anderen Stadt gibt und von denen Mutter mir so viel erzählt hatte.

„Die gibt es schon seit dem Mittelalter“, klärte mich Friedrich auf. „Aber trinken konnte man daraus nie. Die sollten den Müll wegschaffen.“

Staunend sah ich ihn an, denn ich sah nur glasklares Wasser.

Er lachte. „Heute ist es strafbar, da was reinzuwerfen. Aber trinken würde ich trotzdem nicht daraus. Den Hunden kannst du schließlich nicht verbieten, reinzupinkeln oder draus zu trinken.“

Jetzt musste ich lachen. „Verstehe.“

Sollte ich aber Durst bekommen, könne ich aus einem der Brunnen trinken, an denen Kästen mit hübschen roten Geranien hingen, und die auf jedem kleinen Platz standen.

So durchstreiften wir die engen Gassen, mussten immer wieder über Bächchen steigen, und meine Faszination verringerte sich nicht.

Friedrich konnte mir viel Interessantes erzählen, zum Beispiel über den Platz, auf dem in Deutschland die letzte Hexe verbrannt worden war.

Natürlich statteten wir auch der Schmiede von Onkel Hans einen Besuch ab. Man hörte schon von Weitem das Hämmern auf den Amboss, und die Esse rauchte. Vor dem Tor warteten einige Menschen mit ihren Pferden, damit diese neu beschlagen werden konnten.

Drinnen herrschte emsige Betriebsamkeit. Onkel Hans rieb sich mit dem Arm über das verdreckte und schwitzige Gesicht, lachte uns zu und arbeitete dann konzentriert weiter.

Friedrich begrüßte den einen oder anderen Gesellen, aber da wir hier nichts weiter ausrichten konnten, setzten wir unseren Streifzug fort.

Dann waren wir am Herzschlag von Freiburg angekommen. Hier, auf dem Platz vor dem Münster, hatten sich meine Eltern kennengelernt.

Ich hielt den Atem an. Andächtig sah ich an den Türmen der Kirche hinauf. Friedrich wusste zu erzählen, dass man dieses Gotteshaus zunächst im romanischen Stil errichten wollte, dann jedoch im gotischen Stil beendet hatte. Das sah man. Noch nie hatte ich eine so elegante Kirche gesehen. Was mir besonders auffiel, waren die Tierfiguren am Dach, die den Regen ableiten sollten. Jede sah anders aus.

Um das Gotteshaus herum standen ein paar Marktstände.

„Können wir reingehen?“, fragte ich Friedrich.

„Sicher, wenn gerade kein Gottesdienst ist.“

Dem war nicht so, und so betraten wir das Innere des Münsters.

Gleich nahm mich eine andächtige Atmosphäre gefangen. Wir spazierten umher, und ich musste alles genau ansehen. Geduldig begleitete Friedrich mich, obwohl er mir hier nicht mehr sehr viel berichten konnte. Es hatte ihn nie interessiert. Mich dagegen schon. Zum Schluss bat ich ihn, draußen auf mich zu warten.

Ich setzte mich in eine der Kirchenbänke und faltete meine Hände. Dabei stellte ich mir vor, wie oft wohl meine Mutter auch hier gesessen hatte. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Wie gerne hätte ich diese Reise mit ihr gemacht, und wie gerne hätte ich mir von ihr alles zeigen lassen! Die geheimen Orte ihrer Kindheit, die Plätze, wo sie sich später mit ihren Freundinnen getroffen hatte, und besonders den, an dem mein Vater sie angesprochen hatte. Ich nahm mir vor, mit meiner Tante darüber zu reden.

Friedrich wartete vor dem Eingang und sprach mit einem gleichaltrigen Jungen, als ich herauskam. Er stellte mich gleich als seine Cousine vor. Das tat er mit stolzgeschwellter Brust, wie ich belustigt bemerkte.

Ich registrierte die schüchternen, bewundernden Blicke seines Freundes und musste daran denken, wie wenig ich mir über meine Wirkung auf Männer Gedanken machte. Sah ich denn so gut aus? Ob ich darüber mit Luise reden konnte, die ja ungefähr in meinem Alter war?

Etwas verunsichert lief ich hinter Friedrich her, vergaß die Episode aber auch schnell wieder.

Wie sehr habe ich mich damals gleich in die Stadt verliebt! War es, weil es der Geburtsort meiner Mutter war oder wäre das auch passiert, wenn ich nur zufällig hierhergekommen wäre? Ich wusste es nicht. Jedenfalls kam mir fast alles irgendwie vertraut vor, das alte Rathaus, die Fischerau, das alte Kaufhaus und so viele andere Ecken.

Als wir gegen Abend nach Hause kamen, fand ich meinen Vater auf dem Bett liegend vor. Wieder hatte ich den Eindruck, dass es ihm nicht gut ging. Er wirkte geschwächt.

Aber ich war so voller neuer Eindrücke, dass ich sie ihm sofort erzählen musste. Natürlich hörte er mir wie immer geduldig zu und hinterfragte das eine oder andere. Als ich meine Mutter erwähnte, sah ich die Traurigkeit in seinen Augen. Da musste ich ihn einfach umarmen und küssen.

„Wie hast du den Tag verbracht?“, wollte ich wissen.

Er lachte. „Oh, ich saß unter den Bäumen, habe mich mit den Hühnern angefreundet, und, na ja, Tante Sabinelotte hat mich derart gut bewirtet, dass ich wohl nie wieder etwas essen kann.“

Wir lachten beide herzlich.

Nach dem Abendessen ging die ganze Familie in den Garten. Es war warm genug, um noch dort zu sitzen.

Dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, und was ich so auch noch nicht kannte. Es fanden sich immer mehr Leute aus der Nachbarschaft ein, die alle durch eine Pforte im Gartenzaun kamen. Sie setzten sich einfach auf einen freien Platz und begannen miteinander zu plaudern, so als hätten sie das schon hundert Jahre lang getan. Mein Vater und ich wurden freundlich begrüßt, und dann wurde weitergeredet. Ein alter Mann hatte seine Mundharmonika dabei und spielte immer wieder selbstvergessen eine Melodie.

Vater und ich sahen uns nur an, und in seinem Blick bemerkte ich das selbe Erstaunen über diese nachbarschaftliche Vertrautheit.

Der Mittelpunkt dieser abendlichen Versammlung war natürlich Tante Sabinelotte. Das konnte man zwar von außen sicherlich nicht gleich bemerken, aber wenn man sie nur ein wenig kannte, wusste man es gleich. Ohne sie würden sich die Nachbarn hier nicht so selbstverständlich treffen. Später verriet mir meine Tante, dass es diese abendlichen Treffen schon in ihrer Kindheit gegeben habe und dass damals ihre Mutter der Mittelpunkt gewesen war. Meine Mutter habe selbstverständlich auch daran teilgenommen. Lange Zeit habe man sie sehr vermisst. Natürlich habe es in diesem Kreis auch Streit gegeben. Die Nachbarsfrau hatte mit ihrer Mutter zwanzig Jahre lang nicht gesprochen, weil sie sich im Kirchenstuhl um ein Gesangbuch gestritten hatten. „Und dann habe ich es doch geschafft, sie wieder zu versöhnen, die alten Nebelkrähen“. Dabei mussten wir dann ganz herzlich lachen.

Tante Sabinelotte war verschwunden und kam mit einem Tablett voller alter Tassen zurück, in denen heiße Milch mit Zucker oder Honig war. „Damit wir alle sehr gut schlafen können“, sagte sie einladend. Jeder bekam eine, und bald nippte ein jeder an seiner Milch, während weiter die Neuigkeiten und der Klatsch des Tages ausgetauscht wurden.

Friedrich hatte sich zu mir gesetzt, und so konnten wir noch einmal über die Erlebnisse des Tages reden. Luise war sehr schnell wieder aus der Runde verschwunden.

Die Sonne ging unter, und viele von uns legten sich einen Schal oder eine Jacke über, denn es wurde ein wenig kühler.

Ich sah die ersten Glühwürmchen meines Lebens und war begeistert. Im Garten zirpten Grillen und von dem nahen Teich her konnte man Frösche quaken hören. Über unseren Köpfen flogen immer wieder Fledermäuse oder Schwalben.

Dieser Abend hätte nie vorübergehen sollen. Aber bald verabschiedeten sich die Nachbarn genauso unaufgeregt, wie sie gekommen waren. Der alte Musikante, wie er nur genannt wurde, hatte den ganzen Abend kein Wort gesagt, nahm seine Mundharmonika und ging den anderen hinterher.

Ich schlief sehr gut in dieser Nacht.

Im Verlauf der nächsten Tage bat ich Friedrich immer wieder, mit mir durch die Stadt zu streifen. Jedes Mal entdeckte ich neue Ecken, die mich manchmal sogar zu Freudenausrufen animierten.

Der Markt vor dem Münster faszinierte mich. Alles wollte ich von Friedrich erklärt haben, und als ich einen Stand für Modewaren sah, musste ich mir einfach noch weitere bunte Haarbänder kaufen, die von Friedrich fröhlich kommentiert wurden.

„Merkst du eigentlich, wie dich die anderen jungen Kerle anschauen?“, fragte er mich, während wir den Markt verließen.

„Was meinst du?“ Erstaunt sah ich ihn an.

„Na, was glaubst du denn, warum meine Mutter dich niemals allein würde losziehen lassen?“

„Wohl, weil ich so schön bin“, scherzte ich und lachte laut.

Er fiel in mein Lachen ein. „Ja, das wird es wohl sein.“

Ich umarmte ihn liebevoll, und wir zogen weiter.

Am Nachmittag erreichten wir einen kleinen Platz. Nicht weit entfernt konnte ich eine lange Mauer erkennen.

„Was ist dahinten?“

„Wo?“

„Na da, hinter der Mauer!“

„Och, das ist der alte Friedhof. Da wirst du ja wohl nicht hinwollen.“

„Natürlich will ich. Ich liebe alte Friedhöfe.“

„Nicht dein Ernst! Ich hasse es, auf Friedhöfe zu gehen.“

„Dann gehe ich allein. Du kannst ja hier auf mich warten. Wird mich schon niemand entführen.“

Er setzte sich auf die Bank an dem kleinen Brunnen. Genau gegenüber befand sich der Eingang zum Friedhof.

„Also, bis gleich“, rief ich und rannte auf den Eingang zu. Was sollte mir hier schon groß passieren, außer dass Geister aus den Gräbern stiegen und mich foppten?

Die Atmosphäre nahm mich sofort gefangen. Der Friedhof war nicht so groß, wie ich es von außen vermutet hatte, und damals wohl als Begräbnisstätte aufgegeben worden. Alles wirkte ein wenig verwahrlost, als hätte die meisten Gräber sehr lange niemand mehr besucht. Auch in der kleinen Kapelle schienen schon eine Weile keine Beerdigungen mehr stattgefunden zu haben.

Ich lief durch die Reihen der verwitterten und teilweise schiefen Grabsteine. Auf manchen konnte man noch etwas lesen. Einige trugen Symbole, die ich nicht kannte.

Überall machte sich Unkraut breit.

Auch hier zirpten Grillen um die Wette. Sie genossen wohl auch diesen wunderschönen Frühsommertag, und ihnen war es schließlich egal, an welchem Ort sie zirpten. Auch die Mücken schienen sich hier sehr wohlzufühlen. Immer wieder musste ich einem Schwarm ausweichen.

Unter einer großen Buche setzte ich mich einen Moment hin.

Erst jetzt fiel mir auf, dass kaum Leute hier waren. Ein altes Großmütterchen machte sich an einem Grab zu schaffen und beachtete ihre Umgebung nicht.

In einiger Entfernung sah ich einen jungen Mann vor einem Grab stehen. Im selben Moment sah er auch zu mir hinüber, richtete seinen Blick aber sofort wieder auf das Grab. Er schien ein Gebet zu sprechen.

Irgendwie fand ich das rührend, und als ich ihn mir so besah, hatte ich das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben.

Seltsam, dachte ich. Ich kannte in Freiburg außer meinen Verwandten niemanden. Aber vielleicht erinnerte er mich auch nur an jemanden aus England.

Mit diesem Gedanken stand ich auf und hatte ihn auch schon wieder vergessen. Da Friedrich bestimmt schon ungeduldig wurde, ging ich zum Ausgang, nahm mir aber fest vor, den Spaziergang hier zu wiederholen.

Mein blond gelockter Cousin unterhielt sich mit einem Mann, der bei ihm auf der Bank saß, und lachte mich an, als ich auf sie zukam.

„Na, das hat ja gedauert. Ich dachte schon, du hättest dich zu ihnen gelegt!“

Spielerisch gab ich ihm einen Klaps.

Er verabschiedete sich von seinem Bekannten, und wir spazierten weiter.

Das Schloss am Moor

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