Читать книгу Fettnäpfchenführer Ostfriesland - Sylvie Gühmann - Страница 12
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DAS PLATTELAND
… UND SEINE KLARE, DEUTLICHE UNDFÜR JEDERMANN VERSTÄNDLICHESPRACHE
Der Bürgermeister der Stadt Weener, Herr Werner Wolkenberg, hat zur Pressekonferenz einberufen. Seit einer halben Stunde sitzt Sonja deshalb in ihrem alten Golf. Und seit einer halben Stunde ist noch immer keine Kurve in Sicht. Aufregend ist das Autofahren in Ostfriesland nicht. Auf dem Weg zu ihrem ersten Termin fährt sie mitten durch die Natur, überall sind Felder. Zumindest kennt sie den Weg schon ein bisschen von ihrem Ausflug zur Bohrinsel.
Ein bisschen mehr Ablenkung wäre trotzdem nicht verkehrt. Sie drückt auf den Radioknopf. Sie möchte sich gut machen bei ihrem ersten Termin fürs Blattje. Gerade als Lokalreporterin muss sie mit den Leuten auskommen, das ist ihr klar. Ohne Menschen keine Geschichten. Sie fährt mit der rechten Hand über ihr linkes Schlüsselbein, wie immer, wenn sie aufgeregt ist. Um auf keinen Fall zu spät zu kommen, hat sie mehr Zeit eingeplant und ihren heiß geliebten Morgenkaffee weggelassen. Na ja, und auch weil die Kaffeemaschine noch eingepackt und ihr der Ausrutscher mit den Leerern nach wie vor peinlich ist. Lieber lässt sie noch ein wenig Zeit verstreichen, bevor sie den Laden wieder betritt. Dementsprechend ist sie zwar grimmig, kann dafür aber bei Morgenlicht die Jann-Berghaus-Brücke passieren. Zu ihrer rechten und linken Seite lässt die Sonne bereits die ersten Lichtreflexe durch die Wellen tauchen. Wie sie so über das Wasser fährt, merkt sie, wie sie langsam ein wenig ruhiger wird.
Nachdem sie noch reichlich Ackerland hinter sich gelassen hat, hält Sonja in Weener angekommen an. Die Kamera um den Hals, einen kleinen Notizblock in der Hand, macht sie sich auf den Weg. »Mach dir man nicht so einen Kopp, die Rheiderländer sind tiefenentspannt«, hat ihre Kollegin Grietje in der Redaktion noch gesagt. Sonja hingegen schien weniger entspannt ausgesehen zu haben, jedenfalls fügte die neue Kollegin nach einem Blick auf ihr Gesicht schnell ein »Tee?« hinzu. Doch dafür hatte sie leider keine Zeit mehr gehabt. Ein wenig neugierig ist sie mittlerweile schon, immerhin hat sie in der Redaktion nur wenige Kaffeetrinker getroffen.
Na ja, denkt Sonja jetzt, als sie an alten Backsteinhäusern vorbeiläuft, Grietje kommt auch aus dem Rheiderland. Da sorgt man sich bestimmt nicht darum, wie die Leute einen aufnehmen, immerhin kennt man die Gesichter schon sein ganzes Leben lang.
KLOOKSCHIETER: WEENER – KLEINOD IM TIEFSCHLAF
Weener liegt in der historischen Region Rheiderland ganz im Nordwesten Deutschlands und befindet sich linksseitig der Ems. Mit 15.500 Einwohnern ist es halb so groß wie Leer. Bedingt durch die Grenzlage sind 4,4 Prozent der Bewohner Niederländer. Der Alte Hafen in Weener ist mit seinen pittoresken Häuserzeilen ein echtes Kleinod und Zeugnis der einstigen wirtschaftlichen Bedeutung der Kleinstadt. Bier, Butter und Schnaps wurden von dort verschifft. Die ehemaligen Speicher, die mittelständigen Bürgerbauten und die Kleine-Leute-Häuser im Herzen der Stadt sind glücklicherweise gut erhalten geblieben. Heute dienen die Anlegestellen in Weener aber weitestgehend als Freizeithafen und sind beliebte Heimat verschiedenster Schiffe. So legen auch Traditionsschiffe an, die während der Saison sogar aus dem europäischen Ausland anreisen. Auch Sportbootfreunde kommen auf ihre Kosten: Mit 40.000 Quadratmetern ist der Sportboothafen ein kleines Paradies. Trotzdem hat die Stadt ihre Blütezeit hinter sich. Denn obgleich der Phoenix im Wappen der Stadt den Wiederaufstieg der Stadt nach dem Dreißigjährigen Krieg symbolisiert und der Bootstourismus ein wichtiges Standbein darstellt, ist die Innenstadt leer. Nur wenige Geschäfte sind dort noch zu finden.
Wo genau war das Rathaus noch, was hatte Grietje gesagt? Durch die Einbahnstraßen bei der Einfahrt in den Ortskern hat Sonja glatt die Orientierung verloren, ihr Internet muss sich mit Erreichen des Rheiderlands verabschiedet haben. Besser sie fragt nach, bevor sie am Ende doch zu spät kommt. Zum Glück kommt ihr eine ältere Dame entgegen. Sonja geht eilig auf sie zu. »Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wo ich das Rathaus finde? Ich komme nicht von hier, habe aber gleich einen wichtigen Termin und bin spät dran.«
Was dann folgt, ist beim besten Willen nicht zu verstehen. Mit offenem Mund schaut Sonja der Frau beim Reden zu, vernimmt die Laute, sieht und hört, wie die Dame ihr Auskunft gibt, und versteht doch kein Wort. »Löppt?«, schließt die Frau ihren Monolog, als sei alles klar.
Ein kurzer Moment verstreicht, bis Sonja bemerkt, dass es sich dabei um eine Frage gehandelt haben muss. Tapfer nickt sie: »Äh, ja, bestimmt.«
Immerhin hat die Frau zwischendurch gestikuliert, sodass sie zumindest die grobe Richtung erfahren hat. Sie fühlt sich wie der arme Postbote, der in der Komödie Willkommen bei den Sch’tis in den französischen Norden strafversetzt wird und den ersten Mann, der ihm dort begegnet, fragt, ob ihn sein Kiefer schmerze. Nur, dass das hier keine Komödie, sondern mindestens ein Jahr lang ihr Leben ist. Sie seufzt und geht in die Richtung, in die die Frau ihren Arm geschleudert hat.
Schließlich findet sie das Rathaus noch halbwegs zeitig. Herr Wolkenberg winkt bei ihrer Entschuldigung nur ab und bittet sie freundlich herein.
Zurück in der Redaktion geht ihr die Frau nicht aus dem Kopf. Ein wenig ausladend war der Oberkiefer der Frau schon, wenn sie so länger drüber nachdenkt, vielleicht war das Verständnisproblem also ein Anatomisches. Sie hört auf zu tippen und sieht von ihrem Bildschirm zu Grietje, die ihr gegenüber am Platz sitzt. Wie soll sie das nur anfangen? Schließlich schildert sie ihr die Situation. »Ich sag’s dir, kein einziges Wort habe ich verstanden. Urlaute waren das, die da aus dem Mund purzelten. So etwas habe ich noch nie gehört.« Dann fügt sie zaghaft hinzu: »Grietje, irgendwie war der Oberkiefer der Frau so ausladend, meinst du, die hatte vielleicht unten keine Zähne mehr?«
Da lacht die Kollegin schallend los. »Das kann ich zwar nicht beurteilen, das behaupten aber mehrere Besucher übers Rheiderland. Ich glaube aber eher, dass du gerade zum ersten Mal Platt gehört hast.« Als sie sich beruhigt hat, fügt sie hinzu: »Herrlich. Na, immerhin hast du nicht geglaubt, die Frau hätte Holländisch gesprochen. Der festen Überzeugung soll nämlich der letzte Volontär aus dem Süden gewesen sein. Hat mir zumindest Jantje erzählt, eine alte Kollegin.«
Sonja bekommt große Augen. »Wie lange ist es denn her, dass ihr hier jemanden aus Süddeutschland hattet? Und das soll Platt gewesen sein?« Sie rauft sich die Haare. »Also ehrlich, ihr habt einen Dialekt, da ist Schwäbisch Hochdeutsch gegen.«
Da runzelt die Kollegin die Stirn. »Hm, ich glaube, das muss so vor fünfzehn Jahren etwa gewesen sein. Soll sich nicht so gut eingelebt haben.«
Sonja reibt sich übers Schlüsselbein.
»Aber jetzt zum Platt«, fährt Grietje fort, die nicht mitbekommen zu haben scheint, dass Sonja ein wenig blasser geworden ist. »Erstens ist Platt eine Sprache und kein Dialekt. Ostfriesisches Platt wäre der dazugehörige Dialekt, das muss man schon differenzieren. Zweitens sind wir da ganz schön stolz drauf, immerhin bemühen wir uns auch stark darum, unser Platt zu erhalten«, erklärt sie. »Und der Vergleich Schwäbisch und Hochdeutsch hinkt auch ein bisschen, wenn du mich fragst. Wir wollen mal keine Äpfel mit Birnen vergleichen«, schießt Grietje die nächste Salve ab. »Koppke Tee? Hattest bestimmt noch nie eine vernünftige Teetied.«
»Koppke? Teetied? Was ist das schon wieder?«, fragt Sonja und sinkt in sich zusammen.
»Oh, entschuldige. Koppke heißt auf Platt eine Tasse Tee!«, erklärt Grietje lauter, wobei sie davon auszugehen scheint, dass das Verständigungsproblem auf Sonjas schlechte Ohren zurückzuführen ist. Dann tätschelt sie Sonja im Vorbeigehen die Schulter. »Und die Teetied zeig ich dir jetzt. Dat wird schon noch, mien Leev.«
»Leif, ja, nee, isch recht.« Sonja schnauft. Und sie ist doch bei den Sch’tis gelandet.
Wat’n Mallöör
Entgegen der vorliegenden Situation soll Plattdeutsch laut frühestem Beleg, einer 1524 gedruckten Delfter Bibel, »in goede(n) platten duytsche«, also »klar, deutlich, jedermann verständlich« sein. Dass es eben für jedermann verständlich war, führte Ende des 17. Jahrhunderts auch zur Stigmatisierung des Niederdeutschen. Immerhin wollten sich die Gebildeten exklusiv unterhalten können, weshalb das Hochdeutsche als Akademikersprache galt und Platt als Sprache des Pöbels. Hinzu kamen Umstände wie der Wechsel der Kirchensprache ins Niederländische und dass die Preußen nach dem Tod des letzten ostfriesischen Grafen die ostfriesische Verwaltung übernahmen und des Plattdeutschen nicht mächtig waren.
Bis heute wird immer wieder behauptet, dass Platt mehr Mundart als eigene Sprache ist. Das ist allerdings nicht der Fall (worauf viele Ostfriesen auch Wert legen). Denn worüber sich Linguisten lange Zeit stritten, wurde Ende des 20. Jahrhunderts offiziell geklärt: Mit der Aufnahme in die europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen wurde Plattdeutsch international als Sprache anerkannt.
Hervorgegangen aus dem Mittelniederdeutschen, liegt Platt sprachhistorisch betrachtet sogar näher am Englischen als am Hochdeutschen. Immerhin hat das Niederdeutsche mit der englischen Sprache gemein, dass beide die sogenannte zweite Lautverschiebung aussetzten – also die regelhafte Umwandlung bestimmter Konsonanten in andere, wie etwa das t in das s bei water. Was im Hochdeutschen seitdem Wasser heißt, ist im Plattdeutschen und Englischen gleichgeblieben.
Gesprochen wird das ostfriesische Niederdeutsch, also der ostfriesische Dialekt, wie auch das Oldenburger Platt streng genommen einer ist, in ganz Ostfriesland. Dazu zählen die Landkreise Aurich, Leer, Wittmund und die kreisfreie Stadt Emden, ebenso die Ostfriesischen Inseln. Verglichen mit anderen Regionen hat das Plattdeutsche hier in Ostfriesland noch einen hohen Stellenwert. Seine Verwendung variiert aber. So wird Platt im ländlichen Raum häufiger gesprochen und vorwiegend von älteren Menschen. Bei jüngeren Ostfriesen nimmt der Anteil der Plattsprecher stark ab. Kulturelle Institutionen wie die Ostfriesische Landschaft oder der Verein Oostfreeske Taal versuchen den Verfall der Sprache mithilfe von Projekten aufzufangen. Platt soll Teil der ostfriesischen Identität bleiben. So wird in 60 Kindergärten Ostfrieslands mitunter Plattdeutsch gesprochen. Zudem gibt es jährlich im September den Plattdüütskmaant – den Plattdeutschmonat. Dann wird in ausgesuchten Betrieben jeweils einen Tag lang Platt gesprochen. Außerdem finden etliche Veranstaltungen wie Lesungen statt, um die Sprache zu fördern.
Die Tourismusbranche setzt die Sprache gezielt ein, um Ostfriesland als Auszeit von der beschleunigten Welt zu vermarkten – eine geruhsame Region, in der mit einem Spruch up Platt und einer Tasse Tee nichts schiefgehen kann.