Читать книгу Fettnäpfchenführer Ostfriesland - Sylvie Gühmann - Страница 8
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EINE ODE ANDAS MOIN
… UND DER DAMIT VERBUNDENEABGESANG AUF DAS RESTLICHEDEUTSCHLAND
Obwohl alles flach ist und gleich aussieht und sie den Blick dafür nicht schweifen lassen müsste, tut sie es trotzdem: Kühe, Weide, Kühe, Weide, Weide, Schaf. Der Geruch von Gülle und Morast steigt Sonja in die Nase. Ein Muhen und Mähen untermalt die Szenerie. Der Boden zu ihren Füßen fügt sich zu einem beeindruckenden Mosaik aus Kuhfladen und Gras. Seit Freitagabend wohnt sie in Leer, den gestrigen Tag haben sie und ihre Eltern größtenteils mit dem Umzug verbracht.
Und tatsächlich sieht es hier im Hammrich auch ein wenig leer aus, findet sie bei ihrem morgendlichen Spaziergang. Anders als auf der Schwäbischen Alb, wo Berge aus der Erde brechen und vor den Wolken thronen. Trotzdem wirkt die Weite mit den Halmen, die sich träge im Wind biegen, ähnlich friedlich. Irgendwas jedenfalls hat sie hierhergetrieben.
KLOOKSCHIETER: DER HAMMRICH
Durchzogen von reichlich Schlooten und anderen Gewässern steht der Begriff Hammrich eigentlich nur stellvertretend für ein großräumiges, aus Weideland bestehendes Gebiet in Ostfriesland. Neben der traditionell landwirtschaftlichen Nutzung der Dorfgrenzgebiete, die sich im Übergang von der Geest zur Marsch befinden, wird die Landschaft heute auch für Windenergieanlagen genutzt, oftmals sehr zum Ärger der Anwohner. Und schwupps – ist das Gebiet damit auch schon der Inbegriff Ostfrieslands.
Für mindestens ein Jahr soll Ostfriesland ihre Heimat sein, weit weg von zu Hause und ihrer Familie. Und von Max, ihrem Freund. Je nachdem, ob der Vertrag beim Ostfreesen-Blattje verlängert wird und sie bleiben möchte. Schon als sie noch klein war, hatte sie unbedingt Reporterin werden wollen. Das haben ihr zumindest ihre Eltern erzählt. Als sie dann im Herbst im Internet über die Anzeige der ostfriesischen Lokalzeitung stolperte, musste sie nicht lange überlegen, zumal ein Blick über den Tellerrand ihres Spätzle-Reichs nicht schaden kann, wie sie findet. Und so anders kann es in Ostfriesland nicht sein, immerhin befindet sie sich in Deutschland. Auch wenn es hier gerade schon sehr anders aussieht. Sie blickt vom vermutlich höchsten Punkt weit und breit über die Landschaft: vom Deich.
Ob es Max hier gefallen wird? Da er als Anwalt selbstständig ist und frei über sein Urlaubskontingent verfügen kann, wird er derjenige sein, der die Strecke an den Wochenenden häufiger zurücklegt. Die Besuche sollen aber nicht nur Urlaub sein, sondern der Anfang eines Tests. Er soll entscheiden können, ob er die Menschen hier mag, die Landschaft und die Sitten. Ob er sich vorstellen kann zu bleiben. Irgendwie ist es schon schön hier, findet sie, holt tief Luft und genießt die Ruhe. So schön still ist es auf dem Deich, nur die Brise im Nacken. Na ja, gut, ein bisschen sehr ruhig vielleicht. Noch immer ist ihr keine Menschenseele begegnet. Bis auf die Kühe scheint es wenig Lebewesen zu geben. Vielleicht ist es für die Zweibeiner noch zu früh, schließlich ist es erst acht Uhr morgens. Vor Aufregung hatte sie es im Bett nicht mehr ausgehalten. Aber doch, ein kleiner Punkt in der Ferne nähert sich ihr. Sie kneift die Augen zusammen. Ein Mensch, in Anbetracht seiner Schnelligkeit vermutlich ein Jogger, kommt auf sie zu.
Das wird sie also: die erste Begegnung mit einem Ostfriesen in der neuen Heimat. Sie richtet sich auf und räuspert sich, als der Jogger nur noch ein paar Meter entfernt ist. »Grüß Gott.« Sie strahlt. »Oder wie man hier zu sagen pflegt: Guten Moin.« Der Jogger, ein Hüne, verlangsamt den Schritt, bis er vor ihr zum Stehen kommt. »Gott? Den hab ich schon lange nich mehr gesehen. Und hier sagt man Moin. Guten Moin gibt’s nich.« Er schüttelt den Kopf. Etwas, das entfernt einem Lächeln ähnelt, huscht über seinen dünnen Mund. Dann ist der Mann fort. Als Sonja sich gerade zu fragen beginnt, wo sie gelandet ist, verfärbt sich der Himmel. Sturzbachartig klatscht Regen auf den Boden. Bis sie bei ihrem alten Golf ist, hat sich ihre Kleidung um mehrere Nuancen verdunkelt.
KLOOKSCHIETER: WER ODER WAS IST MOIN?
Moin ist eine Grußformel, die vor allem im norddeutschen Raum verwendet wird und in Süddeutschland kaum auftaucht. Zwar wird sie mitunter im hanseatischen Raum benutzt und dort auch gern für sich beansprucht, allerdings stammt der Gruß laut Duden (und damit ist es ja wohl offiziell) aus dem Ostfriesischen. Dem Wörterbuch nach findet das Moin seinen Ursprung in der plattdeutschen Sprache und kann aus dem Wort moi abgeleitet werden. Das bedeutet so viel wie angenehm, gut oder schön. Nahe liegt die Vermutung, dass der kurze Gruß auf die Begrüßung Moi’n Dag zurückzuführen ist, was auf Plattdeutsch »schönen Tag« heißt. Aufgenommen wurde der Begriff in den Duden schon in den Achtzigern und gilt somit als allgemein anerkannter Gruß.
Wat’n Mallöör
Die arme Sonja. Zugegeben, den Besucher kann so ein schlichtes Moin schon mal irritieren. Wenn es ihn nicht gar brüskiert. Hat er etwas falsch gemacht? War er unhöflich? Wieso ist sein Gegenüber bloß so ruppig?
Tatsächlich hat das Moin weniger mit dem Besucher als mit dem Ostfriesen selbst zu tun. Denn Moin ist für den Ostfriesen nicht nur ein Wort – es bringt ihn, seine Lebenseinstellung und sein Wesen auf den Punkt. Gemeinsam mit Jo und einer Tasse Tee kann der nordwestdeutsche Hüne auf diese Weise Wochen überbrücken. Das Moin spiegelt also schlicht und ergreifend wider, dass der Ostfriese kein Freund großer Worte ist. Selten verschwendet er deshalb seine Zeit damit, die Begrüßung der Tageszeit anzupassen und etwa »Guten Morgen«, »Guten Tag« und »Guten Abend« zu unterscheiden oder wie Sonja gar »Grüß Gott« zu sagen. Sein geliebtes Moin wirft er zu jeder Tages- und Nachtzeit lässig in den Raum. Mit »Guten Morgen« hat das alles also nichts zu tun. Falls Sie Ihr Gegenüber nicht zum Schmunzeln bringen wollen, lassen Sie das »Guten Moin« lieber sein.
Es soll auch schon vorgekommen sein, dass sich zwei Ostfriesen begegnet sind und nie mehr als Moin zueinander gesagt haben. Schrecklich, nicht wahr? Aber denkt der Außenstehende einmal darüber nach – die Ostfriesen ersparen sich so einiges an Phrasendrescherei. Denn selten bleibt es bei einem bloßen Guten Tag. Oft folgt danach die Stille, der quälende Druck, das Gegenüber ohne triftigen Grund oder Willen nach seinen Belangen fragen zu müssen, höflich zu sein. Für einen Ostfriesen kommt das nicht in Frage. Er macht nichts, was er nicht machen muss. Ein Moin Moin oder das Moinsen, das gern in Hamburg verwendet wird, sind nichts für ihn. Es wäre Gesabbel. Drum hält er es auch lieber zeitökonomisch: Er begnügt sich mit einem kurzen und knackigen Moin und erstickt sogleich jegliche Art von Höflichkeitsfloskeln im Keim. Dabei ist er keineswegs ruppig, vielmehr hat er ein Gespür für die Art des Moins entwickelt, für den Tonfall, in dem sein Gegenüber sein Moin von sich gibt. Dem Klang entsprechend kann er entscheiden, wie er reagiert. Er hört eben genau hin. Ein bisschen ist es in Ostfriesland also wie in China, wo die Betonung der Silben über die Bedeutung der Wörter entscheidet. Da sag noch einmal einer, die Ostfriesen seien schlicht. Also darauf: eine Ode an das Moin.