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3. Zur Erforschung der Binnensicht von Fremdsprachenlehrkräften 3.1 Terminologische Vielfalt: Subjektive Theorien – Einstellungen

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Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, einen Einblick in die Binnensicht einer Probandengruppe von Lehrpersonen zu ermöglichen und ihre Einstellungen zur Mehrsprachigkeit aufzuzeigen. Wenn es Ziel des Fremdsprachenunterrichts und damit die professionelle Aufgabe der Lehrpersonen ist, Einstellungen von Lernenden als persönlichkeitsbezogene Teilkompetenzen auszubilden (vgl. Venus 2015), etwa in Michael Byrams Sinne des „savoir-être“ (Byram 1997: 34f.), dann sind auch die Einstellungen und das Expertenwissen eben dieser Lehrpersonen damit untrennbar verbunden und von besonderem Interesse für die heutige, empirische fremdsprachendidaktische Forschung (vgl. Caspari 2014).

Diese wichtigen Beziehungen zwischen Lehrereinstellungen im Allgemeinen und Lernleistungen und Verhalten von Lernenden stellt John Hattie in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer (2014) auf der Basis tausender empirischer Studien unter anderem dar:

„[…] wenn wir uns die […] Lehrpersonen anschauen: ihre Erwartungen und ihre Unterrichtskonzepte. Kinder werden in eine Welt der Erwartungen hineingeboren. Ähnlich treten sie in die Klasse mit eigenen Erwartungen ein, die denen der Lehrperson gegenüberstehen. Auch Lehrpersonen kommen in die Klasse mit Auffassungen bezüglich des Lehrens, des Lernens, der Benotung und der Lernenden. Wir müssen diese Vorstellungen besser verstehen, denn sie sind offenbar starke Moderatorvariablen für den Erfolg dieser Lehrpersonen. Wenn man geringe Erwartungen an den Erfolg der Lernenden hat, wird dies zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.“ (Beywl & Zierer 2014: 43)

Zum beruflichen Selbstverständnis von Fremdsprachenlehrpersonen liegen umfassende Arbeiten vor, die Daniela Caspari in ihrer Dissertation von 2003 und dann 2014 in einem Überblicksartikel zusammenfasst (Caspari 2014: 20–35). Allerdings konzentriere ich mich in meiner Untersuchung nur auf einen Teilaspekt dieses Selbstverständnisses, die schon benannten Einstellungen zur Mehrsprachigkeit. Zur Grundlegung dieser explorativen Studie und um eine Binnensicht auf die oben genannten Einstellungen zu erreichen, eignet sich das theoretische Konstrukt, das in der Sozialpsychologie und der Erziehungswissenschaft seit Jahrzehnten beforscht wird: „Subjektive Theorie“.

Caspari (2014) systematisiert in ihrem Überblicksartikel die unterschiedlichen Forschungsansätze und -arbeiten zu „subjektiven Sichtweisen“ oder „Innensicht“ nach inhaltlichen, forschungsmethodologischen zielgruppenspezifischen Kriterien.

Hier stichwortartig verkürzt unterscheidet sie fünf Kategorien:

1 Innensicht und Lehrerhandeln;

2 Innensicht plus Einzelaspekte / Themen;

3 nach dem Forschungskonzept;

4 nach Zielgruppen;

5 nach dem Forschungsparadigma. (vgl. Caspari 2014: 22)

Dabei weist sie darauf hin, dass sich die vorherrschende Forschungsrichtung seit den 1980er Jahren insgesamt stärker den Wahrnehmungen der Akteure des Fremdsprachenlernens zuwandte, und dass sich seit der Jahrtausendwende praktisch keine Arbeiten zum Lehrerhandeln mehr finden lassen, die sich nicht mit der Binnensicht der Lehrkräfte beschäftigen. Zudem sei die Mehrzahl dieser Forschungsarbeiten dem qualitativen Paradigma zuzuordnen (vgl. Caspari 2016a: 43–45).

In der vorliegenden Studie werden Einstellungen von Lehrpersonen zum Thema Mehrsprachigkeit in gleicher Weise empirisch-qualitativ untersucht, damit reiht sich die Arbeit in genannte Forschungsrichtung ein, die sich seit der Jahrtausendwende mit einzelnen Aspekten der subjektiven Sichtweisen beschäftigt. Neben dem bilingualen Sachfachunterricht, der Grammatik und den kommunikativen Kompetenzen, beschäftigten sich Arbeiten darüber hinaus auch mit der Evaluation von Lernerleistungen und schließlich der Mehrsprachigkeit, Multikulturalität und dem interkulturellen Lernen (vgl. Caspari 2014: 25ff.).

Die Arbeiten von Christiane Kallenbach (1996) und Daniela Caspari (2003) waren bahnbrechend für den Blick auf die Einstellungen von Fremdsprachenlehrpersonen, da sie inhaltlich und forschungsmethodologisch den Weg für qualitative Untersuchungen dieses komplexen Feldes geebnet haben. Diesen Untersuchungen kommt für die vorliegende Arbeit eine zentrale Bedeutung zu.

Mit dem qualitativen Forschungsansatz soll erforscht werden, was Fremdsprachenlehrkräfte im Zusammenhang mit ihrer Unterrichtspraxis über die Biografien und die eventuelle lebensweltliche und schulische Mehrsprachigkeit ihrer Schülerschaft wissen, und wie sich dieses Wissen auf ihre Überzeugungen auswirkt und möglicherweise ihr Handeln bestimmt. Auf die Kluft zwischen Wissen und Handeln wird weiter unten noch einzugehen sein. Wissen ist somit nicht allein auf Denkprozesse bezogen, das heißt im rein kognitiven Sinne zu verstehen, sondern Affektivität in Form von Einstellungen, Werthaltungen und Intentionen spielt eine wichtige Rolle (vgl. Kallenbach 1996: 18). In der qualitativen Forschung ist dieses Anwendungsfeld der Analyse von Alltagswissen der Forschungsperspektive „Zugänge zu subjektiven Sichtweisen“ zuzuordnen (vgl. im Überblick Flick et al. 2000: 18f.). Die Frage nach den subjektiven Theorien der Lehrerinnen und Lehrer hat im Übrigen seine Wurzeln in der Abkehr vom behavioristischen Menschenbild im Rahmen der kognitiven Wende in der Psychologie. Als Ersatz für dieses überkommene, weitgehend mechanistische Menschenbild wurde ein epistemologisches Subjektmodell formuliert (vgl. Groeben und Scheele 1977, 2000) und in der Erziehungswissenschaft (vgl. Klafki 1973) wurden die subjektiven Perspektiven der Lehrenden zum Forschungsgegenstand gemacht. Die gängigste Methode zur Erhebung von subjektiven Theorien ist das Interview1 (vgl. Kallenbach 1996: 82–85) und deshalb und aufgrund der Tatsache, dass die individuellen Einstellungen, Argumentationen, Bezüge und Überzeugungen für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind, bieten sich als Forschungsmethode fragengeleitete, explorative Interviews an, um die subjektiven Theorien bzw. Einstellungen herauszuarbeiten. Über die Schilderungen ihrer jeweils subjektiv erlebten, empfundenen und reflektierten Erfahrungen im Klassenraum mit Mehrsprachigkeit sollen die Einstellungen der Lehrpersonen dann kategoriengeleitet rekonstruiert werden (vgl. Kallenbach 1996: 75). Somit betont der Ansatz zum Einen die Subjektivität der Ausführungen einer befragten Person, zum Anderen kann ihnen Theoriestatus zugesprochen werden, weil sie Erklärungs- und Vorhersagepotenzial, Kohärenz und erfahrungsbasierte Abstrahierung und Strukturierungen enthalten (vgl. Kallenbach 1996: 12).

Seit der Arbeit von Christiane Kallenbach (1996) hat sich bis heute weiterhin eine große terminologische Vielfalt in Bezug auf die kognitiven Strukturen, Erklärungs- und Verhaltensmuster, Konstruktionen und Modifikationen des Wissens und der handlungsleitenden Theorien, kurz: der Binnensicht des Individuums und seiner subjektiven Theorien gehalten:

„Die Begrifflichkeiten sind ausgesprochen vielfältig und nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt. Ich benutze den Begriff ‚Subjektive Theorien’ nicht nur weil er am festesten etabliert ist, sondern auch, weil sich in ihm die personenbezogenen Herangehensweisen und der Status, der dem subjektiven Wissen zugesprochen werden soll, am besten widerspiegeln.“ (Kallenbach 1996: 17)

Weitere Begriffe zur Erforschung subjektiver Wissensbestände von Lehrkräften und Lernenden finden sich auch in der Übersicht von Grotjahn 1998 (Grotjahn 1998: 44). Die Begriffsdefinitionen ähneln sich jedoch im Wesentlichen, denn Sprachlehrforscher wie Rüdiger Grotjahn und Britta Viebrock (2007: 41) gehen von der

„[…] Innensicht des Lehrers bzw. des Lerners [aus] und [sehen] die jeweiligen individuellen Kognitionen als potentielle explanative Konstrukte im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen [an].“ (Grotjahn 1998: 44)

Die Innenperspektive von Lehrpersonen ist auch heute immer noch terminologisch nur sehr komplex zu fassen, worauf auch Caspari in der Folge von Simon Borg (2003) hinweist (vgl. Caspari 2014). In dieser weiterhin unklaren terminologischen Lage arbeitet Schart (2003) mit dem Begriff des subjektiven Wissens von Lehrenden und beschreibt es als ein

„[…] sehr komplexes und heterogenes Bündel aus Überzeugungen, Vorstellungen und Metaphern, Beurteilungstendenzen, Rezepten, Emotionen und Selbstrechtfertigungen […].“ (Schart 2003: 25)

Weiterhin finden sich in der Literatur Termini wie „Subjektive Lehr-Lern-Überzeugungen“ (vgl. Pajares 1992), „pedagogical content beliefs“ (vgl. Staub & Stern 2002), „Lehrauffassung / Grundhaltung“ (vgl. Viebahn 2005 und 2009). Norten und Kollegen (2005) definieren ihrerseits „teachers’ beliefs“; Baumert und Kunter (2006) sprechen von „Überzeugungen / Werthaltungen“; Dubberke et alii (2008) untersuchen die „lerntheoretischen Überzeugungen“ und Luebeck bezeichnet dies als „intrapsychische Überzeugungsstrukturen“ (Luebeck 2009: 253f.). Niessen spricht von „Individualkonzept von Lehrenden“ (2008) und Fäcke schließlich allgemeiner von „mentalen Prozessen“ oder auch von Einstellungen (Fäcke 2006: 47f.).

Schließlich zählt Caspari ebenfalls die Vielzahl der verwendeten Begriffe auf (vgl. Caspari 2016b: 305f.) und benennt die Schwierigkeiten, diese trennscharf gegeneinander abzugrenzen. Sie stellt aber die Möglichkeiten der Erforschung mentaler Prozesse von Lehrenden positiv dar:

„Trotz der Schwierigkeit, die genannten Begriffe bzw. die damit bezeichneten Konzepte voneinander abzugrenzen, und der insgesamt begrenzten Reichweite qualitativer Forschung, erlauben diese Arbeiten eine Vielzahl von Einsichten in die subjektiven Sichtweisen von Lehrkräften.“ (Caspari 2016b: 307)

Auch die obige Aufzählung stellt eine Liste dar, die sich fortführen ließe und auf die genannte unsichere Terminologiesituation im Bereich der Subjektiven Theorien (ST) verweist, weil dieses Konzept auch üblicherweise synonym verwendet wird zu: „Einstellungen, Einschätzungen, Auffassungen, Überzeugungen“ (vgl. z.B. Pajares 1992; Wahl 2001). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien wurde in den 1970er und 1980er Jahren von einer Forschergruppe um Norbert Groeben und Brigitte Scheele (1988) entwickelt. Grundlegend für diesen Ansatz waren drei Werke: Kellys Psychology of Personal Constructs (1955), Heiders Psychology of Interpersonal Relations (1958) und Lauckens Naive Verhaltenspsychologie (1974), in deren Tradition das Forschungsprogramm Subjektive Theorien neben einer theoretischen Fundierung vor allem einen methodischen Zugang darstellt, um diese empirisch erforschen zu können (vgl. Kallenbach 1996: 37).

Das Konzept der „subjektiven Theorien“ ist den Konzepten der amerikanischen Forschung – attitudes, beliefs – und der frankophonen Forschung – représentations, opinions, attitudes, stéréotypes – verwandt (vgl. Geiger-Jaillet 2006: 351f.).

Für den frankophonen Sprachraum hingegen scheinen sich vor allem die oben genannten Begriffe attitudes und représentations sociales durchgesetzt zu haben (vgl. z.B. Castelotti & Moore 2002; Carrasco Perea & Piccarda 2009).

Beide Termini – sowohl représentations als auch attitudes – haben vielerlei Berührungs- und Überschneidungspunkte und werden häufig deckungsgleich verwendet. Sie sind der Sozialpsychologie entlehnt und bezeichnen die Fähigkeit, auf adäquate, für den Handelnden vorteilhafte Weise auf eine Klasse von Objektanforderungen und -gegebenheiten reagieren oder nicht reagieren zu können. Es sind dies erworbene, psychische (Prä-)Dispositionen, über die ein Individuum verfügt und das seinen Vorrat an Einschätzungen (croyances) darstellt (vgl. Lüdi & Py 1986). Diese Einschätzungen wiederum können sowohl auf objektiven Informationen als auch auf Vorurteilen oder Stereotypen gründen. Andere Autoren bevorzugen eine Trennung beider Begriffe:

« […] une (pré)-disposition psychique latente, acquise, à réagir d’une certaine manière à un objet. » (Lüdi & Py 1986: 97)

Für die vorliegende Arbeit habe ich mich entschieden, mit dem Begriffskonzept der ‚Einstellung’ weiterzuarbeiten. Es wird in der Lehr-Lernforschung in Bezug auf den Lehrerberuf im Grunde synonym gebraucht zu beliefs und auch attitudes als „[…] jenes Geflecht aus Überzeugungen (beliefs), Meinungen und verallgemeinerten Erfahrungswissen“ zusammenfassend bezeichnet, welches zusammengenommen das Unterrichtshandeln der Lehrenden prägt (Woods 1996, zitiert in Krumm 2007: 356).

"Subjektive Theorien stehen als mehr oder weniger bewußtes Wissen hinter dem (Sprach-)Handeln. Sie sind prinzipiell aktualisierbar, lassen sich jedoch nicht als systematisch strukturierte Theorie 'abrufen'. Vielmehr entwickeln sie sich Schritt für Schritt im Gespräch und können deshalb nur mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden erhoben werden, deren Verfahren auf Interpretations- und Verstehensprozessen beruhen." (Kallenbach 1996: 50; Hervorhebungen im Text)

So verwende ich den Begriff der Einstellungen als generellen Terminus und terminologische Klammer im Deutschen und der deutschen fachdidaktischen Literatur (vgl. Venus 2015). Dieses Konzept der ‚Einstellungen’ erscheint geeignet, die durch die Fragebogenerhebung gewonnene „Außenperspektive“ durch eine „Innenperspektive“ bzw. „Binnensicht“ zu erweitern und hat damit zum Ziel, die Perspektive der Befragten auf den Gegenstand, hier: ihre Einstellungen zur Mehrsprachigkeit, zu erhellen (vgl. Viebrock 2007: 103).

Im Zusammenhang mit den Anforderungen an das unterrichtliche Lehrerhandeln – hier Einbeziehung der Mehrsprachigkeit – weist Philippe Perrenoud darauf hin, dass eine immer größer werdende Lücke zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und den realen Möglichkeiten und Kompetenzen der Lehrpersonen klafft. Er stellt das als eine Überbürdung des Berufsstands dar, die nicht mehr zu bewältigen sei, wie: Unterrichtseinheiten stringent planen, die den Lernenden bestmöglich an seinem Entwicklungsstand abholen; differenziert und individualisiert arbeiten; individuelle Lernprojekte stützen; kooperative und aktive Methoden anwenden; den Sinn schulischer Arbeit verdeutlichen; zu Toleranz in einer multiethnischen Lerngruppe erziehen und Vieles mehr.

« A l’échelle de la classe, l’écart s’est accru également entre ce qu’un enseignant moyen sait faire et ce qu’il est censé savoir faire, par exemple construire des séquences didactiques rigoureuses et des situations d’apprentissage atteignant l’apprenant dans sa „zone proximale de développement“, différencier son action pédagogique, individualiser les parcours de formation, pratiquer une observation formative, développer des méthodes actives […] faire de la classe une société multi-ethnique basée sur la tolérance, gérer la diversité des cultures ou simplement des familles. » (Perrenoud 1996: 80)

Hierbei spricht er von dem Unaussprechlichen, der non-dits (Perrenoud 1996: 69f.) des Lehrerberufs und führt unter anderem Angst, Verführung, Macht, Dilemma der Ordnung, Basteln und Improvisation, Langeweile und Routine und die unvermeidliche Differenz der Standpunkte zwischen Lehrenden und Lernenden auf. Die in diesen Dilemmata gefangenen Lehrpersonen werden möglicherweise im narrativen Interview ihre eigene berufsbiografische Selbstkonstruktion dergestalt darstellen, dass sie persönliche, unterrichtspraktische Lösungen für die genannten Probleme konstruieren, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, mit der erneuten Anforderung nach Einbeziehung der Mehrsprachigkeit überfordert zu sein.

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

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