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K A P I T E L 4
ОглавлениеMichael hielt an, als seine Mutter ebenfalls die riesige Halle, die einem Saal glich, hinter ihm betreten hatte. Der Saal war mit vielen Leuten gefüllt. Einige Gesichter kannte er aus seinem eigenen Clan. Es waren aber auch Fremde da, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Mitten im Raum standen zwei lange Tafeln mit schmalen Bänken, auf denen alle Platz genommen hatten. Die Wände waren mit Fotos und zwei Wappen geschmückt.
Ehe Michael sich das fremde Wappen genauer ansehen konnte, rief seine Mutter in die Runde: »Er ist aufgewacht.«
Augenblicklich spürte Michael alle anwesenden Augenpaare auf sich gerichtet. Er war jetzt heilfroh, dass er nicht Hals über Kopf aus der Kammer gelaufen war, sondern sich vernünftig angezogen hatte. Wie peinlich wäre der Empfang gewesen, wenn er die Gruppe nackt aufgesucht hätte? Er wollte es sich nicht vorstellen und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen.
Sein Vater, Abidal Graf, saß wie ein König, der Hofstaat hielt, am Kopfende einer der Tafeln. Neben ihm der Platz war frei, und Michael konnte sich denken, dass dieser für seine Mutter reserviert war. Gleich neben ihm, auf der anderen Seite, saß sein Bruder Gabriel. Michael schenkte ihm zur Begrüßung ein Lächeln. An der anderen Tafel saß ebenfalls ein Mann am Kopfende. Er war im gleichen Alter wie Abidal Graf. Michael zweifelte keinen Moment daran, dass es sich bei dem Fremden um ein weiteres Alphamännchen handelte.
»Ist das die Verlobungsfeier von Shanti und Gabi?«, fragte er seine Mutter leise.
Sie schüttelte den Kopf und führte ihn zu dem freien Platz neben Gabriel. Daneben war ein weiterer freier Stuhl, und Michael wusste schmerzvoll, für wen dieser Sitzplatz reserviert war. Yasemin, seine Drillingsschwester, hätte dort sitzen sollen, doch sie hielt sich immer noch versteckt, weil sie sich nicht von ihrem Vater verheiraten lassen wollte.
Michael nickte seinem Vater zu, der die Begrüßung auf dieselbe Art und Weise erwiderte, und ließ sich dann neben Gabi nieder. »Hey, was geht denn hier ab?«, flüsterte er seinem Bruder zu.
Gabriel wollte ihm gerade antworten, da traf sie der vorwurfsvolle Blick des Vaters. Sofort war Gabriel still, und auch Michaels Aufmerksamkeit war jetzt voll und ganz bei dem Clanführer.
Dieser räusperte sich kurz und erhob sich würdevoll. Es wirkte pathetisch, als er die Hand auf seine Brust legte. An der Stelle trug er das Wappen seines Clans eintätowiert, welches unter seinem blütenweißen Hemd verborgen war. »Meine Brüder und Schwestern«, begann er seine Rede wie ein Prediger. »Ich bin froh und dankbar, dass wir meinen Sohn Michael rechtzeitig vor den Jägern der NWO retten konnten.« Seine Stimme nahm deutlich an Volumen zu: »Meine Brüder und Schwestern! Wir befinden uns im Krieg mit der NWO.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er weitersprach. »Und leider auch untereinander.« Mit den folgenden Worten wurde sein Plädoyer noch lauter: »Wir wissen nicht mehr, wer Feind und wer Freund ist, so sehr hat die NWO unser Leben verändert und uns manipuliert.« Einige brummten zustimmend, jedoch wagte keiner, etwas zu sagen.
Abidal Graf wirkte für einen Moment gebrochen, dann schallte seine Stimme wieder kräftig durch die Halle: »Umso mehr freue ich mich, euch heute zwei besondere Ereignisse verkünden zu dürfen.« Es folgte eine bedeutungsvolle Pause. Dann sprach er weiter: »Uns ist es gelungen, einen wichtigen Stützpunkt der verkommenen Brut zu stürzen. Das war ein bedeutender Schlag gegen die NWO. Wir konnten einige gefangene Werwölfe befreien. Sie sind bei unserem Arzt in guten Händen. Außerdem fanden wir wichtige, geheime Pläne und Waffen, die wir natürlich mitgebracht haben.«
Ein Gejohle, wie bei einem Volksfest, folgte. Graf schien sich regelrecht in den Zurufen zu baden. Dann deutete er mit einer Handbewegung an, dass er weitersprechen wollte. »Die Rettung meines Sohnes haben wir einer jungen, mutigen Frau zu verdanken. Natürlich ist sie heute unser Ehrengast. Nunzia, erhebe dich, damit dich alle sehen können.«
»Ich wurde vor Jägern der NWO gerettet? Wie abgefahren ist das denn bitte schön?«, fragte Michael seinen Bruder ungläubig. Er hasste die Organisation. Sie stellten ihre eigenen Gesetze auf, die nichts mit dem Wertesystem, wie es ihm vertraut war, gemein hatten.
Gabriel wollte ihm gerade eine Antwort geben, als die Angesprochene sich erhob und Michaels Blick auf sich zog. Als er sie erkannte, wäre ihm beinahe die Kinnlade nach unten geklappt. Sie war schlanker, als er sie in Erinnerung hatte. Als sie die ersten Worte sprach, waren seine Zweifel begraben. Diese lispelnde Stimme gehörte eindeutig Nunzia, Jennys bester Freundin.
Nunzia wirkte schüchtern und unsicher. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, war knallrot angelaufen und strich sich über ihren Zopf. Ihre Blicke huschten hektisch über die Anwesenden, bis sie an ihm hängenblieben. »Ich danke euch für die große Ehre, die mir heute zuteilwird. Ich weiß eure Freundlichkeit wirklich zu schätzen und bin sehr froh, dass ihr Michael noch vor den Jägern aus dem Haus holen konntet.«
Das Clanoberhaupt räusperte sich und fragte: »Möchtest du allen hier kundtun, was du dir für deine mutige Tat verdient hast?«
Michael konnte es nicht fassen. Was tut Nunzia hier zwischen uns Werwölfen? Ich werde es hoffentlich gleich erfahren. Er war neugierig, was sie erzählen würde.
»Mir wäre es aber lieber, wenn Ihr es verkündet«, antwortete sie scheu.
Abidal Graf lachte milde und forderte sie auf: »Nun gut, dann setze dich mal wieder. Ich werde über deine couragierte Tat berichten.«
Nunzia nickte ihm dankend zu und nahm auf einer der Bänke Platz. Dann sah sie Michael wieder an.
Dieser verstand nur Bahnhof und war noch gespannter, was sein Vater sagen würde.
»Diese junge Dame hat eine beherzte Tat begangen. Ihr haben wir es zu verdanken, dass mein Sohn Michael unverletzt bei uns ist. Als Dank nehmen wir sie in unseren Clan auf.«
Michael glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Noch nie zuvor wurde ein Mensch in den Werwolf-Clan aufgenommen. Das wird ja immer verrückter. »Wie hat Nunzia mich denn gerettet?« Es war ihm ohne jede Überlegung herausgerutscht, und nun waren alle Augenpaare auf ihn gerichtet. Na, Prost Mahlzeit! Es war totenstill in der Halle geworden.
Sein Vater warf ihm einen genervten Blick zu. »Das kann sie dir später selbst erzählen. Wir wollen essen.« Seine Worte schienen der Startschuss gewesen zu sein, sich über das Essen, welches auf den Tischen lag, herzumachen.
Ich kapiere das hier alles nicht. Erst erwähnt er großspurig ihre heldenhafte Tat und will davon berichten, und dann, wenn man danach fragt, wimmelt er einen ab. Das ist echt typisch für ihn. Der Appetit war ihm durch Nunzias Auftauchen auch vergangen. Sein Blick fiel auf den Spanferkelbraten vor ihm. Sein Magen fühlte sich mit einem Mal wie zugeschnürt an. Er musste an sie denken. Wie gerne würde er jetzt mit Freyja auf seinem Bett sitzen. Sie ansehen, ihre Nähe fühlen und dabei Pizza essen. Das wäre ihm tausend Mal lieber als dieses blöde Spanferkel. Was würde ich darum geben, jetzt bei ihr zu sein!
»Hast du keinen Hunger nach der langen Narkose?«, unterbrach Gabriel Michaels sehnsüchtige Gedanken.
Michael schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht. Warum waren Soldaten der NWO bei mir und wollten mich verhaften? Freyja war doch auch da. Was ist nun mit ihr? Ich mache mir wirklich große Sorgen.«
Gabriel zog die Augenbrauen hoch. »Freyja? Der Zausel? Verdammt! T-Rex und ich hatten von Vater den Befehl, dich aus dem Haus zu holen, bevor die Jäger dich packen konnten. Von einer weiteren Person wussten wir nichts. Ich hätte doch deine Süße nicht diesen Ungeheuern überlassen. Das musst du mir glauben, Michael.«
»T-Rex? Wer ist T-Rex?« fragte Michael seinen Bruder.
»Ach, sorry, Mann. Du kennst ihn ja noch gar nicht. T-Rex heißt eigentlich Rafael. So will er aber nicht genannt werden. Er gehört zu dem Clan derer von Greifenberg.«
Eine andere Frage brannte Michael viel dringender unter den Nägeln. »Warum habt ihr mich im Bad überwältigt und sogar betäubt?«
Gabriel seufzte laut. Man sah ihm deutlich an, dass ihm dieses Gespräch absolut unangenehm war. Er verwuschelte sein Haar, wie es auch Michael immer bei sich selbst tat, und blickte seinen Bruder ernst an. »Die Kleine, Nunzia meine ich, hatte uns gewarnt und berichtet, was die NWO mit dir geplant hatte, deshalb mussten wir fix handeln. Ich hatte versucht, dich anzurufen, aber die Festnetzleitung hatten sie bereits gekappt, und an dein Handy bist du nicht gegangen.«
Michael erinnerte sich an den romantischen Abend mit Freyja. Er hatte in der Tat sein Handy auf lautlos gestellt, weil er nicht gestört werden wollte. Mit so etwas Dringendem konnte keiner rechnen. »Und dann?«, forderte er seinen Bruder auf, weiter zu sprechen, denn seine Frage war noch nicht beantwortet.
»Wir sind so schnell wir konnten zu unserer Wohnung und sahen die Scheißkerle bereits vorm Haus herumlungern. Von hinten konnten wir uns anschleichen. Du warst im Bad, und sie rammten gerade die Eingangstür. Ehe ich dir etwas zurufen konnte, stolperte T-Rex hinter mir und ich drückte versehentlich den Abzug der Betäubungspistole, die ich griffbereit hielt. Du bist sofort wie ein gefällter Baum umgekippt, und wir mussten dich schultern und zügig das Haus verlassen. Echt, Mann, ich wollte dich nicht anschießen.«
Michael sah ihm sein schlechtes Gewissen regelrecht an. Gabi hat es nur gut gemeint, sagte er sich selbst und nickte seinem Bruder milde lächelnd zu, während er ihm eine Hand auf die Schulter legte. Michael wusste, dass er sich auf seinen Bruder verlassen konnte und dass er auch seine Freunde beschützen würde, auch dann, wenn sie keine Werwölfe waren.
Als alle gegessen hatten, löste sich die Versammlung auf. Einige Frauen räumten die Tische ab. Nunzia kam zu ihnen herüber und setzte sich auf den freien Platz, der für Yasemin bestimmt war.
»Willkommen in unserem Clan«, begrüßte Gabriel sie herzlich.
Nunzia lächelte ihn breit an. »Danke, ich bin ja so froh, dass ihr mich aufgenommen habt.«
»Du hast einen von uns gerettet, und dann auch noch den Sohn des Clanführers. Es ist selbstverständlich, dass wir dich in unseren Kreis aufnehmen.«
Michael verdrehte innerlich die Augen. Er mochte Nunzia immer noch nicht. Das, was sie und die anderen der Mädchengang Freyja angetan hatten, würde er wohl sein Leben lang nicht vergessen. Aber er wollte hier nicht gleich Stunk anfangen, deshalb hakte er vorsichtig nach: »Woher hast du davon gewusst, dass sie mich fangen wollten, Nunzia?«
Die Angesprochene fuhr sich durch die langen Haare. Ihre Wangen glühten. »Ich weiß nicht«, stotterte sie herum.
Eine Person trat hinter Michael. Zuerst nahm er nur ihren Schatten wahr, fühlte ihre Präsenz, die unwahrscheinlich viel Wärme ausstrahlte. Ehe er sie genauer angucken konnte, beugte sie sich zu Gabriel, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Bis auf sehr langes, weißblondes Haar konnte Michael nichts von ihr erkennen. Dann drehte sie sich zu ihm um, und zwei königsblaue Augen strahlten ihn an, sodass Michael das Gefühl hatte, in die Weiten eines Ozeans zu blicken. Ihr Lächeln war ansteckend, und er spürte, wie sich sein Mund zu einem Grinsen verzog und er sich magisch in diesen Ozean hineingezogen fühlte.
»Du bist Micha?«
Ich kenne diese Stimme. Bisher hatte er sie immer nur im Hintergrund gehört, wenn er mit Gabi telefoniert hatte. Er hatte sich bei der Stimme ein neunjähriges Mädchen vorgestellt, auch wenn es nicht zu den Geschichten passte, die ihm sein Bruder anvertraut hatte. Mit einem Kind hatte diese wunderschöne junge Frau außer der Mädchenstimme nichts gemein. »Du musst Shanti sein«, begrüßte er sie ebenfalls charmant lächelnd.
Sie nickte ihm zu. »Ja, das bin ich. Deine zukünftige Schwägerin. Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen, wenn auch unter keinen guten Umständen.«
Michael wusste von seinem Bruder, dass dessen Braut außergewöhnliches weißes Fell als Wölfin trug. Er hatte bei den Telefonaten den Eindruck, dass Gabi mit der Zwangsehe nicht glücklich wäre, aber warum das so war, erschloss sich Michael nicht. Shanti strahlte irgendwie von innen heraus, und ihre Anmut und Eleganz beeindruckten ihn. Von gerade mal durchschnittlich hübsch, wie Gabi sie beschrieben hatte, konnte wirklich nicht die Rede sein. Er bemerkte, dass er sie wohl völlig irritiert gemustert hatte, und sammelte sich. »Ja, bisher habe ich nur von dir gehört. Ich bin der Typ, mit dem Gabi sich eine Bude teilt.«
»Teilte«, verbesserte ihn Gabriel. »Wir können bis auf Weiteres nicht mehr nach Hause. Die NWO wird die Wohnung überwachen und auf dich warten.«
Michael zerstrubbelte sein ohnehin schon wirres Haar noch mehr. »Ich verstehe das alles nicht. Warum ausgerechnet ich? Ich kann mir nicht vorstellen, was ich ihnen getan haben könnte. Außerdem mache ich mir große Sorgen um Freyja.«
Shantis Gesichtsausdruck wurde bei seinen Worten mitfühlend. »Freyja ist deine Gefährtin?«, fragte sie leise nach.
Michael nickte und spürte einen dicken Kloß in seinem Hals.
»Wir werden sie ... » Shanti wurde durch Nunzias Räuspern unterbrochen.
Sofort erinnerte sich Michael an ihr letztes Treffen in der Felsenbar, als sie und Jenny und die restlichen Girlies der Mädchengang auf die wehrlose Hexe aus der Vergangenheit eingeprügelt hatten. Am liebsten hätte er damals die ganzen blöden Weiber zerfleischt, aber sie hatten Glück gehabt, weil er Freyja nach Hause bringen und verarzten musste. Seit diesem unsäglichen Abend hatte er Nunzia nicht mehr zu Gesicht bekommen. Trotz seiner Antipathie wollte er erfahren, woher sie die Insiderinformationen hatte. »Hey, Nunzia, wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei deiner Frage, warum ich in deine Familie aufgenommen worden bin?« Sie hielt ihm eine Hand hin, die Michael aber nicht ergriff. Verlegen nahm sie sie zurück. »Bist du denn immer noch sauer auf mich?« Ihre Wangen brannten, als hätte er sie geschlagen.
»Sauer?« Michael schnaubte verächtlich. »Ich glaube, sauer trifft es nicht so ganz«, antwortete er mit vor Ironie triefender Stimme.
Nunzia trommelte nervös mit ihren langen Fingernägeln auf den Tisch, dann platzte es aus ihr heraus: »Es war scheiße, was Jenny mit Freyja gemacht hat.«
»Nicht nur Jenny«, knurrte Michael, und seine Augen funkelten dabei bedrohlich in der Farbe von altem Whiskey.
Nunzia blickte ihn verzweifelt an. »Ja, ich weiß. Ich war auch nicht besser. Aber wir mussten machen, was sie befahl.« Nunzia starrte die Tischplatte an. Ihr schlechtes Gewissen war unübersehbar.
»Was ist passiert, dass ausgerechnet du mir das Leben gerettet hast?«, kehrte er zu seiner Ursprungsfrage zurück. Nunzia scheint es ernsthaft zu bereuen.
Sie wickelte einzelne Haarsträhnen um ihre Finger. Dann mit einem Mal sah sie Michael direkt an. »Jenny hat ...« Sie schluckte, sichtlich mit der Fassung kämpfend.
Fast tat sie ihm sogar leid. «Was hat Jenny getan?«, bohrte er mit sanfterer Stimme nach.
In Nunzias Augen schimmerten Tränen, und das weckte den Beschützerinstinkt in ihm.