Читать книгу Die Gilde der Rose - Talira Tal - Страница 10
K A P I T E L 5
ОглавлениеIm Schattenreich
Ein Schatten oder mehrere mussten sich in unmittelbarer Nähe aufhalten. Noch konnte er sie nicht sehen, aber die Anzeichen waren untrüglich.
Nele war die Erste, die auf die Schatten reagierte. Sie fing an, mit ihren Fäusten unkontrolliert gegen den Kopf zu schlagen. Piet versuchte sie zu stoppen, doch als wäre sie ferngesteuert, ließ Nele sich nicht davon abbringen.
Ich muss die Kinder in Sicherheit bringen. Etwas anderes kam für Michael nicht infrage. Er konnte niemanden um Rat bitten, musste sich einfach auf sein Bauchgefühl verlassen.
»Ich zeige euch den Weg, der nach draußen führt«, erklärte er, ohne über seine eigenen Worte weiter nachgedacht zu haben.
»Was ist mit der Mobbingtante los, und wer bist du überhaupt?«, fauchte ihn Luca an.
Das merkwürdige Verhalten seiner Schulkollegin schien ihn zu ängstigen. Hektisch huschten seine Blicke zwischen Nele und Michael hin und her.
Michael war nicht in der Lage, ihm seinen Namen zu nennen, denn er musste gegen einen heftigen Brechreiz ankämpfen.
Piet musterte ihn argwöhnisch. »Wir gehen nirgendwo mit dir hin, wenn du uns nicht sofort sagst, wer du bist und wo wir hier sind. Was hast du mit Nele gemacht?«
Die Kinder erwiesen sich als sturer, als er es sich vorgestellt hatte, und jetzt gab Piet ihm auch noch die Schuld an Neles irrsinnigem Verhalten. Ohne weiter nachzudenken, packte Michael das sich nun immer fester gegen den Kopf hämmernde Mädchen. Sie war für ihn ein Fliegengewicht. Er rannte los, in der Hoffnung, die anderen drei würden ihm folgen. Sie strampelte, und Michael musste seinen Griff verstärken, damit sie sich nicht von ihm befreien konnte. Nach ein paar Metern blieb er stehen, sah sich um und war beruhigt, dass sie ihm tatsächlich folgten, um ihre Freundin zu befreien. Der Zweck heiligt die Mittel, sagte sich Michael und lief erneut ein Stück, bis er die Übelkeit nicht mehr spüren konnte.
Keuchend erreichten ihn die drei Jugendlichen. Wut funkelte in ihren Augen, und Michael konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Er hatte schließlich Nele verschleppt. Jedenfalls musste es für die Kids so ausgesehen haben. Das Gesicht des brillengesichtigen Jungen glich einer überreifen Tomate. Er japste und prustete. Die anderen beiden krümmten sich vor Seitenstichen. Auch sie wirkten erschöpft.
Michael half Nele, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Sie schien verwirrt und lief sofort zu Mia, die vor ihr zurückwich. Nele versuchte sie zu umarmen.
Mia wehrte sie mit den Worten ab: »Jetzt bin ich aufeinmal gut genug? Vergiss es! Du hast mich immer nur wie Dreck behandelt. Meinetwegen hätte der Typ dich sonstwo hinbringen können. Ich bin ihm nur gefolgt, weil er den Ausgang kennt.«
Über Neles Gesicht liefen Tränen. »Kannst du mir nicht verzeihen?«
Mia schüttelte sturr den Kopf. »Seit der zweiten Klasse terrorisierst du mich mit deinen Freundinnen. Und jetzt bin ich gut genug, vergiss es, Prinzesschen.«
»Hey, komm mal wieder runter«, mischte sich Piet ein, der seinen Arm um Nele gelegt hatte.
»Das war klar, dass du kleiner Wixer zu der Tussi hältst«, fauchte ihn Mia an.
Ehe Michael dazwischen gehen konnte, wandte sie sich an ihn. »Was sollte das, du Arschloch?«, fauchte sie ihn kampfeslustig an.
Michael verkniff sich ein Schmunzeln. Das kleine Menschenkind wollte sich tatsächlich mit ihm anlegen. Es war lachhaft. Aber die Situation, in der sie sich befanden, war alles andere als komisch.
Er räusperte sich, ehe er sich mit leiser und ruhiger Stimme vorstellte: »Ich heiße Michael, und ich wollte euch keine Angst machen. Aber hier gibt es Wesen, die wirklich gefährlich sind. Ihr habt es doch an Nele gesehen, oder nicht? Habt ihr im Ernst geglaubt, ich hätte sie derartig manipuliert, dass sie sich selbst geschlagen hat?«
Das Mädchen mit den abrasierten Haaren starrte ihn fassungslos an. »Willst du uns etwa so eine abgefahrene Story auftischen von Teenagern, die sich im Wald verlaufen haben und dann auf Hexen und Monster stoßen?«
Michael schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Ihr wolltet doch wissen, wo wir sind, und ich kann und will euch auch gar keine heile Welt vorspielen. Denn die Gefahren, von denen ich gerade gesprochen habe, sind real.«
Neles Augen hatten sich bei seinen Worten geweitet. Sie klammerte sich noch fester an Piet, sodass dieser keine Luft mehr bekam und sich von ihr befreite.
Das aufgeregte Mädchen fing lauthals an zu heulen, sodass Mia sie genervt anfuhr: »Jetzt beruhig dich mal wieder. Glaub dem Spinner kein Wort. Der verarscht uns doch nur.«
Piet schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht. Von was für Gefahren sprichst du? Was kann so gefährlich sein, dass wir sogar davor fliehen müssen?«
Michael seufzte laut. Er hätte den Kids gerne eine Erklärung erspart. Aber sie mussten Bescheid wissen.
Mia schüttelte den Kopf. »Ihr seid die Freaks, nicht ich. Ihr seid echt Spinner. Ich werde jetzt zurückgehen. Kommst du mit, Luca?« Sie wartete gar nicht erst die Reaktion des korpulenten Jungen ab, drehte sich von den anderen fort und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Mit einem großen Sprung war Michael vor ihr und versperrte ihr so den Weg. Er sah ihr Erstaunen über seine Beweglichkeit.
»Auch wenn du mir nicht glauben willst, ihr seid im Schattenreich gelandet, und die Schatten sind sehr unangenehme Zeitgenossen, denn sie waren es, die Nele so durchdrehen ließen.«
Für einen Bruchteil blickten ihn ihre schokobraunen Augen ungläubig an, dann verfielen sie und auch die anderen in heiteres Gelächter.
Michael verdrehte genervt seine Augen. »Komisch sind andere Dinge. Vor euch steht kein Pausenclown. Ich will euch helfen, und ihr nehmt mich nicht für voll. Am liebsten würde ich euch eurem Schicksal überlassen, aber das kann ich nicht. Ich fühle mich, obwohl ihr so frech zu mir seid, verantwortlich für euch.«
Das Mädchen legte den Kopf leicht schief, als würde es über eine Entscheidung nachgrübeln, dann verzogen sich seine Lippen zu einem stummen Wort: Na gut!
Das war immerhin schon einmal ein kleiner Anfang. Innerlich atmete er erleichtert auf. Diese Bande in Sicherheit zu bringen war ja schwieriger, als einen Sack Flöhe zu hüten. Er wusste schon, warum er nicht Kindergärtner oder sogar Lehrer werden wollte.
»Okay, nun mal zu den Fakten. Ich habe euch keinen Scheiß erzählt. Normalerweise landet man hier nur, wenn man stirbt.«
Nele gab einen spitzen Schrei von sich, den Michael instinktiv mit einem lauten Knurren beantwortete.
»Nele, ich weiß, dass die Situation, in die ihr geraten seid, alles andere als schön ist, aber reiß dich zusammen. Ich habe keine Lust, dass die Schatten uns entdecken und wieder auftauchen. Ihr könnt bestimmt zurück in die Welt der Sterblichen, und ich kenne auch den Weg. Nur …« Michael hielt inne, sah alle nacheinander direkt und ernst an.
»Was … nur?«, fragte ihn Mia herausfordernd.
Michael holte tief Luft, bevor er weitersprach: »Nur müssen wir es auch bis zu diesem Übergang schaffen. Dieses Land birgt Gefahren, die selbst ich noch nicht alle kenne. Ich kann euch nur versprechen, mein Möglichstes zu tun, um euch zu retten.«
Er sah den Kindern an, dass seine Antwort sie regelrecht geschockt hatte. Aber die Wahrheit war besser als irgendwelche Illusionen und eine damit verbundene Unachtsamkeit.