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4. KAPITEL Spitaleintritt

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Ich wache bei meinen Eltern zu Hause auf und merke, wie sich gleich alles in mir zusammenzieht. In wenigen Stunden muss ich im Spital sein. Ich bin nervös, aber ich versuche positiv zu denken. Es wird alles gut. Augen zu und durch. Ich schaffe das!

Ich stehe auf und beginne mich für den Tag fertig zu machen. Ich bin völlig in mich gekehrt und grenze mich extrem ab. Nichts und niemand kommt wirklich an mich heran. Ich bin angespannt, verunsichert. Auch wenn ich mich zwinge positiv zu denken oder etwas lockerer zu sein, will sich die Anspannung nicht lösen.

Es gibt Momente, in denen ich lache, etwas auftaue. Im nächsten Augenblick aber bin ich schon wieder völlig zugeknöpft und hänge meinen Gedanken nach.

Auch Mam, Pap, meine Schwester und mein Freund Sacha scheinen innerlich Achterbahn zu fahren mit ihren Emotionen.

Ich habe das Gefühl permanent beobachtet zu werden, so als wären die Antennen alle auf mich gerichtet. Was macht sie gerade, was sagt sie, in welchem Ton sagt sie etwas, lacht sie oder ist sie traurig?

Ich packe alles zusammen, was ich in den nächsten Tagen brauche und fühle mich dabei wie eine Maschine. Ich mache einfach. Meine Bewegungen sind mechanisch. Ich habe das Bedürfnis alles in die Länge zu ziehen. Den Abschied hinauszuzögern. Ich bin total schlecht im Loslassen. Und dieser Abschied fühlt sich wie ein Loslassen an. Es graut mir regelrecht davor.

Alles ist bereit zur Abfahrt. Mein Kloss im Hals wird grösser. Vor dem Moment habe ich mich immer gefürchtet. Meinen Leuten tschüss sagen zu müssen. Ist es ein Abschied für immer? Werde ich sie nochmal sehen? Verdammt, schon wieder schießen mir solche negativen Gedanken durch den Kopf! Jetzt reiße dich mal zusammen! Es ist echt nervig. Ich will nicht negativ denken!

Ich umarme jeden einzelnen lange und versuche sie noch mal ganz nah zu spüren. In erster Linie nehme ich aber vor allem meinen Eigenschutz wahr. Der scheint im Moment wirklich mein ständiger Begleiter zu sein.

Auch das Thema Abschied ist in meinem Leben gerade sehr präsent. Habe ich früher kurz umarmt, einen Kuss gegeben oder einfach tschüss gesagt um dann davonzuspazieren, bekommt der Abschied jetzt viel mehr Gewicht. Ich habe das Gefühl, ich bin mich nur noch am Verabschieden. Von Menschen, Situationen, Erlebnissen, meinem vergangenen Leben. Und immer schwingen die Emotion und der Gedanke mit: War das jetzt das letzte Mal?

Das macht mich traurig, schwer und es nervt gewaltig!

Es ist für mich ein extrem schlimmes Gefühl, mich von meinen Eltern und der Schwester zu verabschieden mit der Frage im Kopf: „Sehe ich sie nochmal?“

Für mich war und ist es furchtbar daran zu denken liebe Menschen zu verlieren und nie mehr wiederzusehen. Das ist meine größte und tiefste Angst! Ich habe noch nie einen nahen Menschen verloren. Diejenigen die mir am nächsten standen, waren meine Urgroßeltern. Und jetzt könnte ich diejenige sein, die als nächstes geht. Mir dreht sich schier der Magen um, wenn ich mir vorstelle, wie meine Leute an meiner Beerdigung um mich trauern. Wie sie leiden, nur wegen mir. Das ist absolut das Letzte, was ich will! Also beschließe ich zu kämpfen.

Wie? Ich habe keine Ahnung. Aber aufgeben geht nicht. Das ist absolut keine Option! Das bin ich ihnen schuldig.

Ich versuche die Tränen zurückzuhalten. Ich will stark sein. Es gelingt mir teilweise. Als meiner Mutter die Tränen die Wangen hinunterrollen, ist aber auch bei mir der Damm gebrochen.

Der Moment, in dem ich im Auto sitze und mein Freund mich vom Haus wegfährt, alle dastehen und mir nachschauen, der hat sich tief in meine Erinnerung eingebrannt. Das war unglaublich intensiv.

Ich muss meine Leute verlassen und fahre jetzt sozusagen meinem Henker entgegen. So komme ich mir irgendwie vor.

Das Spital sieht aus wie ein großer, befremdender Kasten. Ich werde wieder nervös. Komme ich da je wieder lebend raus? Es ist wirklich unglaublich. Ich kann diese destruktiven Gedanken im Moment nicht kontrollieren. Es scheint, als hätten sie ein Eigenleben, eine Eigendynamik bekommen.

Als erstes heißt es: Ab zur Patientenaufnahme! Da werden meine Personalien, Krankenkasseninfos usw. aufgenommen. Das ist also der Eintritt in die Höhle des Löwen. Jetzt gilt es ernst, jetzt kann ich mich nicht mehr drücken.

Und ab jetzt heiße ich Wilma Black!

Ich bin ehrlich entsetzt, nein geschockt. Wie kann man nur mit solchen Pseudonymen arbeiten? Da merkt man doch sofort, dass etwas faul ist. Dabei habe ich mir doch schon so schöne Namen für mich ausgedacht. Ich bin enttäuscht. Niemand hat mir erzählt, dass das Spital eigens eine Namenliste dafür hat und dass man einfach einen Namen zugeteilt bekommt.

Als ich die Option bekam, unter einem Pseudonym im Spital zu sein, kam mir das sehr gelegen. Es verschaffte mir Zeit.

Ich muss das alles zuerst selber begreifen. Und ich weiß ja nicht, wie alles herauskommt. Was, wenn etwas schiefläuft? Wenn jetzt die Presse von all dem Wind bekommt, dann bin ich geliefert. Beim Gedanken an Journalisten wird mir unwohl und ich stehe sofort unter Druck.

Ich hätte keine Ahnung wie reagieren. Ich bin ja sonst schon mit allem hier überfordert. Wilma Black ermöglicht mir, mich freier zu fühlen, gibt mir Luft zum Atmen und eben Anonymität. Aber mal ehrlich, wer um Himmelswillen heißt schon so? Da riecht man doch schon kilometerweit, dass etwas mit diesem Namen nicht stimmt.

Ich bekomme ein Einzelzimmer. Es ist weder groß noch klein. Ich versuche mich einzurichten so gut es eben geht. Mein Blick fällt auf das Schild am Bettpfosten. Da steht es schwarz auf weiß. Ich heiße jetzt Wilma Black. Tanja Gutmann ist für die nächsten Tage auf Eis gelegt. Ich fühle, wie wieder ein Schamgefühl in mir hochsteigt. Wilma Black! Derjenige, der sich diesen Namen ausgedacht hat, muss wohl ein Fred-Feuerstein-Fan gewesen sein.

Ich kann mich nur mit Mühe damit abfinden. An eine Identifikation ist hier definitiv nicht zu denken!

Dieses Zimmer ist also für die nächste Zeit mein „Zuhause“.

Sacha und ich sitzen da und warten. Und warten, und warten … Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. In diesem Warten steckt die ganze Emotionsfülle, die man sich vorstellen kann. Ich bin voll auf der Achterbahn. Da sind Tränen, Lacher, Küsse, beklemmendes Schweigen und vor allem Angst. Panik. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Todesangst. Mir ist kalt, ich habe Gänsehaut, der Kloss im Hals wird immer grösser. Ich fühle mich komplett in die Ecke gedrängt, wie ein verängstigtes Tier. Am liebsten würde ich laut herausschreien, die ganzen unangenehmen Gefühle rauslassen, meine Sachen packen, wieder nach Hause fahren und sagen: „Ihr könnt mich alle mal! Da mache ich nicht mit“. Ich will einfach mein „altes“ Leben wieder zurück! So wie es vorher war! Die Probleme, mit denen ich mich vorher herumgeschlagen hatte, sind jetzt nur noch Problemchen. Sie scheinen weit hinten am Horizont nur noch kleine Pünktchen zu sein. Eigentlich sind es gar keine mehr.

Was kommt hier auf mich zu? Ich habe keine Ahnung! Und genau das macht mir so zu schaffen. Ich weiß ja, dass das Leben unberechenbar sein kann. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ausgeliefert. Abhängig von anderen, von Ärzten. Mein Leben, meine Zukunft befindet sich in den Händen von Fremden und ich kann nur hoffen, dass sie gut und vorsichtig damit umgehen.

Es ist ein verdammt unangenehmes Gefühl, Leuten sein Leben anvertrauen zu müssen, die man nicht mal kennt.

Ich habe vor allem Angst vor Schmerzen. Werde ich welche haben, wenn ja, was für welche und wie stark?

Stecke ich mitten in einer Woge der Angst, dann brennt und vibriert mein Brustkorb innerlich, mein Magen zieht sich nervös zusammen und egal wie viel ich atme, ich bekomme zu wenig Luft. In solchen Momenten bin ich ganz in mich gekehrt und abgeschottet von allem und jedem.

Trotz dieser Angstwellen versuche ich mir nach außen möglichst nichts anmerken zu lassen und den Ball flach zu halten. Das hilft mir den Boden unter den Füssen zu behalten. Würde ich alle diese Gefühle nur schon meinem Freund kommunizieren, ich glaube, ich würde durchdrehen! Dann würden diese Ängste die Oberhand über mich bekommen.

Es ist ein einziges Auf und Ab.

Ich bin so froh, ist Sacha da. Er lenkt mich immer wieder von meinen trüben Gedanken ab. Hin und wieder reißen wir auch mal einen lustigen oder ironischen Spruch. Dann lachen wir drauflos. Das tut extrem gut und schafft ein Stückchen Normalität. Lachen ist die beste Medizin in schwierigen Momenten und für mich jetzt gerade Balsam für die Seele. Einer meiner Leitsätze im Leben ist: Einfach nie den Humor verlieren. Diese Einstellung kommt mir jetzt zugute.

Tipp: Mit der akuten/spezifischen Angst umgehenEine akute Angst ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl, sie kann auch lähmend sein. Sogar so, dass die einfachsten Alltagsaufgaben zu einem schier unmöglichen Unterfangen werden können. Aber du bist der Angst nicht machtlos ausgeliefert. Du kannst viel für dich selbst tun.
Finde heraus, wer und was dir die Situation und die Angst erträglicher macht.
Wie reagiert dein Körper auf die Angst? Wie und wo nimmst du sie wahr? Das kann z. B. ein Druck, eine Verkrampfung oder eine Anspannung sein.
Versuche deine Empfindungen zu beschreiben.
Fühlst du die Angst, z. B. als Druck im Nacken, dann geh mit deinen Gedanken dort hin und versuche alles zu erfassen. Nur schon das Bewusstwerden und Benennen alleine kann lösend sein.
Achte auf deinen Atem. Versuche im Moment der Angst tief in den Bauch einzuatmen und beim Ausatmen die Anspannung loszulassen.
Bewegung kann helfen die Energie abzubauen und von der Angst weg wieder mehr zum Körpergefühl zurückzufinden.
Wer sind deine Vertrauenspersonen und wer kann dich auch wirklich unterstützen? Wer tut dir gut? Es gibt Menschen, die mit solchen Situationen selbst überfordert sind.
Was erwartest du von deinen Vertrauenspersonen und wie können sie dir helfen? Kommuniziere das deinen Leuten auch.
Sprich über dein Schicksal und deine Angst, aber nur so viel und so oft es dir guttut.
Ist man draußen unter weiteren Leuten, sind auch Codewörter eine gute Möglichkeit die Angst und andere Gefühle zu kommunizieren, ohne dass gerade jeder mitbekommt, wie es um einen steht.
Gib dir eine Tagesstruktur/Tagesplanung.
Verliere den Humor nicht. Nimm dich selbst auf die Schippe oder tu, was auch immer zu dir passt. Lache.
Denke positiv. Alles wird gut. Die Angst ist nur ein Moment. Sie wird wieder vorbeigehen und dann geht es dir dafür doppelt so gut.
Sei dir bewusst, Angst hat jeder Mensch. Du bist also nicht der /die Einzige.
Dem Leben so nah wie nie zuvor

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