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2. KAPITEL Mit der Diagnose in den Alltag
ОглавлениеVon unterwegs rufe ich zu Hause an. Mein Vater nimmt den Anruf entgegen. Kaum höre ich seine Stimme, übermannen mich wider die Emotionen. Er fragt, was los sei. „Ich habe einen Hirntumor!“, schreit es förmlich aus mir heraus.
Dann ist es einen Moment still. Damit hat mein Vater nicht gerechnet.
Heulend erzähle ich ihm in der Kurzversion, was gerade passiert ist.
„Komm doch jetzt erst mal nach Hause, dann schauen wir weiter“, meint er geschockt und gleichzeitig beruhigend.
Er hatte Angst mich so nach Luzern fahren zu lassen, wie er mir später mal erzählte. Er wollte sich erst ein Bild von mir machen und mich in Sicherheit wissen.
Daraufhin rufe ich meinen Freund Sacha an, denn auch er wartet auf meinen Bericht und wir wollten ja heute mit seiner Familie Weihnachten feiern. Wie mein Vater war auch er völlig vor den Kopf gestoßen.
Zu Hause in Derendingen angekommen, fällt mir als erstes meine Schwester um den Hals. Ihr laufen die Tränen nur so runter. Wir stehen im Hauseingang beieinander und umarmen uns. Mein Vater wirkt wie der Fels in der Brandung. Ich spüre, dass auch ihm alles sehr nahegeht, er aber versucht sich zusammenzureißen, den Ausgleich zu schaffen und uns etwas zu beruhigen. „Es kommt schon gut, das schaffen wir“, meint er immer wieder.
Als Mam von der Arbeit nach Hause kommt, merkt sie natürlich sofort, dass hier etwas nicht stimmt. Sie ist fassungslos. Es sei gewesen, als ob einem jemand den Boden unter den Füssen weg zieht, hat sie mir später einmal erzählt. Schock pur.
Irgendwie komme ich mir etwas blöd vor und es tut mir total leid, dass schon wieder ich diejenige bin, die ihnen Sorgen bereitet.
Ich stehe da, umarme meine Mam und spüre, wie sie ein Flashback hat. Ich bekomme ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Keine Ahnung warum, aber es ist so. Ich merke und sehe ihr an, dass Erinnerungen an früher Erlebtes viele Emotionen auslösen.
Als zwei Monate altes Baby hörte ich in der Nacht immer wieder auf zu atmen. Meine Mutter wachte zum Glück immer rechtzeitig auf und brachte mich dazu, meine Lungen wieder mit Luft zu füllen. Sie hat mir mal gesagt, dass es eine Zeit gab, da traute sie sich fast nicht mehr einzuschlafen, weil sie Angst hatte mal nicht rechtzeitig aufzuwachen. Aber das war natürlich nie der Fall.
Es ist unglaublich, wie man als Mutter ein Band zum und eine Sensibilität für das eigene Kind entwickelt. Dieses „Spüren“ verblüfft mich, jetzt da ich selber Mami bin, auch immer wieder.
Damals stellte sich heraus, dass ich stark an Asthma litt. Ich war bis zu meiner Teenagerzeit immer wieder krank. Angina und Bronchitis waren sozusagen treue Begleiter. Manchmal fehlte ich in der Schule in einem Jahr insgesamt ein bis zwei Monate. Viele Arzttermine, Untersuchungen, Medikamente und Therapien folgten, bis ich gegen Ende der Schulzeit die Krankheit langsam verwuchs.
Die Sorge, dass etwas mit mir nicht stimmt und dass ich sterben könnte, scheint sie jetzt wieder voll einzuholen.
Info: Das Bewusstsein und das Unterbewusstsein
Rund 5 % von allen unseren Erfahrungen werden im Bewusstsein gespeichert und sind somit jederzeit für uns abrufbar. Die restlichen 95 %, von dem was wir erleben, werden im Unterbewusstsein abgelegt.
Im Durchschnitt verarbeitet unser Bewusstsein ca. 8 Bytes pro Sekunde unser Unterbewusstsein hingegen 1.3 Mio. Bytes pro Sekunde. Das Unterbewusstsein verarbeitet also rund 275 000-mal mehr Informationen als unser Bewusstsein.
Es ist ein immens großer und bunter Topf an Erlebnissen und Gefühlen, die wir nicht einfach so abrufen können. Was aber nicht heißt, dass sie in unserem Leben keine Rolle mehr spielen. Im Gegenteil, sie wirken permanent auf unser Leben, unsere Entscheidungen, Gedanken, Reaktionen und Gefühle ein und steuern uns gewissermaßen.
Verarbeiten wir ein belastendes Erlebnis nicht oder nicht ganz, bleibt die Erfahrung als negative Prägung und negative Energie gespeichert, bewusst oder unbewusst.
Ist sie im Bewusstsein vorhanden, wird aber über lange Zeit nicht beachtet, kann es sein, dass sie irgendwann ins Unterbewusstsein umgespeichert wird. Wir haben dann das Erlebte als Ganzes oder Teile davon schlicht „vergessen“. Vor allem Gefühle, die auf Grund von mehr oder weniger einschneidenden Erlebnissen entstanden sind, werden nach einer bestimmten Zeit im Unterbewusstsein abgespeichert, sonst würden wir permanent mit einem riesigen Gefühlschaos durchs Leben gehen. Das Unterbewusstsein ist also sozusagen auch unser Endlager.
Manchmal tauchen „verschwundenen“ Erfahrungen, ausgelöst durch bestimmte Situationen, Bilder, Gerüche oder auch Musik, plötzlich aus der Versenkung wieder auf. Das kann z. B. in Form von klaren Erinnerungen oder einfach Gefühlen sein. Oft sagen die Leute dann: „Jetzt habe ich ein Déjà-vu.“ Oder sie haben das Gefühl, dass sie die Situation irgendwie kennen, sie aber nicht einordnen können.
Da der Körper ein unglaubliches Selbstheilungsbedürfnis hat, wird er vor allem bei stärkeren, negativ prägenden, nicht verarbeiteten Erlebnissen Situationen schaffen oder eine Möglichkeit finden, um uns zum Hinschauen und Verarbeiten zu zwingen. Vielleicht entwickeln wir Ängste und Phobien, bekommen körperliche respektive psychische Beschwerden oder ein Erlebnis lässt uns schlicht nicht mehr los.
Eine große seelische Narbe bleibt meistens eine Narbe. Aber es kommt darauf an, wie wir sie verheilen lassen. Je nachdem bleibt eine größere oder eben bloß kleinere Narbe, die kaum sichtbar oder fühlbar ist und uns in unserem Leben nicht einschränkt.
Wir haben immer die Chance an unseren Erlebnissen zu wachsen.
Haben wir eine negative Erfahrung gemacht und verarbeiten wir diese gut und vollständig, können wir gestärkt daraus hervorgehen. Wir haben also die negative Erfahrung sozusagen in etwas Positives verwandelt. Wir haben uns weiterentwickelt.
Wir tun also gut daran, Probleme und negative Erlebnisse möglichst rasch anzugehen und sie gut zu verarbeiten.
Denn, wie gesagt, alles was im Unterbewusstsein ist, beeinflusst uns weiterhin in unserem Leben. Ob positiv oder negativ – ob wir wollen oder nicht. Und abgesehen davon, je länger wir belastende Probleme vor uns herschieben, desto größer werden sie in der Regel.
Es gibt eine wunderbare Methode, um bewusst und direkt an den Erfahrungsschatz im Unterbewusstsein zu gelangen: Die Hypnose.
Info: Was ist Hypnose
Hypnose ist eine der ältesten Heilmethoden der Welt. Schon die Ägypter haben sie angewendet.
Sie ist ein ganz natürlicher Zustand, den wir jeden Tag mehrmals von selbst erleben. Zum Beispiel, wenn wir fernsehen und total im Film versinken oder uns auf etwas konzentrieren und alles um uns herum vergessen.
Hypnose ist nichts anderes als ein veränderter Bewusstseinszustand. In der Hypnosetherapie wird dieser Bewusstseinszustand „künstlich“ erzeugt, indem der Klienten in eine Tiefenentspannung, auch Trance genannt, versetzt wird. Dabei ist der Körper unglaublich entspannt und der Kopf hellwach.
In der Hypnosetherapie umgehen wir mit der Trance die sogenannte kritische Instanz. Diese entscheidet, welche Erlebnisse wir im Bewusstsein und welche im Unterbewusstsein abspeichern. Mit dieser Umgehung können wir direkt zum Unterbewusstsein und damit zu den 95 % der dort gespeicherten Erinnerungen gelangen.
Eine therapeutische Hypnose hat nichts mit Showhypnose zu tun.
Ein Grundsatz gilt auch hier: Man kann niemanden in eine Trance versetzen, der das nicht möchte.
In der Therapie gehen wir den Ursachen gewisser Anliegen auf den Grund, mit dem Ziel sie zu neutralisieren oder gar ganz aufzulösen. Der Klient kann unter Hypnose ganz normal sprechen, hört genauso gut wie im Wachzustand und er weiß hinterher auch alles, was passiert ist und was wir besprochen haben.
Hypnose kann in vielerlei Hinsicht beim Lösen von Problemen, Lindern von Beschwerden und Erreichen von Zielen helfen. Zum Beispiel bei psychosomatischen Symptomen, Phobien und Ängsten, Gewichtsproblemen, Süchten, Blockaden, Depression, Motivationsschwierigkeiten, Burnout, Schmerzen, Stress usw.
Sie wird aber auch zur Potentialausschöpfung, Leistungssteigerung oder Ressourcenausschöpfung angewendet, zum Beispiel im Spitzensport, bei Prüfungen oder im Beruf.
Jetzt sitze ich da und bin schon wieder diejenige, um die sich meine Eltern Sorgen machen.
Ich spüre, dass unsere Familie noch einmal stärker zusammenrückt. Ich weiß, dass ich voll auf meine Leute zählen kann und dass ich ihre ganze Unterstützung habe. Das tut mir unglaublich gut, gibt mir enorm Sicherheit und auch eine gewisse Ruhe.
Wir sitzen am Tisch und ich erzähle alles, was vor rund zwei Stunden über mich hereingebrochen ist. Die Situation ist immer noch völlig surreal. Ich begreife es überhaupt nicht und kann es in keiner Art und Weise fassen. Ich habe einen Hirntumor?!
Innerlich bin ich zwar sehr aufgewühlt, aber ich bleibe sachlich. Ich bin wieder in der genau gleichen Schutzhaltung, wie als ich die Diagnose erfahren habe. Meine Glasscheibe ist unten. Es gibt kurze Momente in denen niemand etwas sagt. Momente, in denen jeder in sich hineinzuhorchen scheint oder vielleicht auch einfach niemand weiß, was er sagen soll. Schließlich war keiner von uns je in einer solchen Situation. Mein Horizont reicht in diesen stillen Sekunden lediglich ein paar Zentimeter über meinen Körper hinaus. Ich bin völlig in mich gekehrt.
Meine Eltern möchten mich natürlich ins Spital begleiten. Ich denke, es macht ihnen zu schaffen, dass sie mich heute doch alleine zur Untersuchung haben fahren lassen. Obwohl ich das ja so gewollt hatte. Jetzt möchten sie sichergehen, dass ich gut aufgehoben bin und für mich da sein. Das ist wunderschön. Aber ich sage ihnen, dass mein Freund mich ins Spital bringen wird, dass sie aber bitte nach der Operation da sein sollen.
Und ich bitte sie, den anderen Familienmitgliedern morgen an den Weihnachtsfeiern nichts von meiner Situation zu erzählen. Ich möchte ihnen nicht auch noch die schöne Stimmung vermiesen und auch nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen. Vor allem meine Großeltern würden wohl außer sich sein und sich den Kopf zerbrechen. Wenn alles vorbei ist, kann ich es ihnen dann selber sagen und sie auch gleich beruhigen.
Ich habe mich zudem entschieden anonym ins Spital einzutreten. Ich will meine Ruhe haben und mich voll auf mich konzentrieren. Ich möchte nicht, dass irgendjemand davon erfährt. Am allerwenigsten die Presse! Meine Eltern und meine Schwester verstehen mich voll und ganz und sichern mir zu, alles für sich zu behalten.
Info: Psychischer Schock/Akute Belastungsreaktion/Trauma
Ein traumatisches Erlebnis, wie z. B. eine Gewalterfahrung, einen Unfall, der Tod eines Angehörigen oder eine niederschmetternde medizinische Diagnose erleben die meisten Menschen im Laufe des Lebens. Ist man von einem sehr belastenden Erlebnis direkt betroffen, als naher Angehöriger involviert oder auch einfach Beobachter eines potentiell traumatischen Ereignisses, kann man dadurch in einen psychischen Schockzustand versetzt werden.
Das auslösende Ereignis tritt plötzlich und unerwartet auf. Die traumatische Situation konfrontiert uns mit zu viel „Information“, die wir im Moment nicht verarbeiten können.
Im Moment des Schocks schaltet der Körper auf das Notprogramm. Kampf, Flucht oder Erstarrung. Der Blutdruck steigt, der Puls rast, Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet.
Ein derart belastender Moment kann z. B. als Lebensgefahr, intensive Furcht oder Kontrollverlust wahrgenommen werden und Gefühle wie Ohnmacht und Hilflosigkeit auslösen.
Psychische Reaktionen können u. a. auch Desorientierung, Rückzug in sich selber, Hektik oder Fluchtreaktion, mechanische Handlungen oder auch eine veränderte Wahrnehmung sein, eine sogenannte Dissoziation. Man hat ein Gefühl der Unwirklichkeit, steht neben sich, fühlt sich in Watte gepackt oder hinter einer Glasscheibe.
Jeder Mensch versucht Belastungen zu bewältigen oder in sein Leben zu integrieren und sie so zu kompensieren. Welche Wege er dabei einschlägt, hängt von seiner Persönlichkeit, seinen Erfahrungen/Prägungen und seinen individuellen sozialen Fähigkeiten ab.
Meistens können belastende Erfahrungen verarbeitet werden.
Kann jemand den Schock nicht bewältigen und entwickelt diese Person z. B psychische Probleme, Ängste, oder Depressionen, dann hat die psychische Belastung möglicherweise zu einer akuten Belastungsreaktion oder unter Umständen gar zu einem Trauma geführt.
Ein Trauma ist eine schwere körperliche oder seelische Verletzung.
Deshalb ist es wichtig sich professionelle Hilfe zu holen.
In der Regel gilt: Je länger man wartet, bis man ein Trauma anpackt, desto länger wird es auch dauern, bis man es auflösen kann.
Tipp: Wie verarbeite ich eine Schocksituation?Ob man direkt von einem Schicksalsschlag oder Erlebnis betroffen ist, zu den Angehörigen und Freunden zählt oder man einfach eine belastende Situation beobachtet hat, unter Schock stehen oft | |
– | Akzeptiere, dass der Schock/das Trauma geschehen ist. |
– | Gib dir Zeit, den Boden unter den Füssen wieder zu finden. Mach einen Schritt nach dem anderen. |
– | Lass dich nicht hängen, hole dir als Erstes die psychische und seelische Stabilität zurück, indem du versuchst zu verstehen, was passiert ist, dir genügend Informationen einholst und versuchst, die Situation richtig einzuschätzen. Kannst du dir nicht selber erklären, was gerade passiert ist, dann finde jemanden, der dir das vermitteln kann. |
– | Verkrieche dich nicht, sprich mit deinen Vertrauenspersonen oder einem Therapeuten über das Erlebte und die Gefühle. |
– | Höre in dich hinein und tue was dir guttut. |
– | Begib dich an einen gewohnten Ort oder umgib dich mit Menschen, die dir Sicherheit und Halt geben. |
– | Auch Rituale können dir Sicherheit vermitteln. |
– | Sei dir bewusst, die Schocksituation ist nur eine vorübergehende Situation. |
– | Jeder Mensch kann in eine solche Situation geraten und hat Ängste. Nimm sie an und stelle dich ihnen. Du wirst sehen, sie verlieren ihre Kraft. |
– | Wenn die Belastungssymptome anhalten, hole dir professionelle Hilfe bei einem Therapeuten. |
– | Lass dich nur von jemandem therapieren, bei dem du ein gutes Gefühl hast und dem du vertrauen kannst. |
– | Verarbeite die traumatische Situation gründlich. |