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5. KAPITEL Angiographie – Endlich geht etwas!

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Es klopft kurz an der Tür. Mein Herz macht einen Satz und mein Puls schnellt in die Höhe. „Geht es etwa schon los? Ich bin noch gar nicht bereit dazu!“, meine Gedanken überschlagen sich fast. Aber es ist nur eine Pflegefachfrau, die vorbeikommt, um die üblichen Untersuchungen zu machen: Blutdruck und Temperatur messen sowie Blut entnehmen.

„Eine Kollegin kommt gleich noch vorbei um mit Ihnen das Eintrittsgespräch zu machen“, informiert sie mich zum Schluss. „Gut, dann kann ich ja den nächsten Türklopfer etwas entspannter angehen“, rutscht es aus mir heraus.

Die Pflegefachfrau, die mit mir die Pflegeanamnese macht, wird hier auch meine Bezugsperson sein.

Dann heißt es wieder warten. Die Ungewissheit, wann was passiert, macht mich echt wahnsinnig. Ich bereite mich gerne psychisch auf Herausforderungen vor. Und wenn ich in einer unangenehmen Situation stecke, dann möchte ich sie so schnell wie möglich hinter mich bringen.

Der nächste Besuch ist der von Dr. Lukes. Er kommt mit mehreren Assistenzärzten zum ersten Mal auf Visite. Heute ist wohl der Tag der Anamnesen. Denn auch die Ärzte wollen eine genaue Standortbestimmung von mir und auch sonst noch so einiges wissen. Im Gegenzug klärt mich Dr. Lukes auf, was sie alles mit mir vorhaben. Zuerst steht eine Voruntersuchung, eine sogenannte Angiographie, oder ganz genau, eine selektive intraarterielle Angiographie, auf dem Programm. Dafür musste ich auch nüchtern hier antraben, für den Fall, dass es Komplikationen gibt und ein Eingriff erforderlich wird.

Info: Angiographie

Die Angiographie ist ein spezielles Röntgen-Untersuchungsverfahren zur Darstellung von Arterien im menschlichen Körper.

Da diese Gefäße nicht ohne Weiteres sichtbar sind, müssen sie für den kurzen Moment der Röntgenbestrahlung mit Kontrastmittel gefüllt werden.

Dies geschieht mit Hilfe eines Katheters.

Nach örtlicher Betäubung wird die Arterie (meistens Leistenarterie) mit einer Nadel punktiert und eine sogenannte Schleuse gelegt. Durch diese wird dann der Katheter in die Arterie eingeführt und bis an den Ort der zu untersuchenden Gefäße (in der Neuroradiologie Hals- und Kopfarterien) vorgeschoben. Danach wird Kontrastmittel injiziert.

Während der Kontrastmittelapplikation werden in schneller Folge Röntgenbilder angefertigt.

Nach der Untersuchung wird der Katheter wieder entfernt, die Punktionsstelle zur Blutstillung komprimiert und anschließend für ca. 6 Stunden ein Druckverband angelegt.

Wird die Angiografie während eines stationären Aufenthalts vorgenommen, ist eine Bettruhe von ca. 6 Stunden einzuhalten.

Die notwendigen Kontrastmittel sind in der Regel sehr gut verträglich. Überempfindlichkeitsreaktionen kommen selten vor.

Eine Angiographie wird gewöhnlich zur Darstellung von Erkrankungen der Gefäße verordnet (u. a. bei Arteriosklerose, Embolien und Aneurysmen).

Bei Tumoren werden mit der Angiographie die Blutgefäße rund um den Tumor genau lokalisiert, damit der Chirurg weiß, welches Ausmaß dieser hat, wie das Durchblutungsverhältnis rund um ihn herum ist und ob er keine größeren Blutadern eingeschlossen hat. Diese Informationen sind sehr wichtig, um den besten Zugang zum Tumor zu finden, denn bei einer Hirnoperation ist klar: Ein kleiner Patzer und es hat fatale Folgen.

Ich bekomme also einen Schlauch in meine Beinarterie gesteckt und dann stoßen sie das Ding auch noch durch meinen halben Körper! Das kann ja heiter werden! Nur schon der Gedanke daran verpasst mir von Kopf bis Fuß einen Adrenalinstoß. Da kommt ja noch mehr auf mich zu, als ich gedacht habe.

„Die Operation ist für morgen, 26. Dezember am Vormittag geplant“, informiert mich Dr. Lukes weiter. Ich fühle mich plötzlich ganz klein und werde sehr still. Dabei schaue ich wohl etwas beunruhigt in die Runde, denn er meint weiter: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich mache solche Operationen tagtäglich und habe sehr viel Erfahrung darin. Das bringen wir gut über die Bühne.“ Ja, diesen Satz kann ich gut brauchen. Er beruhigt mich und schafft Vertrauen. Im Moment sind meine Gefühlssensoren sehr fein eingestellt. Ein falscher Ton, eine komische Geste und ich bin schon wieder auf der Achterbahn.

Etwas brennt mir aber noch auf der Zunge: „Wann werden denn meine Haare abgeschnitten?“, frage ich. Sie schauen mich verdutzt an. Gefolgt von einem breiten Grinsen. „Das wird während der Narkose gemacht. Aber es werden nur die Haare im Bereich des Hautschnitts abrasiert. Alles andere bleibt dran“, erklärt mir Dr. Lukes lachend. Ich bin unglaublich erleichtert und komme mir gleichzeitig ziemlich blöd vor! Ich hatte echt Angst, dass ich, wenn ich zuhause bin, andauernd angequatscht werde und mich immer erklären muss. Dabei möchte ich doch, dass niemand von all dem hier erfährt.

„Ach nein, jetzt habe ich mich schon so auf deine Glatze gefreut“, grinst mir Sacha entgegen. „Ja, ja, du kannst schon lachen“, entgegne ich ihm schmunzelnd. „Wenigstens haben sich die Ärzte amüsiert.“ Und ich habe jetzt mal einen Plan, auf den ich mich einstellen und vorbereiten kann. Das ist wichtig für mich. Das sind die Grashälmchen an denen ich mich festhalte und die meinem Leben wieder gewisse Eckpfeiler geben. Ein wenig trügerische Sicherheit habe ich also wieder zurückerlangt. Aber eben trügerisch! Ich fahre weiter Achterbahn mit meinen Emotionen. Mal bin ich ruhig und kann sogar einen Spruch reißen, mal schüttelt es mich emotional wieder richtig durch. „Nach der Operation bin ich gehirnamputiert“, witzle ich zu Sacha. „Du kannst dich also auf etwas gefasst machen.“ Humor und Ironie sind für mich in schwierigen Situationen gute Begleiter. Ich nehme mich gerne auf die Schippe, auch jetzt. Es macht alles viel leichter und erträglicher.

Nach erneutem längerem und nervenaufreibendem Däumchen drehen besucht mich der interventionelle Neuroradiologe um mit mir die Angiographie zu besprechen. Wir beide haben das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Das merke ich sofort. Ich habe keine Ahnung, ob er einfach einen schlechten Tag hat, ob er eher etwas kauzig und mürrisch veranlagt ist oder ob ich ihm einfach nicht sympathisch bin. Es ist auch völlig egal, denn mittlerweile liegen meine Nerven so blank, dass ich einfach nur noch froh bin, dass es endlich vorwärtsgeht. Immer in der Warteposition, mit dem Gedanken, dass ich dem Ganzen ohnehin nicht entkommen kann, ist richtig mühsam. Es kostet mich unglaublich viel Energie.

Der Spezialist erklärt mir das genaue Vorgehen. Der Nervenkrieg geht wieder von vorne los. Jetzt ist mir erst recht mulmig. Als wäre das nicht schon genug für mein Gemüt, höre ich von ihm auch noch beiläufig den Satz. „Ja, so eine Hirntumoroperation ist nicht ohne. Das ist ein großer Eingriff. Das darf man nicht unterschätzen.“ Diese Aussage sitzt. Ich bin ja nicht naiv oder dumm. Ich weiß, dass das kein Zuckerschlecken ist. Aber in dem Tempo, in dem alles in den letzten drei Tagen passiert ist und in meiner chaotischen psychischen Verfassung habe ich trotz der Todesangst und all meiner Gedanken bis jetzt immer noch nicht richtig realisiert, was diese Operation wirklich heißt, was da alles passieren kann und dass sie alles andere als ein Spaziergang ist.

Das Vertrauen, das Dr. Lukes mir bei der Visite gegeben hat, ist jetzt mit diesem Satz zunichtegemacht.

Wem und was soll ich denn jetzt glauben? Es kommt alles gut, ich muss mir keine großen Sorgen machen oder das ist ein schwieriger Eingriff und man weiß ja nie?!

Ich bin völlig hin- und hergerissen und stecke in einem regelrechten Zwiespalt. Dass beides stimmen könnte, das kommt mir vor lauter Herrje nicht in den Sinn.

Der interventionelle Neuroradiologe verabschiedet sich wieder. Ich bin froh, dass ich mit ihm nicht länger sprechen muss. Der Typ ist für mich wie Glatteis. Jemand, der zwischenmenschlich eher ein Elefant im Porzellanladen ist, kann ich im Moment nicht in meiner Nähe gebrauchen.

Sacha und ich schauen uns nur an. Der Blick den wir austauschen spricht Bände.

Kurz darauf werde ich für die Angiographie abgeholt. Mit einem tiefen Atemzug und einem: „Bis später“, verabschiede ich mich von Sacha, drücke ihm kurz einen Kuss auf den Mund und mache mich auf den Weg in die Höhle des Löwen. Irgendwie ergebe ich mich jetzt einfach der Situation. Es macht ja eh keinen Sinn negative Gedanken zu haben oder sich dagegen zu sträuben. Machen muss ich es sowieso. Dieses Sich-Ergeben ist wohl viel mehr eine unbewusste Taktik um nicht in eine lähmende Angst zu versinken, als eine eigentliche Resignation.

In der Neuroradiologie muss ich als erstes in ein Spitalhemd schlüpfen. Unten ohne! Na super! Wer selber schon mal so ein Hemd tragen musste, weiß wovon ich rede. Das Hemd hat hinten einen Schlitz von oben bis unten. Zusammengehalten wird es nur oben mit einem kleinen Verschluss. Wenn ich mich auch nur ein kleines bisschen nach vorne neige habe ich das Gefühl mein ganzer Hintern schaut zum Schlitz heraus. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so im hohlen Kreuz gegangen wie die paar Meter von der Umkleidekabine zum Untersuchungszimmer.

Ich muss mich auf eine schmale Untersuchungsliege legen. Wenigstens bin ich jetzt das Hinternproblem los. Dafür spüre ich jetzt wie ein Adrenalinstoß durch meinen Körper jagt.

Vor dem Untersuchungstisch stehen ganz viele Monitore. Eine Fachperson für medizinisch-technische Radiologie (MTRA) erklärt mir, wofür diese sind und verbindet mich mit all den Messgeräten für Blutdruck, Sauerstoffsättigung, EKG und legt mir einen intravenösen Zugang (Venflon).

Dann steht er plötzlich neben mir, der interventionelle Neuroradiologe von vorhin. Mir wird mulmig. Er ist mir nicht ganz geheuer.

Jetzt geht’s richtig los. Er betäubt meine rechte Leiste. Ich atme tief ein und aus. Angst vor Spritzen habe ich nicht, aber ich finde sie auch nicht prickelnd.

Jetzt bin ich richtig nervös. Die Miss Schweiz Wahl war nichts dagegen! Das Leben zwingt mich gerade Sachen zu tun, die ich in keiner Art und Weise will.

Ist die Leiste gefühllos, wird als Erstes die Arterie punktiert. Dazu wird eine Hohlnadel, gefolgt von einem feinen Draht, ins Blutgefäß eingeführt. Danach wird die Nadel wieder herausgezogen. Der Draht dient nun dem Arzt als Führungsschiene, damit er eine sogenannte Schleuse platzieren kann (Seldingertechnik). Ich fühle mich wie beim Zahnarzt beim Bohren. Ich stehe unter Hochspannung und weiß nicht, wann ein Nerv getroffen wird und ein Schmerz durch den Körper jagt.

Manchmal muss die Haut nach und nach gedehnt werden, wenn diese zu straff ist oder eine größere Schleuse verwendet werden muss. Und da beginnt das Problem. Der interventionelle Neuroradiologe bringt die rund 2 mm dicke Schleuse einfach nicht durch meine Haut in die Arterie rein.

Er versucht es immer wieder und ich merke, wie er langsam ungeduldig wird. „Ich beginne noch mal von vorne“, sagt er zur MTRA. „Oh nein! Verdammt!“, schreie ich innerlich. Es tut höllisch weh. Abgesehen davon, dass ich da jetzt ein „kleines Loch“ in meiner Leiste habe, an dem er auch noch rumdrückt, ist das eine sehr empfindliche Stelle. Von wegen Betäubung und gefühllos! Innerlich bin ich verzweifelt und aggressiv gleichzeitig. „Mann, jetzt mach endlich vorwärts!“, schnaube ich in mich hinein. Ich versuche mich zusammenzureißen, tapfer zu sein, mir ja keine Blöße zu geben. Ohne Erfolg.

Im nächsten Moment sehe ich nur noch Köpfe über mir die mich prüfend anschauen. Jemand sagt: „Frau Gutmann, Frau Gutmann … Sie kommt wieder.“ Dabei tätschelt der wahnsinnig sympathische interventionelle Neuroradiologe meine Backe und ich höre wie ein Alarm bimmelt. Ich bin doch tatsächlich in Ohnmacht gefallen! Der Schmerz war einfach zu stark. Na super! Das ist mir gar nicht peinlich. Aber jetzt ist wenigstens diese Schleuse drin! Sie schauen mich alle prüfend an und fragen mich, ob alles o. k. ist. Ich nicke nur. „Das kommt davon, wenn man sich zu fest zusammenreißen will“, bemerkt mein „Freund“ trocken. „Jetzt macht der mich auch noch blöd an“, nerve ich mich. „Was hätte ich denn tun sollen, schreien vielleicht?“, entgegne ich stumm. Sagen tue ich aber nichts, schließlich bin ich ja unter seinen Fittichen. „Wir werden wohl nie beste Freunde“, denke ich und versuche ihn so gut es geht zu ignorieren.

Na ja, auf jeden Fall ist das Ding jetzt drin. Es kann also weitergehen. K. O. zu gehen hat manchmal eben auch sein Gutes.

Es ist ganz wichtig, dass die Schleuse richtig sitzt, denn sie ist der Arbeitszugang für die Untersuchung.

Alle im Raum tragen jetzt Bleischürzen um sich vor den Röntgenstrahlen zu schützen.

Der Spezialist fährt mit einem rund 1,5 mm dicken Katheter durch die Schleuse in meine Arterie hinein und durch diese hoch bis zur Mitte des Halses. „So, jetzt sind wir soweit und spritzen Kontrastmittel in Ihren Kopf. Es kann sein, dass Ihnen für ein paar Sekunden ganz heiß wird. Halten Sie ganz still, sonst wird das Bild nicht scharf und wir müssen es noch mal machen“, klärt er mich auf.

Und tatsächlich, für kurze Zeit scheine ich innerlich zu glühen. Dann sehe ich auf einem Monitor, wie plötzlich meine Kopfadern aufleuchten. Während 2 bis 3 Sekunden lässt das Kontrastmittel die Blutgefäße rund um den Tumor, mit all seinen Verästelungen, bis ins kleinste Detail sichtbar werden. Wow! Das bin ich! Das ist in mir drin. Ich bin echt fasziniert. Es sieht aus wie ein Kunstwerk. Dann ist das Kontrastmittel auch schon abgeflossen und das Leuchten vorerst vorbei. Es ist total schräg, alles was gerade in mir passiert, auch selber auf dem Monitor sehen zu können.

Es werden Aufnahmen in verschiedene Richtungen gemacht. Um die Gefäße rund um den Tumor zu durchleuchten. Dazu wird der Katheter ein paar Mal etwas versetzt und dann erneut Kontrastmittel eingespritzt und wieder eine Aufnahme gemacht.

„Nun bekommen Sie zum letzten Mal Kontrastmittel gespritzt. Dieses Mal wird es eine Stelle am Hinterkopf durchfließen, wo auch der Gleichgewichtsnerv sitzt. Sie werden sich also fühlen wie auf einer Achterbahn. Aber halten Sie ganz still“, meint der Spezialist.

Yeah, einmal gratis Achterbahn fahren! Aber warst du schon mal auf einer Achterbahn ohne dich zu bewegen?

Es fühlt sich echt krass an. Ich habe das Gefühl, ich flutsche mitsamt der Liege hin und her. Mal mehr, mal weniger schnell, mal links, mal rechts. Das ist voll schräg, denn ich weiß ja, dass ich eigentlich ganz still und flach liege. Einmal habe ich sogar das Gefühl, das ganze Teil dreht sich inklusive mir um die eigene Achse. Der Europapark ist nichts dagegen. Ich muss mich extrem zusammenreißen um mich nicht zu bewegen. Und dann ist der Spuk auch schon vorbei. Der Katheter wird herausgezogen und das kleine Loch verarztet. Dann werde ich wieder hinauf in mein Zimmer geschoben. Genau, geschoben, denn in den nächsten sechs Stunden darf ich ja nicht aufstehen. Ja, nicht mal aufsitzen. In der Leiste, wo die Schleuse war, befindet sich nun ein Druckverband, damit eben dieses „kleine Loch“ so schnell wie möglich verheilt.

So im Bett durchs Spital geschoben zu werden ist echt komisch. Ich bin irgendwie verlegen und würde mich am liebsten verstecken. Hoffentlich erkennt mich niemand.

Dem Leben so nah wie nie zuvor

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