Читать книгу Kathis Kosmos - Tanja Reinhard - Страница 5
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ОглавлениеMeine kleine Schwester ist zwei Jahre jünger als ich, und auch, wenn ich mal achtzig bin und sie achtundsiebzig, wird sie immer meine kleine Schwester bleiben. Nach gesellschaftlich vorherrschender Meinung hat sie im Gegensatz zu mir alles richtig gemacht. Sie ist nämlich verheiratet und hat drei Kinder, wobei ich sagen muss, dass aus meiner Beobachtung Christines Ehe nur aus Arrangements besteht.
Christine ist ebenfalls moppelig, aber nicht so sehr wie ich. Sie wirkt auch irgendwie mädchenhafter als ich, und das liegt nicht an den zwei Jährchen, die uns voneinander trennen. Wir sind gleich groß, aber Christine hat nicht das Bedürfnis, ständig hohe Schuhe tragen zu müssen. Das muss sie auch nicht, weil ihre Figur aus unerfindlichen Gründen ganz anders wirkt als meine. Sie sieht im Gegensatz zu mir eben nicht so aus, als hätte man ihr auf den Kopf gehauen und sie dabei zusammengestaucht.
Christine hat ein sehr hübsches Gesicht und dunkelblonde, schulterlange Haare. Sie schminkt sich sehr selten, nur zu besonderen Anlässen. Das nimmt zu viel Zeit in Anspruch, meint sie. Vielleicht denkt man so, wenn man drei Kinder hat.
Auch, wenn Christine und ich in derselben Stadt wohnen, sehen wir uns eher selten, denn Christines Kinder spielen alle drei Fußball in einem Verein, und Christine verbringt ihre Freizeit im Wesentlichen auf irgendwelchen Fußballplätzen oder in Sporthallen. Ich hoffte trotzdem, dass sie am Sonntagnachmittag zu Hause sein würde, denn schließlich gab es auch Turniere, die mittags vorbei waren. Also rief ich Christine am Samstagabend an und fragte nach.
"Du, Kathi, Du kannst gern Sonntagnachmittag zum Kaffee kommen, dann allerdings auf den Sportplatz in der Langestraße. Kaffee und Kuchen gibt es da auf jeden Fall, den verkaufen wir Fußballmütter da für die Mannschaftskasse. Ich hab einen Marmorkuchen dafür gebacken. Ich würde mich freuen, wenn du vorbei kämst, und die Kinder sicher auch!"
Verdammt, ich saß in einer moralischen Falle. Würde ich nicht hingehen, würde man mir vorwerfen, ich würde mich nie blicken lassen, nur, weil ich der Ansicht war, dass solche Treffen auf irgendwelchen Fußballplätzen oder in irgendwelchen Sporthallen kontraproduktiv waren. Tatsächlich war es so, dass ich mit zehn Fragen zu einer solchen Verabredung mit meiner kleinen Schwester ging und mit fünfzehn Fragen zurückkehrte, einfach, weil die Gelegenheit zum Reden dort nicht gegeben war. Andererseits - eigentlich war das immer so, auch, wenn wir uns bei ihr zu Hause trafen. Würde ich auf den Sportplatz gehen, wusste ich jetzt schon, dass ich mich ärgern würde. "Ja gut, dann bis morgen Nachmittag!" Hatte ich das wirklich gerade gesagt? War ich etwa schon wieder in die Falle getappt!? Manchmal glaube ich, man hat nur deshalb Familie, damit man weiß, was ein schlechtes Gewissen ist. Ich habe permanent ein schlechtes Gewissen, wenn es um meine Familie geht. Mal, weil ich glaube, ich kümmere mich zu wenig, dann, weil ich im Gegensatz zu meiner Schwester mit den drei Kindern um sich rum Zeit für mich habe, dann wieder, weil mein Vater allein zu Hause ist, während ich mich mit Freunden amüsiere - kennen Sie das auch? Mich macht das wahnsinnig, und ich wünsche mir oft, dass die Menschen Einzelgänger wären. Es treffen sich zwei Menschen, zeugen ein Kind, der Mann haut wieder ab, sie zieht das Kind auf, und sobald das flügge ist, geht jeder seiner Wege und man hat nichts mehr miteinander zu tun. Jetzt, wo ich es so hinschreibe, fällt mir auf, dass es in vielen Familien tatsächlich so ist, und es fällt in die Kategorie 'nicht lustig'. Ich sollte also hinnehmen, dass ich eine Familie habe, dass sie oft nervig ist und dass ich immer mal wieder ein schlechtes Gewissen habe, anstatt zu meckern. Tun Sie das auch, falls Sie bisher so gedacht haben wie ich; ich glaube, unser Leben könnte mit diesen Gedanken entspannter werden. Ich schlage vor, wir treffen uns in drei Monaten wieder und tauschen unsere Erfahrungen mit der neuen Denkweise aus. Jetzt aber erst mal zurück zu meiner Schwester. Trotz der neuen Denkweise hatte ich nicht wirklich Lust auf den Sonntagnachmittag. Ich öffnete deshalb eine Flasche Wein und versuchte, mir die Aussichten auf den kommenden Tag schön zu saufen. Es funktionierte nicht. Mir blieb nichts anderes, als mich in mein Schicksal zu fügen und zu hoffen, dass bald Sonntagabend wäre. Als ich auf dem Sportplatz ankam, sah ich, dass meine Nichte Alexandra gerade ein Spiel bestritt. Mein Schwager mimte den Unparteiischen. Bei den jüngeren Teams war es üblich, dass eine der Mannschaften den Schiedsrichter stellte, und das war eben zumeist ein Vater, manchmal auch eine Mutter von einer Spielerin oder einem Spieler. Der Anzeigetafel entnahm ich, dass das gerade die erste Halbzeit des Spiels lief. Meine kleine Schwester hörte ich bereits von Weitem: "Jetzt guck dir das an! Der Schiri ist doch gekauft!" Ich bahnte mir einen Weg durch aufgeregte Fußballeltern und gelangweilte kleine Jungen und Mädchen in viel zu großen Trikots. "Hallo kleine Schwester! Ich will nicht, kaum, dass ich hier bin, Kritik üben oder klugschwätzen, nur - der Schiri ist dein Mann!" "Pah! Schiri ist Schiri, alle gekauft! Schön, dass du da bist, wie geht's dir?" "Danke gut, ich-" "Alex, geh da hin!" Meine kleine Schwester konnte ganz eindeutig noch lauter sein als ich. Das grenzte an die Lautstärke eines Presslufthammers. Noch keine Minute hier, und schon machte ich mir Sorgen um eines meiner wichtigsten Sinnesorgane. Meine kleine Nichte rannte über den Platz und machte dabei eine abwinkende Geste in Richtung ihrer Mutter, bevor sie eine Spielerin der gegnerischen Mannschaft mit einer geschickten Grätsche zu Fall brachte. "Was hast du gesagt, Kathi?" fragte Christine jetzt. "Gut, mir geht's gut. Alles gut." "Schön!" - das sagte sie in normaler Lautstärke. "Ey Schiri, hast du keine Uhr?" - Das sagte sie in Presslufthammerlautstärke. "Die sind schon drei Minuten über der Zeit!" - normale Lautstärke. Tatsächlich pfiff mein Schwager, der Schiedsrichter, jetzt die erste Halbzeit ab. Meine Nichte kam in unsere Richtung, sah mich, schaute begeistert und rannte auf mich zu. "ToTaKa!" schrie sie dabei, und bevor ich noch was sagen konnte, sprang mir dieses klebrige, schwitzige kleine Wesen in die Arme. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich mit ihr zusammen auf den Hintern gesetzt. "Hallo kleine Maus", begrüßte ich sie, "du musst dir mal merken, dass du für's Anspringen jetzt zu groß und zu schwer bist!" Das sagte ich dem Kind jetzt schon seit zwei Jahren, und mittlerweile befürchtete ich, sie würde das noch auf ihrer Abiturfeier tun. " 'tschuldigung, ToTaKa!" Ein feuchter Schmatzer traf mich auf die Wange. 'ToTaKa' bedeutete 'Tolle Tante Kathi'. Das war ein Spiel meiner Nichte und meiner Neffen. Dabei blieb das 'TaKa' für 'Tante Kathi' immer stehen, während die ersten Buchstaben die eines Adjektivs waren, das spontan dem Anlass entsprechend gewählt wurde. 'To' stand für 'toll'. Das war okay. Bei meinem letzten Geburtstag war ich 'ATaKa' - alte Tante Kathi. Das war definitiv nicht okay. Was ich ein bisschen irritierend fand, war die Vorstellung, dass ich eines Tages sterben würde, und dann wieder 'ToTaKa' sein würde - Tote Tante Kathi. Meine Schwester redete jetzt auf ihre Tochter ein: "Alex, du musst zusehen, dass du dieses große dicke Mädchen loswirst, das versucht, dich zu decken. Und ich hab dir schon mal gesagt, dass du das mit dem Grätschen lassen sollst! Wenn der Schiri dich dabei erwischt, fliegst du vom Platz!" Na, wenn's sonst nicht schlimm war... "Ha ha", lachte Alex, "der Schiri ist doch Papa!" Ach so, na dann. Meine Nichte verschwand zu ihrem Team, und ich versuchte erneut, ein Gespräch mit meiner Schwester zu führen. "Und, was geht bei euch so? Geht's euch gut?" "Ach hör auf, bei uns ist die Kacke am Dampfen! Stell dir vor, unser Vermieter hat uns doch tatsächlich die W-" "Sag mal, Christine, hast du eben gesehen, wie dieses kleine Miststück mit dem Stirnband meinen Sohn gefoult hat!? Das ist doch unverschämt, oder nicht!? Hat man so was schon gesehen!?" Eine Fußballmutti war neben uns erschienen und lamentierte gestenreich und sehr aufgebracht. "Ja, du, das hab ich gesehen, das war der Hammer. Dieser kleinen Mistbiene gehört der Hintern versohlt! Ich verstehe nicht, warum der Schiri sowas nicht vom Platz stellt!" Meine kleine Schwester war voll eingestiegen, und jetzt schimpften offenbar alle Teammuttis und auch einige Teampapis über das rüpelhafte Verhalten der Kinder aus der anderen Mannschaft. Ich dachte an die Blutgrätsche meiner Nichte, wollte mich aber aus der Unterhaltung raushalten. Zu anstrengend, zu gefährlich. Die zweite Halbzeit begann, die Teammuttis und -papis konzentrierten sich wieder auf das Spiel. Christine versuchte, unsere Unterhaltung wieder aufzunehmen, starrte aber, während sie sprach, unentwegt auf das Spielfeld. "So, also, unser Vermieter, der hat-" Vom Spielfeld aus ertönte die Trillerpfeife, gefolgt von dem Weinen eines Kindes. Das Kind lag gleich vor meiner Nichte auf dem Boden und schien am Bein verletzt zu sein. Meine Schwester hatte mehr Übung als ich in der Bewertung solcher Situationen und meinte jetzt: "Meine Tochter!" Ich konnte nicht erkennen, ob Stolz oder Ärger in ihrer Stimme lag. Ich vermutete, sie wollte Ärger heucheln, um den Stolz zu übertünchen. Alexandra diskutierte derweil mit ihrem Vater, dem Schiedsrichter, der offenbar die Absicht hatte, sie vom Platz zu stellen. Als das Gesicht meines Schwagers bedrohlich rot war, lief Christine auf den Platz zu den beiden, wohl, um das Schlimmste zu verhindern. Ich hatte es satt. Warum war ich eigentlich hergekommen? Ich hatte doch gewusst, was auf mich zukäme. Andererseits: ich war aus meinem Schlafanzug und aus meiner Wohnung rausgekommen, und das war an einem Sonntag mit mäßigem Wetter eine reife Leistung. Außerdem war ja einmal im Jahr Weihnachten, und nach dem Festessen, wenn die Kinder es schafften, sich fünf Minuten mit ihren Geschenken zu beschäftigen, hatten wir ja immer noch Zeit für eine Unterhaltung. Ich winkte meiner Schwester vom Spielfeldrand aus zu und verschwand. Ich würde ihr meinen abrupten Aufbruch ein anderes Mal erklären, wenn ich die Chance hätte, störungsfrei einen Satz zu formulieren. Nur eines fand ich schade: mich hätte wirklich interessiert, ob der Vermieter meiner Schwester und ihrer Familie die W-ände gestrichen oder die W-ohnung gekündigt hatte.