Читать книгу Der Herbst des Falken - Tanya Carpenter - Страница 5

Prolog

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„Eileen.“ Amanda fasste nach der Hand ihrer Schwägerin, die abweisend das Gesicht wegdrehte. Es tat ihr weh, aber im Augenblick konnte sie wenig dagegen tun. „Überleg es dir bitte noch einmal. Ich weiß doch, dass du längst nicht so hart bist, wie du dich gibst. Schau, wir sind jetzt für zwei Wochen in Italien, aber wenn wir zurückkommen, müssen wir darüber reden. Alle. Ich bin sicher, das weißt du so gut wie ich.“

„Tu, was du nicht lassen kannst“, erwiderte Eileen kühl und entzog sich ihr. „Aber bedenke, dass wir dann auch mit den Konsequenzen leben müssen. Alle.“

Amanda seufzte leise und sah der Herrin von Withurst Hall nach, wie sie hocherhobenen Hauptes das Kaminzimmer verließ. Ihr schwarzes Haar fiel wie ein dunkler Schleier um ihre Schultern. Oder über ihre Seele, ging es Amanda durch den Kopf. Sie wusste, Eileen war kein einfacher Mensch, aber so hatte sie sie noch nie erlebt. Ihre blauen Augen waren wie zwei Eiskristalle gewesen, als Amanda das Gespräch mit ihr gesucht hatte. Aber was hätte sie denn anderes tun sollen?

Schon seit ihrer Ankunft auf Withurst Hall waren Amanda und ihre Schwägerin wie Tag und Nacht gewesen, sowohl optisch als auch in ihrem Wesen. Dennoch waren sie stets gut miteinander ausgekommen, und Amanda hatte sogar das Gefühl gehabt, dass sie sich mit der Zeit nähergekommen waren. Doch Eileens Verschlossenheit in dieser Sache betrübte Amanda sehr.

Nach einigen Minuten trat Edward, Amandas Mann und jüngster Sohn des Hauses McBain, lautlos hinter sie. „Sie weicht keinen Zentimeter von ihrem Standpunkt ab, nicht wahr?“

„Nicht einen Millimeter. Ich kann das einfach nicht verstehen.“ Amanda ließ traurig die Schultern sinken und blickte ins Feuer.

Ihr Gatte rieb ihr tröstend über die Arme und hauchte einen Kuss auf ihren blonden Scheitel. „Nimm es nicht so schwer. Vielleicht braucht sie wirklich nur ein wenig Zeit.“

Zeit. Es war schon viel zu viel Zeit vergangen. Im Stillen wünschte sich Amanda, nie in diese Lage gekommen zu sein, aber dafür war es jetzt zu spät. Sie konnte einfach nicht gegen ihre Überzeugungen handeln. Bisher hatte sie sich nur Edward anvertraut, aber ihr Entschluss stand fest. Sie würde nicht mehr lange schweigen. Dafür hing zu viel davon ab. Es ging hier schließlich um das Familienerbe. Das betraf jeden von ihnen. Letztlich sogar Rose, ihr kleines Mädchen, auch wenn sie erst drei Jahre alt war.

„Lass uns schlafen gehen“, bat Edward. „Morgen sieht die Welt schon anders aus. Wer weiß, womöglich kommen wir aus dem Urlaub zurück, und es hat sich alles längst geklärt.“

„Ja, mag sein, dass du recht hast“, raunte sie, obwohl ihr klar war, dass auch er nicht daran glaubte.

Am nächsten Morgen war Eileen nicht einmal da, um sich von ihnen zu verabschieden.

„Möchtest du, dass ich sie holen lasse?“, fragte Edward, der ihr offenbar ansah, wie sehr ihr die offene Ablehnung ihrer Schwägerin zusetzte.

„Nein, bitte nicht. Robin würde sich darüber wundern, und ich möchte ihn weder belügen noch es ihm erklären müssen. Nicht jetzt, da wir zwei Wochen lang fort sein werden.“

Ihr Mann nickte und lud den letzten Koffer ins Heck ihres Volvos. Sein Bruder erschien am oberen Treppenabsatz, die kleine Rose auf dem Arm. Er war vernarrt in das Kind. Vor allem, da seine eigene Ehe bisher kinderlos geblieben war. Allem Anschein nach konnte Eileen keine Kinder bekommen, was auch ein Grund dafür sein mochte, dass sich die beiden immer weiter voneinander entfernten und jeder seine eigenen Ablenkungen suchte. Robin beim Golf und im Aufsichtsrat der Bank of Scotland, Eileen vorrangig mit Luxuseinkäufen, Teerunden mit ihren High-Society-Freundinnen und auf unzähligen Fuchsjagden, bei denen sie ritt wie der Teufel.

Robin gab seiner kleinen Nichte einen Kuss auf die Wange, ehe er sie an Amanda reichte. „Passt gut auf die kleine Prinzessin auf“, mahnte er gespielt mit erhobenem Zeigefinger. Dann wurde seine Miene ernst. „Es tut mir sehr leid, dass Eileen nicht herunterkommt, aber ihre Migräne … Ihr kennt das ja bereits.“

„Mach dir keine Gedanken. Wir haben uns gestern Abend schon verabschiedet. Da ging es ihr schon nicht gut. Außerdem sind wir ja nicht lange weg. Die zwei Wochen werden wie im Flug vergehen.“

Sir Robin drückte Amanda fest an sich und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Bring die beiden Mädchen gesund wieder nach Hause. Es wird furchtbar still hier sein ohne euch. Vor allem ohne Rose. Wer malt mir denn jetzt jeden Morgen meine Sonnenblumen?“

Amanda balancierte ihr Töchterchen auf der Hüfte und strich ihr ein paar vorwitzige Löckchen aus dem Gesicht. „Ich bin sicher, Rose wird dir jeden Tag etwas malen, wenn wir in Italien sind, und dir einen Haufen Bilder mit nach Hause bringen.“ Für ihre drei Jahre war Rose schon eine richtige kleine Künstlerin.

„Das hat sie von ihrer Grandma. Unsere Mutter hat auch stundenlang vor ihrer Staffelei gestanden und halb Schottland in Öl oder Aquarell gebannt“, scherzte Edward.

Während Amanda die Kleine in ihrem Kindersitz festschnallte, überprüfte ihr Mann noch einmal, ob sie auch nichts vergessen hatten. Tickets, Pässe, die schriftliche Buchungsbestätigung für das Hotel in Rom.

„Von mir aus können wir los. Dann sind wir frühzeitig am Flughafen und müssen uns nicht gleich zu Beginn unseres Urlaubs stressen.“

Amanda winkte ihrem Schwager aus dem Seitenfenster zu, als sie losfuhren. Irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl. Sie sah nach oben zu Eileens Zimmer und meinte, dort einen Schatten zu erkennen, aber sicher war sie sich nicht.

Es war gut, dass sie zeitig aufgebrochen waren, denn die Straßen waren teils stark vereist. Der Winter hatte die Highlands fest im Griff. Umso mehr freute sich Amanda auf ein paar Tage Sonne und milderes Klima. So sehr sie ihre Heimat liebte, an die Kälte würde sie sich nie gewöhnen. Nicht an die vor der Tür – und an die neuere emotionale Kälte in den Mauern von Withurst Hall noch viel weniger.

Edward fasste neben sich und griff nach ihrer Hand, um sie aufmunternd zu drücken. „Keine trüben Gedanken für die nächsten vierzehn Tage, versprich mir das“, bat er.

„Ich geb mir Mühe.“

Auf dem Rücksitz kicherte Rose und spielte mit ihrer Puppe Miss Sophie. Sie zeigte ihr ein Rudel Hirsche, das unter dem Schnee neben der Straße nach Gras grub.

„Verdammt, jetzt fängt es auch noch an zu regnen“, schimpfte Edward. Angespannt starrte Amanda auf die Straße, die sich unter dem Eisregen rasch in eine regelrechte Schlittschuhbahn verwandelte. Der Wetterbericht hatte zwar von vereinzelten Schneefällen gesprochen, aber von Blitzeis war keine Rede gewesen.

„Sollten wir nicht besser umkehren?“, fragte sie bang.

„Unsinn. Die Räumdienste fahren doch. So schlimm wird es nicht werden.“

Auf den ersten Kilometern war noch alles in Ordnung, aber je näher sie Stonehaven kamen, desto mehr Autos lagen bereits im Graben. Edward drosselte die Geschwindigkeit, die Anspannung zeigte sich an seinen zusammengepressten Lippen und dem Zucken seiner Kiefermuskeln. Amanda wusste, er hätte es vor ihr niemals zugegeben, um sie nicht zu beunruhigen, aber sie sah ihm an, dass auch er die Straßenverhältnisse inzwischen kritisch einschätzte.

„An der nächsten Abfahrt verlassen wir die Autobahn“, entschied er schließlich. „Vielleicht entspannt sich die Lage in einer Stunde wieder. Sonst rufe ich eben am Flughafen an und versuche zu erreichen, dass sie uns auf einen späteren Flug umbuchen.“

Amanda lächelte erleichtert. „Ja, das wäre sicher eine gute Idee.“ Besorgt sah sie nach hinten zu Rose, die sich als Einzige nicht um das Wetter draußen kümmerte. Sie war vollkommen in ihr Spiel mit Miss Sophie vertieft.

Sie fuhren um eine Kurve, und wie aus dem Nichts stand dort plötzlich ein Lkw mit Warnblinklicht.

„Verdammt!“ Edward trat das Bremspedal durch, Amanda unterdrückte mühsam einen Aufschrei. Ihr Wagen geriet ins Rutschen, die Räder wollten einfach nicht greifen. Das Heck des Lkw kam immer näher. Alles passierte wie in Zeitlupe und gleichzeitig rasend schnell. Sie hörte schon den Aufprall, die Angst schnürte ihr Herz zusammen. Rose!

Amanda drehte sich zu ihrer Tochter um, die mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Kindersitz saß und nicht verstand, was passierte, wohl aber die panische Stimmung ihrer Eltern realisierte.

Durch den Wagen ging ein kurzer Ruck. War das der Aufprall? Aber der Knall blieb aus. Neben Amanda keuchte Edward, sein Atem ging viel zu schnell. Zäh sickerte die Erkenntnis in ihren Verstand, dass er es gerade noch geschafft hatte, rechtzeitig anzuhalten. Ihre Glieder fühlten sich taub an, sie zitterte am ganzen Körper. Rose war unruhig und wimmerte leise.

„Puh! Das war knapp“, sagte Edward mit brüchiger Stimme.

Der Blick durch die Windschutzscheibe zeigte nur schwarzes Metall. Zwischen ihnen und dem Lastwagen waren es weniger als zehn Zentimeter.

Amanda sandte bereits ein kurzes Dankgebet gen Himmel und wollte gerade Rose beruhigen, als lähmendes Entsetzen von ihr Besitz ergriff.

„Oh mein Gott!“

Edward sah es im Rückspiegel, für Amanda war es wie ein Panaromablick in einen Albtraum.

Um die Kurve, die ihnen vor Sekunden fast zum Verhängnis geworden wäre, kam nun ein zweiter Lkw, der trotz der Straßenverhältnisse viel zu schnell fuhr und direkt auf sie zuraste. Der Fahrer sah sie, sah das Ende des Staus … doch er war machtlos. Auch er trat die Bremse durch, was man daran erkennen konnte, dass sich der Anhänger seines Gefährts quer stellte. Die darauf festgezurrten Baumstämme drückten mit ihrem Gewicht die Zugmaschine dennoch unerbittlich weiter. Die Fahrbahn war einfach zu glatt, der Abstand viel zu gering, die Folgen unausweichlich. Verzweifelt rüttelte Amanda am Verschluss des Sicherheitsgurtes von Rose’ Kindersitz, doch ihre Hände zitterten oder der Mechanismus klemmte. Sie wusste es nicht, kämpfte gegen die Panik an und hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren trommeln. Edward schnallte sich ab und kam ihr zu Hilfe. Beinah gleichzeitig hoben sie den Kopf und sahen auf das näherkommende Gefährt, das mittlerweile riesengroß die gesamte Heckscheibe ausfüllte. Es war zu spät!

Tränen verschleierten Amandas Blick, als sie sich zu Edward wandte. Instinktiv ergriff er ihre Hand, presste seine Lippen aufeinander. Seine Gedanken flogen zu ihr. Sie wusste genau, was er ihr sagen wollte. Ich liebe dich. Ich liebe euch beide.

Eine seltsame Ruhe überkam Amanda in diesen Bruchteilen von Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Sie waren zusammen. Sie passten aufeinander auf. Auch jetzt noch. Für immer. Doch für immer dauerte bloß noch einen Herzschlag lang. Während sie ihre Finger so fest mit denen ihres Mannes verflocht, dass es schmerzte, schenkte sie Rose einen letzten Blick. Wenn es noch einen einzigen Wunsch gab, den der Himmel ihr erfüllen wollte, dann sollte es ein Wunder sein, das ihre Tochter überleben ließ. Sie war zu jung, es war zu früh für sie.

Das Letzte, was Amanda hörte, war die Hupe des auf sie zurasenden Lkw. Das Letzte, was sie fühlte, die urgewaltige Kraft, die ihren Wagen zusammendrückte wie einen Schwamm, sie und Edward nach vorn schleuderte. Es gab keine Schmerzen, als das Metall sich ineinanderschob und sie schier verschluckte. Jeden bewussten Gedanken auslöschte. Dann war es schwarz und weiß und rot und … totenstill.

Der Herbst des Falken

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