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Kapitel 2 Rose

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Zumindest in Sachen Inneneinrichtung gab es tröstlicherweise wenig, was sich in den letzten zehn Jahren in Withurst Manor verändert hatte. Nicht nur mein Zimmer, auch alle anderen Räume hatten nichts von ihrem Charakter und teils rustikalem Charme eingebüßt. Einige Teppiche waren ausgetauscht worden. Ebenso wie die Gardinen im Salon und im Speisezimmer. Ansonsten sah es so aus, als wäre ich praktisch in der Zeit zurückgereist. Das war einerseits seltsam, andererseits aber auch ein wunderbar heimeliges Gefühl, und es tröstete mich ein wenig über die eher traurigen Neuerungen hinweg, die mir heute aufgefallen waren.

Nach meinem Besuch im Stall hatte ich das T-Shirt gegen einen etwas wärmeren Wollpullover getauscht und statt des Pferdeschwanzes nur die vordersten Strähnen meines dunkelblonden Haares am Hinterkopf zusammengebunden. Für einen Sommerlook war es doch noch etwas frisch.

Das Dinner nahm ich zusammen mit Onkel Robin und Tante Eileen an dem schweren Eichentisch im Speisezimmer ein. Anstelle von Rachel, der früheren Haushälterin meiner Zieheltern, servierte jetzt Megan das Essen. Rachel war vor drei Jahren an Krebs gestorben, wie Robin erzählte. Das hatte ich nicht gewusst, und es machte mich betroffen, weil ich die liebenswerte Frau von Scott, dem Falkner und Jagdaufseher von Withurst Hall, sehr gemocht hatte. Außerdem tat es mir um Josh, den Sohn der beiden, leid. Er hatte seine Mutter vergöttert. Es musste schrecklich für ihn gewesen sein, sie zu verlieren. Und ich hatte ihm nicht einmal eine Beileidskarte geschickt, weil ich keine Ahnung gehabt hatte. Was sollte er nur von mir denken? Rachel war wie eine zweite Mutter für mich gewesen, die sich die meiste Zeit mehr um mich gekümmert hatte als Eileen. Ich kam mir schrecklich oberflächlich vor und fühlte eine schmerzvolle Leere in meinem Inneren. Ich hätte Rachel so gern von Amerika erzählt. Sie hätte mir zugehört und sicher alles wissen wollen. Bei Eileen hingegen hatte ich das Gefühl, dass es sie nicht im Geringsten interessierte, was ich in den letzten Jahren erlebt hatte. Sie hakte das einfach ab. Ich war wieder da, und sie ging zur Tagesordnung über, als sei ich nie weggewesen. Das tat schon irgendwie weh, auch wenn ich wusste, dass es einfach ihrer Art entsprach.

Als Kind war ich oft bei den Frasers zu Besuch gewesen – sehr zum Leidwesen meiner Tante, die einen solchen Kontakt für nicht standesgemäß gehalten hatte. Rachel hatte mir ein Stück weit das ersetzt, was durch den Tod meiner Mutter verloren gegangen war. Ich wusste noch, was für wundervolle Kekse sie jeden Sonntag gebacken hatte. Josh und ich hatten regelmäßig um die Wette gegessen und hinterher Bauchweh gehabt.

„Wie haben Scott und Josh ihren Tod verkraftet?“, erkundigte ich mich. Meine Stimme klang erschreckend schwach in meinen Ohren. Rachels Herzlichkeit würde fehlen. Nicht nur für Josh und Scott, auch für Withurst Manor war es ein Verlust. Ich hatte die Frasers stets um die Wärme beneidet, die zwischen den dreien herrschte. Es war eben doch etwas anderes, ob man das leibliche Kind war oder nur ein Mündel. Rachels Tod musste Vater und Sohn schwer getroffen haben.

„Josh hat es nicht leicht gehabt“, erzählte Sir Robin. „Nur ein Jahr nach seiner Mutter ist auch sein Vater gestorben. Ich denke, an gebrochenem Herzen.“ Er seufzte tief. „Manchmal fehlt Scott mir sehr.“

Ich war so geschockt, dass ich kein Wort herausbrachte und meinen Onkel nur mit großen Augen anstarren konnte.

Eileen schnaubte ungehalten. „Robin, ich bitte dich. Abgesehen davon, dass du gerade von einem Angestellten sprichst, als wäre er ein Familienmitglied … Findest du, das sind die richtigen Themen zu Rose’ Rückkehr? Wir sollten uns besser auf die morgige Party konzentrieren. Hast du Rose eigentlich schon gesagt, wen du alles eingeladen hast? Da waren doch auch die beiden ehemaligen Schulfreunde von ihr, nicht wahr? Ach ja, und die Mountraws habe ich ebenfalls gebeten, zu kommen. Ich sag nur: Traumprinz.“ Eileen sang das Wort beinah und zwinkerte mir vielsagend zu.

„Also ehrlich gesagt, hab ich gerade keinen Kopf für diese … Feier“, gestand ich und fand die Begeisterung meiner Tante einfach nur deplatziert. „Ich würde gern wissen, wie das mit Rachel passiert ist und mit Scott. Wie ist Josh damit umgegangen? Ich möchte ihn nicht aus Unwissenheit verletzen, wenn ich ihm über den Weg laufe. Er ist doch noch hier, oder? Hat er geheiratet?“

„Josh geht es gut“, stellte Tante Eileen klar. „Er hat die Aufgaben seines Vaters übernommen, und er macht mir nicht den Eindruck, als wäre er unglücklich dabei.“

Onkel Robin räusperte sich verlegen und warf meiner Tante einen unwilligen Blick zu. „Josh ist nicht der Mann, dem man seine Gefühle anmerkt. Darin ist er seinem Vater sehr ähnlich. Er macht die Dinge mit sich selbst aus, was nicht immer gut ist. Ich denke, deshalb ist er auch noch immer allein.“ Er richtete seinen Blick auf mich, fasste nach meiner Hand und drückte sie sacht. Wir verstanden uns ohne Worte. Ihn machte Eileens Ignoranz gerade ebenso betroffen wie mich.

„Er ist alt genug, um zu wissen, was er tut. Das braucht uns nun wirklich nicht zu kümmern“, meinte Eileen achselzuckend. „Für Rose ist es wichtiger denn je, eine klare Trennung zu den Angestellten zu wahren. Was soll denn ein möglicher Verehrer denken, wenn er mitbekommt, dass sie sich mit dem Personal abgibt?“

Jetzt reichte es mir, und ich warf erbost die Serviette auf meinen Teller. Diese respektlose Bemerkung, während wir gerade über den Tod zweier Menschen sprachen, machte mich wütend. Außerdem fand ich dieses Klassendenken fürchterlich. Wo lebte sie denn? Im Mittelalter? „Ich bin kein Kind mehr, Tante Eileen“, stellte ich klar. „Ich kann gut selbst entscheiden, mit wem ich Umgang habe und mit wem nicht, und wenn mein künftiger Gatte damit ein Problem hat, ist er sowieso nicht der Richtige für mich. Es hat dich die letzten zehn Jahre auch nicht interessiert, mit welchen Leuten ich unterwegs war, und ich glaube, ich habe mich nicht unbedingt zu meinem Nachteil entwickelt. Josh hat kurz hintereinander beide Eltern verloren. Wer könnte besser nachempfinden, wie schmerzvoll das für ihn gewesen sein muss, als ich? Du wirst mir nicht verbieten können, zu ihm zu gehen und ihm mein Beileid dafür auszusprechen, wie ich es längst hätte tun sollen. Offen gestanden bin ich gerade sprachlos, dass ihr mir beide nichts davon gesagt habt.“

Meine Tante zuckte unbeeindruckt die Schultern. „Was hätte das geändert? Du solltest dich auf dein Studium konzentrieren und nicht auf die Probleme unserer Angestellten. Es gab überhaupt keinen Grund, dir das zu erzählen.“

Mein Onkel räusperte sich verlegen. „Nun ja, ich gebe zu, vielleicht war es nicht besonders glücklich, dich darüber im Unklaren zu lassen. Aber Eileen hat schon recht, du hättest ohnehin nichts tun können.“

„Ihr hattet dennoch kein Recht, mir das zu verheimlichen. Ihr wusstet beide, wie sehr ich die Frasers mochte und wie oft ich bei ihnen war, bevor ich nach Amerika gegangen bin.“

Ich hielt Eileens missbilligendem Blick mühelos stand. Als Heranwachsende mochte ich ihr nach dem Mund geredet haben, aber diese Zeiten waren lange vorbei.

„Tu, was du nicht lassen kannst“, erwiderte Eileen, bemüht, diplomatisch zu klingen, doch ihrer Stimme hörte man den Ärger deutlich an.

„Wann möchtest du dir die Bücher ansehen, Rose?“, fragte Onkel Robin im Versuch, das Thema zu wechseln, nur um erneut von meiner Tante zurechtgewiesen zu werden.

„Also wirklich, Robin, jetzt reicht es aber. Sie hat noch nicht einmal ihre Koffer ausgepackt, und da soll sie sich gleich um Zahlen kümmern? Du zeigst mal wieder ein Feingefühl … Tze!“

Als ob ihres so viel besser wäre. Mir platzte der Kragen und ich holte tief Luft. „Liebe Tante, ich kann auch in diesem Punkt selbst entscheiden, was ich tun und was ich lassen möchte. Onkel Robin hat mir mein Studium finanziert. Genau aus dem Grund, dass ich mich um Withurst Hall kümmere. Wie du vorhin selbst gesagt hast, handelt es sich dabei letztlich um mein Erbe, für das ich mich selbstverständlich interessiere und einsetze. Außerdem bin ich dankbar, dass ich noch die Kunstausbildung anhängen durfte. Jetzt bin ich mehr als bereit, mich um meine Aufgaben hier zu kümmern, so, wie es von Anfang an gedacht war. Und da ich mich erst dann auf die Suche nach einem Ehemann machen werde, wenn ich die geschäftlichen Dinge erörtert und geklärt habe, sollte es auch in eurem Interesse sein, wenn ich mich so schnell wie möglich in meine künftigen Aufgaben einarbeite.“ Ich schenkte ihr ein kühles, aufgesetztes Lächeln, ehe ich mich Onkel Robin zuwandte. „Wir können gerne später in dein Büro gehen, und ich verschaffe mir einen ersten Überblick. Vielleicht brauche ich ein, zwei Tage, bis ich wieder voll im Thema bin, aber dafür bist du ja da, wenn ich Fragen haben sollte.“

Allmählich wurden mir zwei Dinge klar. Zum einen, dass das Zusammenleben mit meinen Zieheltern anstrengender sein würde als früher. Und zum anderen, dass auch das ein Grund gewesen war, warum ich mein Kunststudium als Vorwand genutzt hatte, noch ein paar weitere Jahre in Amerika zu bleiben. Denn theoretisch hätte ich es auch in Glasgow oder Edinburgh absolvieren können. Aber gewisse Spannungen hatten immer schon zwischen Robin und Eileen geherrscht, auch wenn sich mir der Grund dafür nicht erschloss. Aber ich hatte oft gespürt, dass ich zwischen ihnen stand. Auf eine unerklärliche Weise, die ich bis heute nicht verstand. Unbewusst hatte ich mich sicher mal von dem einen, mal von dem anderen einspannen lassen, doch das zumindest würde mir heute nicht mehr passieren, auch wenn somit manches unbequemer werden würde.

Ich wollte Eileen gerne entgegenkommen, was die gesellschaftlichen Verpflichtungen anging. Allein schon, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten, und weil ich aufgrund meiner Erziehung verinnerlicht hatte, dass dies zu den Verpflichtungen gehörte, die ich zu übernehmen bereit war. Aber ich würde mich von ihr nicht länger bevormunden lassen und sie schon gar nicht über meine Zukunft oder gar einen potenziellen Ehemann entscheiden lassen. Tante Eileen war eine starke Frau. Blieb zu hoffen, dass sie rasch erkannte, wie sehr das inzwischen auch für mich galt. Leben und leben lassen, dann sollten wir gut miteinander auskommen. An mir würde es nicht scheitern.

Was meinen Onkel anging, stellte ich fest, dass er erschreckend an Selbstbewusstsein eingebüßt hatte. Wie sehr, das musste ich noch herausfinden, doch es war unverkennbar, dass im Moment eher Eileen die Zügel in der Hand hielt, und zwar nicht nur hinsichtlich der Pferde. Etwas stimmte hier nicht, das spürte ich.

„Entschuldigt mich jetzt bitte, ich würde gerne noch ein bisschen spazieren gehen. Der Flug war anstrengend, und ich bin es nicht gewohnt, mich so lange nicht zu bewegen.“

Onkel Robin nickte wohlwollend und versicherte, dass kein Grund zur Eile bestand und wir die Bücher auch in den nächsten Tagen durchsehen konnten.

„Vergiss nicht, dass wir dein Kleid für den Empfang noch anprobieren wollten“, erinnerte Eileen mich hingegen spitz. „Immerhin könnte es sein, dass die Schneiderin noch etwas daran ändern muss, und wir haben wenig Zeit dafür.“

„Ich werde daran denken. Wenn ich zurück bin, sag ich dir Bescheid“, versicherte ich, ehe ich mich erhob und den Speisesaal verließ.

Draußen atmete ich erst einmal tief durch. Ich schlug den Weg hinunter zum Bachlauf ein, an dem ich schon als Kind gerne gesessen und meinen Gedanken nachgehangen hatte. Über mir strahlten die Sterne an einem wolkenlosen Himmel. Der Mond war nur als schmale Sichel zu erahnen, dennoch konnte ich mich auch im Dunkeln mühelos orientieren. Alles hier draußen war mir vertraut, obwohl ich so lange fort gewesen war.

Im Gästehaus brannte noch Licht. Ich fand es nach wie vor merkwürdig, dass Eileen den Bereiter dort wohnen ließ. Etwas an dem Kerl behagte mir nicht, ich konnte bloß noch nicht greifen, was genau. In den Stallungen war hingegen alles ruhig. Vermutlich schlief Jeff noch immer in der Kammer oben auf dem Heuboden. Der neue Stallbursche wohl eher nicht.

Wer arbeitete sonst noch hier? Das würde ich mir wohl als Erstes anschauen, wenn ich einen Blick in die Bücher warf. Zum einen, um mich mit den alten und neuen Gesichtern vertraut zu machen, zum anderen aber auch, um die Kosten zu ermitteln. Ich musste zugeben, es machte mich neugierig, was dieser Heath wohl dafür kassierte, dass er die Pferde trainierte, und noch mehr, ob er sein Geld auch wert war.

Onkel Robin hielt augenscheinlich nicht allzu viel von der ganzen Rennsportsache, was mich nicht wunderte. Er war kein Reiter, war es nie gewesen. Spielte stattdessen lieber Golf mit seinen Kollegen vom Vorstand der Bank of Scotland. Die Reiterei war seit jeher Eileens Leidenschaft, die ich mit ihr geteilt hatte. Welches kleine Mädchen liebte Pferde nicht?

Ich setzte mich auf einen der Steine am Bachufer und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Das Abendessen heute hatte mir jedenfalls gezeigt, dass die Kluft zwischen meinen Zieheltern eher größer als kleiner geworden war und – was viel schwerer wog – dass sich ihre Denkweise und meine deutlich unterschieden. Da würden einige Herausforderungen auf mich warten. Gerade was Eileen anging, stellte ich mich auf so manchen Machtkampf ein, aber auch mein Onkel würde immer noch seine festen Vorstellungen haben, die sich von meinen womöglich deutlich unterschieden.

Aber ich war kein beeinflussbares Kind mehr, das die Tatsachen des Lebens ausblendete. Ich hatte viel gelernt und meinen eigenen Kopf. Mir drängte sich der ungute Verdacht auf, dass Withurst Hall zu einem brisanten Dreieck werden könnte. Von einem liebevollen Zuhause war das, was ich an meinem ersten Abend gesehen hatte, jedenfalls weit entfernt. So kühl hatte ich die Stimmung im Haus nicht in Erinnerung.

Kühl war auch das richtige Wort für die Temperaturen. Fröstelnd rieb ich mir über die Arme. Verdammt, ich hätte eine Jacke mitnehmen sollen. Offenbar hatte ich die abendliche Witterung unterschätzt oder einfach in den letzten Jahren vergessen, wie rasch es hier nach Sonnenuntergang abkühlte. Generell waren das Wetter regnerischer und die Temperaturen deutlich niedriger als in Boston, aber dennoch liebte ich die Highlands mit all ihren rauen Kanten. Hier ging die Natur ihren Weg und ließ sich nicht in Ketten legen.

Überrascht fühlte ich, wie mir ein paar Tränen über die Wangen liefen. Eine Mischung aus tiefem Schmerz und purem Glück. Ich musste über mich selbst lachen, weil es bizarr und albern war, gleichzeitig Glück und Trauer zu empfinden. Dieser verdammte Jetlag stellte wohl gerade mein Gefühlsleben auf den Kopf, machte mich dünnhäutig und übersensibel.

Ein Schauder lief mir über den Rücken. Gott, ich fror wirklich erbärmlich. Vermutlich würde ich mir einen Schnupfen holen und mit roter Nase auf dieser Abendgesellschaft auftauchen, die ich am liebsten boykottiert hätte. Just in dem Moment begann auch noch meine Nase zu laufen, was wohl weniger mit einer Erkältung als vielmehr mit diesem bescheuerten Weinkrampf zu tun hatte, den ich einfach nicht unter Kontrolle bekam. So ein Mist. Wie gut, dass das wenigstens keiner sah.

„Rose?“

Die Stimme kam unerwartet aus der Dunkelheit und jagte mir erneut einen Schauder über den Rücken. Hektisch sprang ich auf die Füße und wirbelte zu meinem Besucher herum, doch statt jemanden zu erkennen, starrte ich direkt in das aufflammende Licht einer Taschenlampe, das mich im ersten Moment blendete. Mein Herz hämmerte hart gegen mein Brustbein, und in meinem Kopf jagten sich die Gedanken. Es war zu früh, der falsche Moment, der falsche Ort, ich war noch nicht richtig vorbereitet. Zu wenig Zeit, um mich innerlich zu wappnen, mir die richtigen Worte zurechtzulegen. Aber es gab keinen Ausweg, keine Möglichkeit zur Flucht. Langsam senkte sich der Lichtstrahl und ich konnte die Konturen eines männlich-markanten Gesichtes erahnen, das meinen Puls nur weiter in die Höhe jagte. Es war so vertraut und doch so überraschend neu.

Mit bebendem Atem lauschte ich in mich hinein, was es in mir auslöste, den Freund aus Kindertagen wiederzusehen. Dabei überrollte mich die Erkenntnis, was ich alles versäumt hatte. Die längst fällige Entschuldigung für einen viel zu kühlen Abschied, das Teilen meiner Erfolge und Niederlagen mit dem Menschen, den sie wirklich interessiert hätten, und vor allem die Pflicht, für ihn da zu sein, als er zur Abwechslung einmal mich gebraucht hätte und nicht ich ihn.

Das, was Onkel Robin beim Dinner über Josh und den Tod seiner Eltern erzählt hatte, machte mich jetzt betroffen und noch gehemmter, als ich es ohnehin schon war. Ich wollte ihn nicht verletzen, keine alten Wunden aufreißen, aber ich wollte auch nicht oberflächlich erscheinen, indem ich es gar nicht erwähnte. Verdammt, ich wusste nicht, was ich sagen sollte, konnte keinen klaren Gedanken fassen, denn Joshs Nähe machte mich nervös.

Ich fragte mich, ob die weichen Knie, die jeden Moment unter mir wegzuknicken drohten, von Angst oder Unsicherheit herrührten, und allmählich dämmerte mir auch noch, dass ich ihn schon mehrere Sekunden lang anstarrte, ohne ein Wort zu sagen. Etwas Peinlicheres gab es kaum. Außer vielleicht die Tränen auf meinen Wangen, die ich niemanden hatte zeigen wollen, schon gar nicht ihm.

„Josh!“ Mehr brachte ich einfach nicht heraus. Meine Kehle war wie zugeschnürt, meine Gedanken waren eine zähe, klebrige Masse, die einfach keine vernünftigen Worte hervorbringen wollte. Wir hatten uns beide verändert, waren erwachsen geworden, was mich nicht hätte wundern sollen, aber ich war nicht vorbereitet gewesen auf den Mann, der mir hier gegenüberstand. Alles Jungenhafte war aus seinen Zügen gewichen. Seine Miene war ernst und strahlte Reife und Autorität aus. Man sah ihm an, dass das Leben ihm bereits einige harte Lektionen erteilt hatte, und er wirkte in diesem Moment auf mich wie der Inbegriff eines wilden Highlanders. Mit kurz geschnittenen, schwarzen Haaren und denselben unglaublich ausdrucksstarken Augen wie damals. Sie waren tiefblau, das wusste ich noch genau, obwohl ich ihre Farbe gerade nicht erkennen konnte.

Unsere Begegnung löste eine Vielzahl an Erinnerungen und Gefühlen in mir aus, und ich war weder dem einen noch dem anderen gewachsen, was in meiner derzeitigen labilen Verfassung einen weiteren Schwall von Tränen über meine Wangen trieb. Ohne darüber nachzudenken, machte ich einen Schritt auf ihn zu und schlang meine Arme um seinen Hals.

Er fing mich auf, hielt mich fest, und es war tröstlich, gegen seine feste Brust zu sinken. Ich war bei ihm geborgen und musste mich meiner Tränen nicht schämen.

Josh sagte nichts, strich nur beruhigend über meinen Rücken. Ich spürte, wie sich sein Brustkorb unter gleichmäßigen Atemzügen hob und senkte. Sein warmer Atem strich durch mein Haar und löste eine leichte Gänsehaut in meinem Nacken aus.

Nach einer Weile beruhigte ich mich und löste mich verlegen von ihm, wobei er seine Hände an meinen Armen heruntergleiten ließ und meine Finger mit sanftem Druck umfasst hielt.

„Geht es wieder?“, erkundigte er sich.

Ich nickte hastig, wagte aber kaum, ihm in die Augen zu sehen.

„Es ist verdammt lange her“, sagte Josh mit zögerlichem Lächeln, als ich dann doch den Kopf hob und ihn unsicher von der Seite musterte. Er klang versonnen, sein Blick ging mir durch und durch. Ob er ebenso unsicher war wie ich? Er wirkte kein bisschen so, aber Josh war schon immer Herr der Lage gewesen. In diesem Augenblick schien er mir die einzige Konstante an diesem Ort zu sein, und das war ein sehr merkwürdiges Gefühl, von dem ich nicht wusste, ob es gut oder schlecht war. Gott, ich war einfach unglaublich verwirrt.

Josh reichte mir ein Taschentuch, und als ich es nahm und sich unsere Finger erneut berührten, löste das ein Kribbeln in mir aus, das langsam meinen Arm hinaufkroch. Aufregung? Die Ungewissheit, was er von mir denken mochte? Welches Bild von mir war in ihm verblieben? Ich hätte so gerne dort angeknüpft, wo wir als Kinder zusammen über die Wiesen gerannt waren und Schmetterlinge gefangen hatten, aber ich war zu vernünftig, um zu glauben, dass das so einfach sein würde. Zwischen damals und heute lag zu viel, was uns beide verändert hatte und uns beinah zu Fremden machte.

Ich schluckte und räusperte mich. Fieberhaft überlegte ich, was ich sagen sollte, doch mein Kopf war wie leer gefegt. Da studierte man jahrelang kultiviertes Benehmen und wie man im harten Marketingbusiness seine Frau stand, und dann so was.

Die Situation wurde noch schlimmer, als Josh seine Hand hob und mit den Fingerknöcheln über meine Wangen fuhr, um die Tränen fortzuwischen. „Was ist los? Warum hast du geweint?“ Die Sorge in seiner Stimme klang ehrlich.

Hilflos hob ich die Schultern. „Es mag albern klingen, aber ich weine vor Freude und Erleichterung. Ich bin einfach froh, wieder hier zu sein, und das Gefühl … hat mich wohl gerade ein wenig überwältigt.“ Mein Lachen misslang kläglich, aber ich konnte ihm unmöglich sagen, was mir sonst noch durch den Kopf gegangen war. Die Spannungen in der Familie gingen Josh nichts an. Nervös nestelte ich an dem Taschentuch und wandte mich halb von ihm ab, um mir die Nase zu putzen.

Josh schmunzelte. „Es ist mir auf jeden Fall lieber, du weinst vor Freude und nicht aus Kummer. Ich bin nämlich ein ziemlich schlechter Seelentröster.“

Ich schielte ihn von der Seite an und bemühte mich, meine Emotionen endlich unter Kontrolle zu bekommen. „Das hab ich ganz anders in Erinnerung“, widersprach ich.

Verlegen senkte er den Blick. Im schwachen Schein seiner Taschenlampe konnte ich es nicht genau erkennen, aber ich meinte, einen Hauch von Röte in seinem Gesicht zu sehen. Josh Fraser war nie gut darin gewesen, mit Komplimenten umzugehen. Daran hatte sich offenbar nichts geändert.

„Wollen wir ein Stück zusammen spazieren gehen?“, schlug er vor. „Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Wenn du lieber allein sein willst …“

„Nein, nein“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich hätte gerne ein wenig Gesellschaft. Ich komme mir hier … noch ein bisschen fremd vor.“

Er sagte nichts darauf, und dafür war ich ihm dankbar. Wortlos folgte er dem Lauf des Baches, und ich tat es ihm gleich.

„Was machst du eigentlich hier draußen um die Zeit?“, fragte ich und wollte um jeden Preis ein erneutes peinliches Schweigen vermeiden.

Josh zuckte die Achseln. „Ich dreh jeden Abend noch mal eine Runde und schaue, ob alles in Ordnung ist. Scott hat das immer so gemacht, und ich hab es übernommen.“ Er klang bei diesen Worten nachdenklich und in sich gekehrt. Ich war nicht sicher, ob wir über seine Eltern sprechen sollten, aber andererseits wäre es jetzt unhöflich gewesen, das Thema zu meiden, wo er schon von seinem Vater sprach. Ihm war sicher klar, dass ich inzwischen über deren Tod Bescheid wusste.

„Ich hab das von deiner Mom gehört. Tut mir sehr leid. Und das mit deinem Dad auch. Onkel Robin hat es mir heute Abend gesagt, weil ich nachgefragt habe. Wenn ich es eher gewusst hätte …“

Josh blieb einen kurzen Moment stehen und atmete tief durch, bevor er weiterging und nervös an der Taschenlampe nestelte. „Es war nicht leicht, aber so ist das Leben halt. Irgendwann gehen wir alle. Manche eben einfach zu früh.“

Weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, legte ich ihm wortlos die Hand auf die Schulter. Er warf einen kurzen Blick darauf und lächelte wehmütig.

„Ich hätte für dich da sein sollen“, gestand ich schuldbewusst. „Wenn ich dir geschrieben hätte … aber ich wusste einfach nicht, ob du das überhaupt wolltest. Nach allem, was passiert war. Ich …“ Ich musste abbrechen und erst einmal tief Luft holen, weil ich schon wieder mit den Tränen kämpfte und es mich all meinen Mut kostete, das auszusprechen, was mir seit zehn Jahren auf der Seele lastete. „Ich war mir nicht sicher, ob wir noch … Freunde sind.“

Zu meiner Überraschung stockte Josh und warf mir einen fassungslosen Blick zu, ehe er plötzlich leise lachte und den Kopf schüttelte. „Oh Rose. Also ich muss schon sagen, ich mochte das sommersprossige Mädchen mehr, mit dem man Streiche aushecken und Lady Eileen in den Wahnsinn treiben konnte. Die Teeniezicke, die mich regelmäßig während der Internatsferien heimgesucht hat, war die Pest.“

Trotz der Ironie schlug ich mir vor Schreck die Hände vors Gesicht. „Oh Gott, war ich wirklich so schlimm? Irgendwie hatte ich gehofft, dass du mich in besserer Erinnerung behalten hättest. Oder dass die besseren Erinnerungen zumindest überwiegen würden.“ Ich schielte vorsichtig zwischen meinen Fingern hindurch und hoffte auf ein wenig Absolution.

Stattdessen funkelte es spöttisch in seinen Augen. „Ah, dann hast du im weit entfernten Amerika also doch an mich gedacht, obwohl du es nicht mal über dich gebracht hast, dich von mir zu verabschieden. Soso. Das ist wirklich interessant.“

Natürlich hatte ich an ihn gedacht, aber konnte ich ihm das so unverblümt gestehen? Josh war mir nie egal gewesen, auch nicht in den Jahren, in denen ich mich von meiner Tante hatte in Beschlag nehmen lassen. Rückblickend betrachtet war das vielleicht auch meiner Angst oder zumindest Unsicherheit geschuldet, weil ich an einem bestimmten Punkt in meinem Leben gemerkt hatte, dass sich etwas zwischen uns veränderte, nachdem wir keine Kinder mehr waren. Die Erinnerung daran, wie die Entfremdung zwischen uns begonnen hatte, war wie ein scharfer Splitter, der noch immer in meine Seele stach, doch es war zu früh, um darüber zu sprechen. Falls ich es je tun könnte.

„Also was ist? Hast du an mich gedacht? Und sei ehrlich, ich merke, wenn du lügst, das weißt du.“

Ruckartig ließ ich die Arme wieder sinken. Mir klappte der Kiefer herunter, weil seine Stimme nur so vor Selbstsicherheit strotzte. War ich so leicht zu durchschauen für ihn? Immer noch? Oder foppte er mich bloß? Stellte er mich gerade auf die Probe?

„Gelegentlich“, presste ich schließlich hervor. „Ich gebe zu, hin und wieder mal an dich gedacht zu haben.“ Ich straffte meine Schultern und bemühte mich um eine souveräne Miene, was Josh laut lachen ließ.

„Was? Hey, du lachst mich aus, das ist nicht nett.“

Er schüttelte sich inzwischen vor Lachen, und alle Anspannung von vorhin schien von ihm abzufallen. „Sorry, aber das hier läuft gerade so was von vollkommen anders, als ich es mir vorgestellt habe.“

Jetzt wurde ich hellhörig. „Du hast dir unser Wiedersehen vorgestellt? Seit wann? Heißt das, du hast auch an mich gedacht? Während ich im fernen Amerika war? Mutterseelenallein.“

Er grinste weiterhin und knuffte mir in die Seite. Auf einmal war alles wieder da. Die vertraute Nähe, die Leichtigkeit. Mein Herz setzte einen Schlag aus, während sich Erleichterung in mir ausbreitete.

„Komm her, du verrückte Zigeunerbraut“, sagte er und nahm mich ganz fest in den Arm. Danach hielt er mich auf Armeslänge von sich und strich mir eine Strähne hinters Ohr, während sein Blick wieder ernst und wach auf mir ruhte. „Vielleicht“, gab er zu und zwinkerte. „Vielleicht kann es aber auch sein, dass ich viel öfter an dich gedacht habe, als du ahnst. Und das, obwohl du mir nicht eine Zeile geschrieben hast. Treuloses Weib.“

Ich errötete bis in die Haarspitzen. Die Intimität unserer Nähe war fremd und ungewohnt, aber auch schön, und ich wollte den Moment nicht kaputt machen, indem ich auf Abstand ging, bloß weil ich es gerade nicht richtig einordnen konnte. „Ich fand, unser Abschied war nicht unbedingt rühmlich, darum habe ich mich anfangs nicht getraut, dir zu schreiben, und irgendwann war es einfach zu spät. Ehrlich gesagt hatte ich den Eindruck, dass du mir am liebsten für den Rest deines Lebens aus dem Weg gehen würdest. Oder den Hals umdrehen. Wahlweise auch beides.“

Josh seufzte gespielt theatralisch. „Jaaaa, du hast es einem eine Weile nicht leicht gemacht, dich zu mögen. Aber ich bin zum Glück hart im Nehmen. Und ich wusste immer, dass unter all der Zickigkeit meine kleine Zigeunerin noch irgendwo da drinsteckt.“ Er tippte auf mein Brustbein. „Wild und frei wie der Wind, vorlaut und für jedes Abenteuer zu haben und noch dazu stur und einfach unbezähmbar.“

Ehe ich mich versah, hatte er mich um die Hüften gepackt und wirbelte mich einmal im Kreis. Ich konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und schlug halbherzig nach ihm, ließ mich jedoch von seinem Lachen anstecken. In seinen Augen lag ein Funkeln, das mich an früher erinnerte. „Okay, okay!“, gab ich nach. „Du hast mich überzeugt. Du darfst mich weiterhin Zigeunerin nennen. Aber nur der alten Zeiten wegen.“

„Sehr großzügig von dir“, erwiderte er und stellte mich wieder auf meine Füße. Sanft umfasste er mein Gesicht und gab mir einen Kuss auf die Stirn. In meiner Brust breitete sich ein wohliges Gefühl von Geborgenheit aus. Aber dann ließ er mich los und brachte wieder etwas Abstand zwischen uns. An den Stellen, wo er mich zuvor berührt hatte, fehlte mir seine Wärme, und ich rieb mir instinktiv über die Arme, was einen erschrockenen Ausdruck auf seine Züge malte.

„Oh Gott, was bin ich für ein Trottel. Du hast ja nur einen dünnen Pulli an, dir muss ja eiskalt sein.“

„Na ja, ein bisschen“, gab ich zu.

Eilig zog Josh seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Ich kuschelte mich hinein und atmete seinen Duft, der aus dem groben Stoff aufstieg. Gemeinsam gingen wir weiter, bis wir am See ankamen.

„Weißt du noch, der Sommer, als du hier schwimmen gelernt hast?“, fragte er und kicherte.

„Du meinst, als ich fast ertrunken wäre, weil du mich an die tiefste Stelle gebracht und hilflos dort zurückgelassen hast.“

Das stimmte natürlich nicht. Josh hatte sich damals in den Kopf gesetzt, mir endlich das Schwimmen beizubringen, weshalb er ein kleines Floß gebaut und mich darauf in die Mitte des Sees geschoben hatte. Dann war er so lange mit mir dortgeblieben, bis ich mich traute, selbst zurückzuschwimmen. Alles Betteln und Weinen hatte ihn nicht erweichen können. Er war stur geblieben. Also überwand ich schließlich meine Angst, glitt von der wackligen Holzkonstruktion ins Wasser und schwamm sozusagen um mein Leben.

Josh hatte mich dabei keineswegs allein gelassen, sondern war immer an meiner Seite geschwommen, während ich darum kämpfte, nicht unterzugehen. Ganz sicher hätte er mich gerettet, wenn ich wirklich versunken wäre, doch als wir gemeinsam das Ufer erreichten, konnte ich schwimmen.

„Du hast gestrampelt wie ein Hund und mir Schimpfworte an den Kopf geworfen, bei denen deine Tante bestimmt in Ohnmacht gefallen wäre“, erinnerte sich Josh.

„Ich habe dich gehasst“, grummelte ich und schob schmollend die Unterlippe vor.

„Unsinn. Du wusstest ganz genau, dass ich dich retten würde, und eigentlich hast du es doch auch darauf angelegt.“ Er zwinkerte mir keck zu, und ich konnte ihm nicht widersprechen. Er hatte immer wie ein großer Bruder auf mich aufgepasst, auch wenn er meist der Anstifter bei all den Streichen gewesen war, die wir zusammen ausgeheckt hatten.

„Tut der Bruch von dem Reitunfall eigentlich noch manchmal weh?“, erkundigte ich mich und deutete auf seinen rechten Arm.

Zur Antwort leuchtete Josh mit der Taschenlampe auf die verblasste Narbe, und ehe ich richtig darüber nachdenken konnte, strich ich behutsam mit den Fingerspitzen darüber.

„Ich trag sie immer noch mit Stolz. Schließlich war ich dein Held.“

Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. „Du warst leichtsinnig. Das waren wir beide.“

„Aber ich hab dich gerettet. Wer weiß, wo das Pferd sonst mit dir hingerannt wäre.“

Bei der Erinnerung daran wurde mir heute noch angst und bange, obwohl ich inzwischen eine gute Reiterin war. Josh und ich hatten uns damals zwei der Hunter von der Weide stibitzt. Es hatte einen Riesenärger gegeben, weil die Tiere mit uns durchgegangen waren und das für jeden von uns böse hätte enden können. Unbeschadet waren wir aus der Sache nicht hervorgegangen. Josh hatte sein Pferd wieder unter Kontrolle bekommen, aber meines war in halsbrecherischem Tempo auf die Jagdstrecke zugelaufen. Die Hindernisse hätte ich nie im Leben geschafft. Darum hatte er sein Pferd neben meines gelenkt und versucht, mich zu sich rüberzuziehen. Dabei hatte er das Gleichgewicht verloren, und wir waren beide zu Boden gestürzt. Josh hatte mich mit seinem Körper geschützt und sich dadurch einen offenen Bruch des Unterarms zugezogen, während ich bloß ein paar Schürfwunden und Prellungen davongetragen hatte.

Josh war damals erst zwölf gewesen und ich sieben. Seit diesem Tag hatte ich meinen Spitznamen Zigeunerin endgültig bei ihm weg, weil er der Meinung war, dass nur die so reiten konnten wie der Teufel. Genau wie ich an diesem Tag. Manch einer hätte das vielleicht als Beleidigung aufgefasst, Tante Eileen ganz sicher, aber ich trug diese Bezeichnung mit ebenso viel Stolz wie Josh seinen Gips. Er war mein großer Held, und ich wusste, wie viel Bewunderung diesen Kosenamen begleitete und was er damit ausdrücken wollte. Er kannte sie, meine innere Ruhelosigkeit, wenn man versuchte, mich einzuengen. Nur draußen im Wald und in den Wiesen fühlte ich mich sicher und geerdet. Vor allem an seiner Seite. So war es jahrelang gewesen.

Aber am Ende jenes Sommers war ich dann ins Internat gekommen und unser Abenteuer vorbei gewesen. Danach hatten wir uns mit jedem Jahr weiter voneinander entfernt, bis ich schließlich nach Amerika ging.

„Ich hatte Angst davor, dich wiederzusehen“, gestand ich ihm. „Angst, dass du mich hassen könntest. Und was es in mir auslösen würde.“

Er runzelte ungläubig die Stirn. „Dich hassen? Rose, wir waren Freunde. Du warst wie ein Teil meiner Familie, meine kleine Schwester. Ich war wütend und enttäuscht, weil du dich mit einem Mal so anders mir gegenüber verhalten hattest, aber deshalb hasse ich dich nicht.“

Josh trat nah zu mir heran und legte seine Hände um mein Gesicht. Sie fühlten sich warm und ein wenig rau an. Man merkte ihnen die harte Arbeit an, die er damit verrichtete.

Behutsam strich er über meine Wangenknochen, wo die Tränen inzwischen getrocknet waren. „Hey, wir waren damals praktisch noch Kinder. Na ja, du jedenfalls.“ Er grinste schon wieder und zog seine Aussage damit ins Spaßige, was der Ehrlichkeit aber keinen Abbruch tat.

Ich boxte ihm in gespielter Entrüstung vor die Brust, woraufhin er für Sekunden den tödlich Getroffenen mimte. Wir mussten beide lachen, bis Josh mich ein weiteres Mal an sich zog. Diesmal lehnte ich mich vertrauensvoll an ihn und genoss einfach schweigend unsere Zweisamkeit, als hätte es die zehn Jahre der Trennung nie gegeben.

„Ich bin froh, dass du wieder hier bist, Zigeunerin“, raunte er und ließ mein Herz damit schneller schlagen. „Ich hoffe, du gehst nie wieder fort.“

Der Herbst des Falken

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