Читать книгу Sechs Gläser für Amalie - Tarius Toxditis - Страница 18

Nummer 14: Anne in der Tankstelle Tunkel

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Libell Libell An einer Kreuzung befand sich die Hochkneipe. Beziehungsweise an der Hauptstraße unserer Gegend. Die Querstraße hingegen eine von vielen engen Gassen, die bis zu den engsten, verwinkelten Ecken unsere Vorstadt führte. Die eng angeschmiegten Häuschen verfügten selten mehr wie über zwei Stockwerke, und die Straßen hier waren zumeist einspurig. Von den Hinterhöfen hallte es. Tratschende Hausfrauen gleichermaßen wie tobende Kinder, kläffende Hunde, oder das schrille Kreischen einer Fräsmaschine aus irgendeiner der kleinen Werkstätten. Vor den Eingängen der Häuser gehörten aufgereihte Mülltonnen gleichermaßen zum Vorstadtbild wie mit Wäschestücken behangene Leinen, welche zwischen den Häusern über die engen Gassen gespannt waren.

An der Kneipe neben der Querstraße befand sich unsere kleine Vorstadtkirche mit Turm. Deren Glocken zu jeder Stunde schlugen, zu den Viertelstunden jeweils einmal. Unmittelbar dahinter unser Vorstadt– Friedhof. Vor den Hecken der beschaulichen Anlage das gelb – grüne Haltestellen – Schild für die Busse, die aus unserer Vorstadt fuhren. Klar, dass die Hauptstraße an dieser Stelle eine Verbreiterung erfuhr, wo die Busse in den Einbuchtungen halten konnten.

Gegenüber der Kirche ein Parkplatz, wo zweimal wöchentlich ein Obst – und Gemüsemarkt gehalten wurde. Es sei denn, es fanden Veranstaltungen wie die jährliche Kirchweih oder andere volksfestähnliche Veranstaltungen statt. Vor den Hecken der asphaltierten Anlage das gelb – grüne Haltestellen – Schild für die Busse, die in unsere Vorstadt einfuhren. Klar, dass es auch an diese Stelle eine Einbuchtung gab, die sogar etwas länger war als die auf der Kirchenseite. Das längere Stückchen war reserviert für Leonids Taxistand. Wo sein Wagen in absoluten Ruhestand. Glasklar, wenn man bedenkt, dass er gerade beim Konsumieren von Weinhaltigem war.

Es wehte ein leichter Wind, als Anne aus der Kneipe getreten war. Ein spätsommerliches Wetter, wenn man so wollte. Nicht all zu kalt, unter den vereinzelten Passanten auf den Bürgersteigen gab es sogar ein paar, die ohne Jacke unterwegs waren.

Annes Überqueren der Straße mehr wie ein Rätsel. Oder einfach nur Gewohnheit? Denn Abrahams Antiquitätengeschäft befand sich eigentlich auf ihre Seite, so dass ein Überqueren bezüglich ihres Ziels unnötig war. Ja, ihres Ziels, welches ja nichts weiter war wie das Abholen der sechs römischen Weingläser für ihre Mutter. Vor Erichs Laden befand sich indes ein knallgelber Transporter. Es war der des Musik - Großhändlers Schlürenbacker. Deutlich zu erkennen auch an der Aufschrift:

MUSIK- GROSSHÄNDLER SCHLÜRENBACKER Wir transportieren alles Mögliche

Helm Hops Schlürenbacker war von magerer Gestalt, die in einem knallgelben Firmenoverall gesteckt war. Auffälligstes Merkmal seines Erscheinens sein lichtes, graues Haar, dass bis zu den Schultern reichte. Wenn es nicht gerade vom Wind in alle möglichen und unmöglichen Richtungen verweht wurde.

Libell Libell Er lud ein paar kleinere und größere Kartons aus, reichte sie Erich Tolstoi, welcher sie wiederum vor seinem Schaufenster stapelte.

Erich Tolstoi Hallo, Anne – auch schon wieder unterwegs?

Helm Hops Nicht allzu groß war Erich, der wie Leonid ein sogenannter Russlanddeutscher war. Eher gedrungen gelang es ihm kaum, sein Bäuchlein hinter einem dunkelblauen, ab den Ärmeln hochgekrempeltes Hemd zu verstecken.

Anne Hoch Ja, leider.

Schlürenbacker Bist nicht gerade erst aus der Schule gekommen?

Anne Hoch Doch, eigentlich schon.

Schlürenbacker Wenn mich meine Eindrücke nicht restlos getäuscht haben.

Erich Tolstoi Nein, haben sie nicht. Vor ein paar Minuten. Aber wieso eigentlich leider?

Anne Hoch Muss Gläser abholen.

Erich Tolstoi Wie Gläser?

Anne Hoch Ja, beim Abraham.

Schlürenbacker Na, ihr da drüben habt ja auch sonst keine.

Anne Hoch Sind doch für meine Mutter.

Erich Tolstoi Ein paar Gläser für deine Mutter. Das ist natürlich etwas ganz Anderes.

Anne Hoch Drum muss ich jetzt auch weiter.

Erich Tolstoi Dann mach‘ s mal gut, Mädel.

Schlürenbacker Und sag deiner Mutter mal einen Gruß. Vielleicht schau ich demnächst mal wieder bei euch rein.

Libell Libell Anstatt die Straße weiter entlang zu gehen, um Abrahams Laden zu erreichen, beziehungsweise die sechs römischen Gläser, betrat die Schülerin den Shop der Tankstelle. Wohl mehr eine Gewohnheit, denn bedacht. Wie gesagt - fast jedes Mal schaute sie beim Tunkel rein, sobald die Kneipe verlassen worden war. Beziehungsweise die Straße überquerte. Und noch bevor sie sich besann, dass sie mit dem Abholen der römischen Weingläser doch jetzt eigentlich was anderes zu tun gehabt hatte, war sie von Tunkel, der sich wie üblich hinter seinem Ladentisch aufhielt, schon bemerkt worden.

Tankwart Tunkel Hallo, Anne – was wollen wir denn heute?

Anne Hoch Nichts.

Helm Hops Tunkel und seine Tankstelle waren Teil des Gesamten unseres Viertels. Genauso wie die Kirchturmuhr zum Beispiel, die sich ja aus seiner Sicht diagonal von ihm befand. Beziehungsweise wie alles andere hier. Er war noch relativ jung, höchstens dreißig Jahre, seine schlanke Figur in einem marineblauen Tankwart – Overall gesteckt. Von den Umsätzen der Tankstelle konnte er gut leben; gerade war er am Verzehren einer Bockwurst aus seinem Köcher.

Tankwart Tunkel Wie nichts?

Anne Hoch Hab einfach keine Zeit heute.

Tankwart Tunkel Keine Zeit?

Anne Hoch Och, Tunkel - wenn ich‘ s doch sage.

Tankwart Tunkel So, so – und was verschafft dem Tankwart Tunkel dann trotzdem die Ehre?

Anne Hoch Ich muss Gläser holen.

Tankwart Tunkel Gläser? Hierbei ist der Tunkel allerdings weniger gut sortiert. Muss er zugeben.

Anne Hoch Für meine Mutter.

Tankwart Tunkel Für deine Mutter. Klar, die hat ja auch sonst keine.

Anne Hoch Beim Abraham.

Tankwart Tunkel So, so, beim Abraham. Aber du wirst lachen.

Anne Hoch Mensch, Tunkel, das ist überhaupt nicht komisch.,

Tankwart Tunkel Doch natürlich. Der war nämlich gerade bei mir.

Anne Hoch Wer? Doch nicht der Abraham?

Tankwart Tunkel Wenn ich‘ s doch sage. Bestimmt keine Viertelstunde vergangen.

Etwas früher, dann hättest du ihn hier antreffen können.

Anne Hoch Hätte mir auch nichts genutzt.

Tankwart Tunkel Hier bei mir in meiner kleinen Tankstelle.

Anne Hoch Dann hätte ich trotzdem zu ihm gehen müssen.

Tankwart Tunkel Ja, ich weiß.

Anne Hoch Wie du weißt.

Tankwart Tunkel Wegen den Gläsern.

Anne Hoch Ach ja. Leider.

Tankwart Tunkel Na, dann kann man wohl heute nichts machen.

Anne Hoch Also, tschau, Tunkel.

Tankwart Tunkel Wieso tschau? Soll doch nicht bedeuten, dass du dir heute gar nichts aussuchen möchtest?

Anne Hoch Nee, einfach keine Zeit.

Tankwart Tunkel Klingt nicht sonderlich gut. Ehrlich gesagt.

Anne Hoch Aber was soll ich denn machen?

Tankwart Tunkel Und auf eine Partie Mühle werden wir dann wohl heut auch gänzlich verzichten müssen.

Anne Hoch Vielleicht das nächste Mal wieder.

Tankwart Tunkel Und warum nimmst du dir nicht trotzdem was mit?

Anne Hoch Ach, Tunkel! Um Himmelswillen!

Tankwart Tunkel Wo bei mir doch heute eine frische Lieferung mit Kaugummi eingetrudelt ist.

Anne Hoch Hm?

Tankwart Tunkel Mit Stachelbeeren – Geschmack.

Anne Hoch Stachelbeeren?

Tankwart Tunkel Na klar – wenn´ s der Tankwart Tunkel doch sagt.

Anne Hoch Kaugummis? Die nach Stachelbeeren schmecken,

Tankwart Tunkel Echt sauer.

Anne Hoch Wie sauer.

Tankwart Tunkel Muss man einfach probiert haben. Gleich neben der Los – Box.

Anne Hoch Wie Los – Box?

Tankwart Tunkel Hier, gleich vor meiner Kasse. Zur Selbstbedienung.

Anne Hoch Sag bloß, Lose hast du jetzt auch noch.

Tankwart Tunkel Na, ja warum denn auch nicht?

Anne Hoch Äh, ich, äh, wusste ich gar nicht. Dass du jetzt auch noch welche verkaufst?

Tankwart Tunkel Lose für die große Lotterie. Und der Tankwart Tunkel verdient kräftig mit. Am Verkaufserlös. Schließlich muss man auch als Tunkel ja sehen, wo man bleibt.

Anne Hoch Ich glaub, ich geh dann wirklich mal.

Tankwart Tunkel Warte Anne, das Beste kommt ja noch.

Anne Hoch Oh, Tunkel, kannst du mir das nicht das nächste Mal erzählen?

Tankwart Tunkel Nämlich warum der alte Abraham beim Tankwart Tunkel gewesen ist.

Anne Hoch Ob ich das wirklich unbedingt wissen will?

Tankwart Tunkel Wegen der Lose – er hat sich von den Losen was gekauft.

Anne Hoch Also, Tunkel – das ist wirklich etwas, was mich überhaupt nicht interessiert!

Tankwart Tunkel Und was für einen Batzen!

Anne Hoch Um Himmelswillen!

Tankwart Tunkel Mindestens zwei Dutzend.

Anne Hoch Ich glaube, ich nehme mir jetzt doch noch ein Päckchen mit den Stachelbeeren – Kaugummis.

Tankwart Tunkel Nur zu, Sich einfach bedienen.

Libell Libell Schlürenbacker betrat den Shop der Tankstelle.

Schlürenbacker Hey, Tunkel – hast du vielleicht noch eine Bockwurst im Köcher?

Tankwart Tunkel Immerzu, Schlürenbacker, immerzu.

Schlürenbacker Anne, du bist ja auch noch immer hier.

Anne Hoch So gut wie weg.

Schlürenbacker Ja, ich weiß, die Gläser für deine Mutter holen. Und sag ihr mal einen Gruß.

Tankwart Tunkel Willst du etwas Senf zu deiner Wurst? Senf oder Ketschup?

Schlürenbacker Vielleicht schau ich mal wieder bei euch rein.

Tankwart Tunkel So wie immer.

Libell Libell Zurück auf die Straße war Erich dabei, die Kisten und Kartons vor seinem Schaufenster in den Laden zu scharren. Für ein Vorstadtviertel ein vielleicht etwas ungewöhnliches Geschäft. Oder stellte sich nicht zumindest die Frage, ob sich Musikinstrumente unten im Stadtzentrum besser verkauften? Unterm Strich betrachtet? Doch vielleicht ist es ja manchmal auch so, dass Eindrücke täuschten. In der Tat besaß Erich und sein Laden einen so guten Ruf, dass Leute von nah und fern ihn aufsuchten. Und dies seit Tag und Nacht, um von Triangeln bis zum Flügel alles zu erhaschen. Eben all das, was von ihm so feilgeboten wurde.

Erich Tolstoi Na, Anne – bist ja noch immer unterwegs.

Anne Hoch Ja, leider.

Erich Tolstoi Ich wundere mich nur. Oder wolltest du nicht zum Abraham?

Anne Hoch Was heißt wollen?

Erich Tolstoi Ach, dann warst du noch gar nicht bei ihm.

Anne Hoch Was bleibt mir denn Anderes übrig?

Erich Tolstoi Ja, sechs Gläser, ich weiß.

Anne Hoch Für meine Mutter.

Erich Tolstoi Oder dann doch auf dem Weg in den Wald?

Anne Hoch In den Wald? Wie kommst du denn jetzt darauf?

Erich Tolstoi Wegen der Trauerfeier.

Anne Hoch Trauerfeier?

Erich Tolstoi Ach, denn scheinst du noch nichts mitbekommen zu haben.

Anne Hoch Nein, was denn – was soll ich mitbekommen haben?

Erich Tolstoi Die Frau von Nicrus Hunni. Müsstest du doch eigentlich auch kennen.

Anne Hoch Ja, doch. Ein bisschen.

Erich Tolstoi Verstorben. Auf dem Fußballplatz.

Anne Hoch Oh, Erich. Aber für so etwas habe ich jetzt wirklich überhaupt keine Zeit!

Erich Tolstoi Auf dem Fußballplatz. Unter der Trainerbank.

Anne Hoch Muss weiter.

Erich Tolstoi Ist gut, Mädel. Ich muss mich ohnehin noch um meine Lieferung kümmern. Ach, apropos Lieferung, vielleicht hätte ich sogar was für dich.

Anne Hoch Och, Erich, aber doch nicht jetzt.

Erich Tolstoi Eine Sammlung mit exquisiten Holzflöten. Vielleicht ist ja für dich was dabei.

Anne Hoch Nein Erich, nicht jetzt.

Erich Tolstoi Schon gut, muss sowieso noch alles ausgepackt werden.

Libell Libell Anne Hoch ging weiterhin auf die Seite, auf welcher sie sich befand. Ein paar Schritte von Erich und seinen Musikinstrumenten entfernt, parkte vor dem nächsten Geschäft ein schwarzer Käfer, vor dem sich zwei Männer unterhielten.

Helm Hops Der eine war natürlich der Inhaber des Ladens, dessen Schaufenster mit weißen Gardinen behangen war und mit schicken Urnen ausgestattet. Klar, dass es sich hierbei um das Bestattungsinstitut von Kamil Vandor handelte. Der klein gewachsene Mann ergrauten Haaren und ergrauten Bartstoppeln dürfte bereits jenseits der Fünfzig gelegen haben. Stets konnte man bei ihm den Eindruck gewinnen, dass die grauen Knautschanzüge, in welche er gezwängt, eine Nummer zu groß für ihn gewesen waren. Vandor Ist Alleinerziehender, seine Frau starb bei der Geburt ihrer Tochter Fannie. Gut leben konnte er von seinem Institut. Zumindest warf es für Vandor und seine Tochter genügend ab.

Der andere hatte, glatte, graue, feines Haar und dürfte schätzungsweise um die sechzig Jahre gewesen sein. Keine Frage, dass es sich bei ihm um Stadtpfarrer Kühnert handelte. Dem auch der schwarze Käfer gehörte.

Libell Libell Die beiden Herren waren gerade in ein Gespräch verwickelt.

Kamil Vandor Mir ist ja schon vieles vorgekommen.

Pfarrer Kühnert Freut mich, freut mich, freut mich.

Kamil Vandor Aber so etwas wirklich noch nicht.

Pfarrer Kühnert Wäre wichtig, wäre wichtig. Und wenn es geht heute noch, heute noch.

Kamil Vandor Und wie ich das überhaupt bewerkstelligen soll, verraten Sie mir sicherlich auch noch. So wie ich sie einschätze.

Pfarrer Kühnert Kleinere Größen, in ihrem Sortiment, Größen, Sortiment.

Kamil Vandor Herr Pfarrer, ich bin eher bekannt für meine Standardausführungen. Etwas, was gerade einen wie Sie hinreichend bewusst sein sollte.

Pfarrer Kühnert Wir benötigen nur die Größe einer Streichholzschachtel. Benötigen, Streichholz, benötigen, Größe.

Kamil Vandor Eine Streichholzschachtel?

Pfarrer Kühnert Pietätlos. Trauerfeier, Bestattung, Trauerfeier, Bestattung.

Kamil Vandor Für eine Ameise?

Pfarrer Kühnert Einzelameise, Einzelameise, Einzelameise.

Kamil Vandor Ich beliefere grundsätzliche nur menschliche Wesen.

Pfarrer Kühnert Teil, Schöpfung, Teil, Schöpfung.

Kamil Vandor Schauen, was sich machen lässt, kann ich natürlich schon mal.

Pfarrer Kühnert Verbunden Herr, verbunden sehr, verbunden, Vandor.

Kamil Vandor Bevor Sie mir weiterhin auf die Nerven gehen.

Pfarrer Kühnert Auslieferung heute, heute Auslieferung.

Kamil Vandor Ich weiß natürlich noch nicht, wie lange ich für das Zuschneiden brauche.

Pfarrer Kühnert Trauer, heute, Feier, heute, Feier, Trauer.

Kamil Vandor Für ein Maß wie dieses habe ich doch überhaupt keine Erfahrung.

Pfarrer Kühnert Verlassen, Vandor, verlassen, Vandor.

Kamil Vandor Ich befürchte, es wird Sisyphos– Arbeit werden. Unterm Lichtmikroskop.

Pfarrer Kühnert Freut mich. Hallo, Anne, hallo, freut, Anne.

Libell Libell Nahezu wie angewurzelt war Anne stehen geblieben und hatte das Gespräch verfolgt.

Kamil Vandor Ich glaub, wir haben dich gar nicht bemerkt.

Pfarrer Kühnert Länger stehen, länger hier?

Anne Hoch Nein, das nicht gerade.

Kamil Vandor Hoffentlich hast du nicht alles mitbekommen. Was wir gesagt haben. Nicht immer ist alles unbedingt für ein Kind bestimmt.

Pfarrer Kühnert Wieso nicht, nicht, nicht, wieso?

Anne Hoch Ich muss sowieso weiter.

Pfarrer Kühnert Trauer, Feier, Trauer, Feier.

Kamil Vandor Also, Herr Pfarrer, bei allem Respekt. Aber ich glaube ja nicht, dass dies Dinge sind, die einem Kind wirklich interessieren. Ich glaube sowieso eher, dass sie was Anderes will.

Pfarrer Kühnert Ablenken, bitte nicht, ablenken nicht, bitte.

Anne Hoch Am sechs Gläser abholen bin ich.

Kamil Vandor Und ich dachte, dass du zu meiner Fannie willst.

Anne Hoch Für meine Mutter.

Pfarrer Kühnert Kind, Trauer, Tod, Kind, Thema, Trauer.

Anne Hoch Beim Abraham.

Kamil Vandor Aber ich glaube, sie ist sowieso nicht da.

Pfarrer Kühnert Leben, Dinge, Dinge, Leben.

Kamil Vandor Probier‘s doch vielleicht mal auf dem Schulhof.

Pfarrer Kühnert Anfangen, früh, früh, anfangen.

Kamil Vandor Ich schätze, dort müsste sie sein.

Pfarrer Kühnert Verstorben, wer, wer, Anne, weißt du, verstorben, wer.

Anne Hoch Nein, Herr Pfarrer. Weiß ich nicht.

Pfarrer Kühnert Nicra Hunni, Nicra Hunni

Anne Hoch Nicra wer – kenn ich nicht.

Pfarrer Kühnert Kennen, nicht kennen, nicht kennen, kennen.

Kamil Vandor Gekannt, Herr Pfarrer, gekannt?

Pfarrer Kühnert Gekannt, gekannt, gekannt.

Kamil Vandor Natürlich gekannt – sie ist ja nicht mehr.

Pfarrer Kühnert Gattin, Gattin, Nicrus Gattin, Nicrus.

Anne Hoch Ach, die.

Kamil Vandor So viel zum Thema pietätlos.

Pfarrer Kühnert Nicht kennen, kennen, nicht kennen.

Kamil Vandor Meine Nerven!

Anne Hoch Ich geh dann. Bin sowieso schon spät dran.

Pfarrer Kühnert Sehen, nachher, sehen, nachher?

Kamil Vandor Aber Herr Pfarrer, wo sie doch beim Gläser abholen ist. Oder haben Sie nicht richtig zugehört?

Anne Hoch Tschau.

Pfarrer Kühnert Bank, uralt, Wald, Markstein, Helm Hops.

Kamil Vandor Für ihre Mutter.

Pfarrer Kühnert Wichtig, wichtig, wichtig,

Kamil Vandor Ach, und falls du Fannie siehst.

Pfarrer Kühnert Beistehen, Nicrus, wichtig, Hunni.

Kamil Vandor Könntest du Ihr Bescheid geben? Am besten gleich zu mir schicken. Natürlich nur, wenn‘ s dir nichts ausmacht.

Anne Hoch Nein, macht mir nichts aus.

Pfarrer Kühnert Zeit, schwer, Zeit.

Kamil Vandor Und ich werde mich ans Werk machen.

Pfarrer Kühnert Machen, machen, Ansprache, schreiben, Ansprache.

Kamil Vandor Für das exakte Zuschneiden eines Minisarges.

Pfarrer Kühnert Bank, uralt, Wald, Markstein, Helm Hops

Libell Libell Wieder an eng angeschmiegten Häuserfassaden vorbei, erreichte Anna als Nächstes eine kleine Querstraße, die wiederum zu den engen und verwinkelten Gassen unserer Vorstadt führte. An der Ecke der kleine Blumenladen von Milly Schultes. Ein paar Topfpflanzen vor dem Schaufenster, dass mit Grünwuchs üppig dekoriert war.

Helm Hops Schwerlich zu sagen, wie alt Milly genau war. Wenn man jedoch zwischen fünfundzwanzig und dreißig getippt hätte, wäre man wahrscheinlich nicht allzu sehr danebengelegen. Zumeist trug die kleine Frau einen eigentlich etwas für sie zu weit geschnittenen, etwa knielangen Jeansrock, in welchem ihre ein klein wenig zu rund geratene Gestalt noch etwas rundlicher wirkte. Ja, ja, die Schlankeste nicht gerade, dazu eine beige Windjacke – ebenfalls viel zu weit. Weiterhin eine weinrote Wollstrumpfhose und knallgelbe Gummistiefel. Ihre Haare rankten in wilden Strähnen in allen möglichen und unmöglichen Richtungen und zeugten sowohl von Restbeständen einer vor Monaten geformten Dauerwelle und von verschiedenen zu verschiedenen Zeitpunkten erfolgten Blondtönungen. Ihr Gesicht kaum geschminkt bis auf ein paar farblose Lippenstiftzüge und ein dumpf aufgetragenes, sehr trocken wirkendes Hellblau auf ihren Augenlidern.

Nicht erst seit gestern sorgte Milly mit der – höflich ausgedrückt – saloppen Führung ihres Blumenladens für Verwunderung unter den Bewohnerinnen unseres Viertels. Beziehungsweise Bewohnern; verbunden mit der Frage, wie sie und ihr Laden eigentlich überleben hatte können?

Denn unterm Strich waren wir Vorstadt und nicht Zentrum einer etwas kleineren Großstadt, welches sich ein paar Kilometer unterhalb befand. Also doch etwas abgelegen. Unterm Strich betrachtet. Was auf der anderen Seite nicht bedeutete, dass man bei uns keine guten Geschäfte machen konnte. Siehe Erichs Musikladen, Kamil Vandors Bestattungsinstitut, die Hochkneipe, Tunkels Tankstelle und viele mehr. Doch gehörte hierfür nicht auch hinzu, dass man gelegentlich auch präsent zu sein hatte? Hinter der Verkaufstheke? Zu den Öffnungszeiten – und genau dies war der Punkt. Denn Millie hielt sich häufig woanders auf. Der Laden stand zwar nahezu immer offen, doch im Gegensatz zu Amalie Hoch zum Beispiel verzichtete sie weitgehend auf ein Hinweisschild wie „Komme – Gleich – wieder.“

Wirklich ein Wunder also, dass mehr und mehr Kunden den Laden mieden. Zumal Blumen und Kränze auch auf dem Wochenmarkt erhältlich waren – auch wenn dies nur zweimal wöchentlich.

So war es beinahe schon ein Zufall, als Anne die Blumenfrau vor ihrem Laden an der Ecke, wo sie mit einer grünen Gießkanne ein paar Topfpflanzen mit frischem Wasser versorgte, begegnete

Milly Schultes Ah, Anne – hallo! Was ist mit dir denn los?

Anne Hoch Muss zum Abraham.

Milly Schultes Oh, klingt ja nach was ganz Wichtigem.

Anne Hoch Ja, für meine Mutter was abholen.

Milly Schultes Gut – dann will ich dich auch nicht länger aufhalten.

Anne Hoch Tschau, Milly.

Milly Schultes Das heißt, vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass du jetzt gerade erschienen bist.

Anne Hoch Hä!

Milly Schulte Ja, wundere dich nur. Aber ich glaube, ich habe diesmal auch was für dich!

Anne Hoch Für mich?

Milly Schulte Ja, wenn ich`s doch sage. Drinnen im Laden.

Anne Hoch Oh, Milly. Zeit ist etwas, was ich heute überhaupt nicht habe.

Libell Libell Trotz ihres fühlbaren, engen Zeitfensters folgte Anne der Blumenfrau in ihren Blumenladen. Aus einer ihrer überall auf den Boden gestandenen Blumenvasen zückte sie eine Rose. Das Blütenwerk war bereits deutlich am Verwelken, die Blätter kurz vorm abfallen.

Milly Schultes Kannst sie alle haben.

Anne Hoch Nee, Milly.

Milly Schultes Ich dachte, für deine Mutter vielleicht.

Anne Hoch Sind doch außerdem schon am Verwelken.

Milly Schultes Sechs Stück.

Anne Hoch Ich wüsste auch gar nicht, wie ich sie tragen soll.

Milly Schultes Wo ich sie dir doch schenken möchte.

Anne Hoch Muss doch gleich noch einen Karton tragen. Mit sechs Gläsern.

Milly Schultes Ich werfe sie sowieso bald weg.

Libell Libell Anne verließ den Laden, ohne die verwelkten Rosen mitzunehmen. Klar, sie wollte die Hände frei haben für den Karton mit den sechs Gläsern. Wie gesagt, aber selbst wenn sie nichts zum Heimtragen gehabt hätte, hätte sie die Rosen von Milly wohl kaum angenommen. Die schmale Querstraße überquert, befand sich an der Ecke gegenüber Millys Blumengeschäft gleich der nächste Laden. Es handelte es sich um eines der neueren Geschäfte hier bei uns, nämlich um die Schreibwarenhandlung von Franz Schmidt.

Zudem war der Ladenbesitzer nicht allein. Doch was es mit alldem auf sich hatte, verraten wir nach dem nächsten Break.

Sechs Gläser für Amalie

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