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ОглавлениеAllmählich war es spät am Abend. Später, als Mattis sonst auf war. Trotzdem mochte er nicht ins Bett gehen, sondern tigerte draußen herum. Nagte etwas an einem, dann war es noch viel schlimmer, wenn man sich im Bett hin und her wälzte.
Vielleicht schläft die Hege ja auch nicht. Ist nur so früh reingegangen, damit sie mich nicht mehr sehen braucht.
»Und das ist wirklich nicht lustig«, sagte er laut, so laut, dass es vielleicht durch die Wand bei ihr drinnen zu hören war.
Ihm machte das zu schaffen.
Ein plötzlicher Gedanke ließ ihn zusammenschrecken:
Du darfst mich nicht alleinlassen!, durchfuhr es ihn, an Hege in ihrer Kammer gerichtet. Was dir und mir auch passiert, du darfst mich nicht alleinlassen.
Neu war dieser Gedanke nun wirklich nicht, er fühlte sich nur jedes Mal neu an, jedes Mal gleich schlimm. Jedes Mal musste er den Gedanken wegschieben, das war Unsinn, Hege hatte nie ein Wörtchen von alleinlassen gesagt. Warum sich damit quälen?
Das Bild wollte nicht weichen. Er sah Hege weggehen, immer weiter weg. All ihr Eigentum in einem Bündel unter dem Arm.
Gehst du weg?
Ja, Mattis.
Das wird schwer, Hege.
Ja, Mattis.
Dann ging sie.
Hörte nicht mehr, was er sagte, wurde immer kleiner, war am Ende nur noch ein schwarzes Pünktchen – und so blieb sie. Ganz und gar verschwinden konnte sie nicht in diesem traurigen Spiel.
Und genau da passierte etwas Großes:
Wie er nachgrübelte und Hege weggehen sah, saß er auf seinem alten Stammplatz auf der Vortreppe und blickte über den See zu den Hängen im Westen. Der See lag jetzt schwarz, über den Hängen dunkelte es immer mehr. Schöne Sommerdämmerung überall, am Himmel und auf Erden. Mattis war für so was durchaus nicht blind.
Ihr Häuschen lag in einer etwas moorigen Senke, die sich vom See heraufzog. Fichtenwald, mit Birken und Espen gemischt. Ein schmaler Bach rann durch sie hinab. Manchmal fand Mattis, hier war es schöner als an allen anderen Orten, die er je gesehen hatte – was herzlich wenige waren.
Vielleicht hatte er auch jetzt diese Empfindung – jedenfalls blickte er gedankenverloren vor sich hin und ließ die Dämmerung voranschreiten, soweit man das noch dämmern nennen konnte und es nicht nur etwas unsagbar Mildes war.
In diesem Augenblick kam das Unerwartete.
Auf dieser Seite vom Wind ist es still, dachte er gerade, während er auf die beiden Espenwipfel und den Nachthimmel blickte. Da tat sich etwas zwischen den Wipfeln, er bildete sich ein, es sehen zu können, so klar war es. Kein Wind, nur eine Bewegung – und hier war es so still, dass sich an den belaubten Espen kein Blatt regte.
Und da, ein leiser Laut! Merkwürdige Töne auf einmal. Zugleich waren da undeutlich in der Luft über ihm ein paar kurze, rudernde Flügelschläge. Dann nochmals ein paar leise Lockrufe, in einer unbeholfenen Vogelsprache.
Es ging geradewegs übers Haus weg.
Aber Mattis durchzuckte es durch und durch. Stumme Erregung packte ihn, hellwach und getroffen saß er da:
War das etwas Unnatürliches gewesen?
Nein, alles andere als das. Obwohl …
Eine Waldschnepfe war das gewesen. Und die flog um diese Tageszeit nicht einfach so irgendwo lang: Ihr Balzflug hatte über sein Haus geführt!
Seit wann wohl?
Das hatte es im Frühling bislang noch nie gegeben. Nicht, soweit er sich erinnern konnte. Und er war oft so spät draußen unterwegs, er hätte es gesehen und gehört.
Aber heute Abend führte der Balzflug direkt über ihnen entlang, über Hege und ihm. Und so würde es weitergehen, jeden neuen Morgen und Abend wieder.
Mattis schaute auf sein Haus, es war wie verwandelt, man musste es mit anderen Augen ansehen. Der Flug der Schnepfen war irgendwie etwas, das in feinen Streifen weit von hier über ferne Täler ging. Das hatte er immer gedacht. Jetzt führte er hier entlang, war ganz einfach hierher verlegt.
Es sei denn, es wäre Einbildung gewesen – er wusste, so was passierte ihm häufig. Kam es denn vor, dass die gewohnte Strecke des Balzflugs verlegt wurde? Das wusste er nicht. Und warum hierher?
Atemlos saß Mattis da und wartete. Denn wenn das wirklich der Balzflug war, der Schnepfenstrich, dann kam der Vogel bald wieder vorüber, auf derselben Strecke, Mal ums Mal, während der kurzen abendlichen Flugzeit. Er kannte das von alteingeführten Strecken andernorts, von denen er wusste. Frühmorgens folgt der Vogel wieder demselben Strich, hatte ein Jäger ihm erzählt. In trockenen Gräben hatte er manchmal Stellen gesehen, wo Schnepfenschnäbel gestochert hatten, daneben die Spuren zarter Vogelfüße.
Er wartete gespannt. Die Zeit wurde ihm lang, der Zweifel wuchs.
Psst, da war es. Das ruckartige Flattern, der Vogel selbst schemenhaft und rasch in der Luft direkt über dem Haus, jetzt in der entgegengesetzten Richtung. Und wieder weg, verborgen im weichen Zwielicht und den schlafenden Baumwipfeln.
Da sagte Mattis laut:
»Ja, das ist der Schnepfenstrich.«
Er wusste nicht, warum er das sagte und woher er es hatte. Weniger konnte er nicht sagen oder tun – und niemand hörte ihn dabei.
Es fühlte sich an, wie wenn nach langer, schwerer Zeit etwas überstanden war.
Sein erster Gedanke war, es Hege zu erzählen, er wollte gleich hinlaufen. Ob sie jetzt schlief oder wach war, sie musste sofort davon erfahren – aber er hielt wieder inne. Wenn es wirklich stimmte, dann kam der Vogel bald zum dritten Mal, und Mattis war sich seiner Sache so wenig sicher, dass er das noch abwarten musste. Selig dasitzen und warten.
Wenn ich es drei Mal gesehen habe, muss Hege es glauben. Alle müssen es glauben.
Psst, da ist es wieder.
Genau wie vorhin, das Flattern, der pfeilschnelle Schatten im Dämmer – und der schöne Lockruf, ob den nun wer hörte oder nicht. Gleich überm Dach hier, und fort ins Unendliche. Dann wieder nichts als der Spätabend.
Aber es war wirklich da gewesen. Jetzt weiß ich was, stellte er fest, ohne weiter nach Erklärungen zu suchen. Er war spürbar verändert, innerlich.
Und Hege schläft!
Jetzt durfte auch Hege verändert werden.