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Vorwort

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Ob einer Persönlichkeit Raum gelassen wird, entscheidet allein das Zeitalter, in das man geboren wird. Man kann zu früh, aber auch zu spät zur Welt kommen. Die Epoche, in die wir hineingeworfen sind, hämmert und meißelt uns. Sie ist so schöpferisch, dass sie sogar die Gesichter formt. In den Physiognomien spiegelt sich »die Höhe der Zeit« wider; so, wie Architektur alles über Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter einer Kultur verrät. Alles hat ein Datum. Alles erhält Rhythmus und Richtung. Alles strebt auf etwas zu. Das kommende Zeitalter stößt bereits vor. Diese Welt richtet sich auf eine neue planetarische Ordnung aus. Die Bereitstellungen sind gewaltig: Es kommt zur Angleichung der Geschlechter, der Einebnung von Ethnien, Ständen und Klassen. Wertvorstellungen verschwinden. Jahreszeiten lösen sich auf, Grenzen fallen, Weltmeere sterben, die Weltbevölkerung steigt sprunghaft an und gigantische Wanderbewegungen setzen ein. Selbst der Stil wird global.

Den höheren Rhythmus der Geschichte – die Neuformierung der Welt – kann niemand aufhalten. Alles geht in diesem Zyklus seinen logischen, vorhergesehenen Gang; wie beim Kreislauf von Werden und Vergehen. Die Naturgesetzlichkeit, mit der sich all das vollzieht, ist die »Mutter aller Dinge«. Wir sind die Saat im Sturm.

Der Mensch hat sich über die Jahrhunderte nicht verändert. Er ist weder besser noch schlechter geworden. Er erhält nur, abhängig von der geschichtlichen Epoche, eine andere Mission und Richtung. Wenn »die Zeit gekommen ist«, dann wirken selbst Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten großer Staatenlenker in den vorhergesehenen Lauf hinein. Es gibt dann nichts Falsches mehr. Und umgekehrt: Keine noch so beeindruckende Einzeltat oder Ausnahmepersönlichkeit kann eine epochale Entwicklung umkehren, die einmal eingesetzt hat. Otto von Bismarck hat es geahnt, indem er auf die Frage, was Weltpolitik sei, antwortete: »Politik ist, dass man den Schritt Gottes durch die Hallen der Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, einen Zipfel seines Mantels zu fassen.« Im 18. Jahrhundert konnte es keine Angela Merkel geben. Die Zeit hätte es niemals zugelassen. Heute ist sie seelenhafte Verkörperung dieser Epoche. Wenn Bürgern die eigene Person das Heiligste ist, wenn Leichtgläubigkeit bei gleichzeitigem Unglauben existiert, Angst zur Tugend und Selbstbehauptung gescheut wird, kann sie höchste Staatsämter erringen. »Zum Frieden genügt nicht, dass man den Krieg nicht will«, schrieb Ernst Jünger und ahnte bereits, in welcher Phase des Zyklus sich unser kollektives Bewusstsein befindet.

Wir verbleiben auf dem Schiff. Das ist unsere Rolle in diesem Stück. Meine Kolumnen, die in diesem Buch wiedergegeben sind, sind weder Meinungsmache noch Sprachrohr oder Seelentrost. Es sind Chroniken. Ich bin Chronist. Das ist auch der Sinn all dessen, was ich zu sagen habe.

Wien, im Juli 2019Tassilo Wallentin

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