Читать книгу Leichen, die auf Kühe starren - Tatjana Kruse - Страница 9

Tag 1 Man soll den Tag nicht vor dem Kaffee loben

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Leo war seit exakt fünf Stunden und fünfzig Minuten 30 Jahre alt, und so richtig prickelnd fand sie das nicht. Deswegen würde sie heute auch nicht feiern. Allenfalls ein Bier zu Feierabend.

Sie pustete sich eine Locke aus dem Gesicht und marschierte den Einsiedeleiweg zügig hangabwärts. Spät dran. Wie immer.

Eigentlich hieß sie ja Luisa, aber schon beim Rausploppen aus dem Mutterleib – deutlich vor dem errechneten Geburtstermin während einer Zugfahrt – hatte sich gezeigt, dass sie gern sternzeichengerecht ihren eigenen Kopf durchsetzte. Und das Abenteuer liebte. So wurde aus Luisa bei allen, die sie als die Löwin kannten, die sie war, kurz Leo.

30. Sie hatte immer gedacht, mit 30 würde sie wissen, was sie vom Leben wollte. Da sei man halbwegs gesettelt. Sie hatte immer geglaubt, nach drei Jahrzehnten müsse klar sein, wohin man gehöre. Gerade als Löwin sollte sie sich bis dahin ihr eigenes Territorium erobert haben – und gut.

Aber nichts war weiter von ihrer derzeitigen Realität entfernt. Sie hatte ihr Studium geschmissen (zweimal), war ein paar Jahre mehr oder weniger ziellos durch die Welt gebackpackt und jobbte nun befristet als Zimmermädchen. Wäre ihre Großmutter – die sie nur aus den wenigen Ferienwochen ihrer Schulzeit kannte, weil sich die Mama mit der Oma böse entzweit hatte und die Mama (alleinerziehend) daraufhin über die Grenze ausgewandert war – nicht vor Kurzem gestorben, hätte sie jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf. So war sie vor Kurzem nach Kitzbühel gekommen. Um den Nachlass zu regeln. Um herauszufinden, wie es für sie weitergehen sollte. Aber so richtig angekommen war sie noch nicht. Und ob sie nun in Kitz jobbte wie jetzt, oder an der französischen Riviera wie letztes Jahr, oder in Kopenhagen wie vorvorletztes Jahr – irgendwie schien ihr das Leben ein einziger Tempel der Ödnis und Langeweile.

Wenn sie so darüber nachdachte, wurde sie doch einen Ticken nervös. Was sollte aus ihrem Leben werden? Das konnte doch nicht ewig so luschig in der Schwebe bleiben.

Leo hätte sich keine Sorgen machen müssen. In den nächsten 48 Stunden würde das Universum eingreifen und die Richtung vorgeben. Was sie natürlich nicht wusste. Momentan sputete sie sich einfach, um noch halbwegs im Rahmen zu spät zur Arbeit zu kommen.

Kurz darauf wienerte sie das Bad der Sisi-Suite.

Den Job im altehrwürdigen Marchwardushof, einem der allerersten und allerbesten Beherbergungsbetriebe von Kitzbühel und benannt nach Marchwardus, der um 1180 zum ersten Mal Chizbuhel mit Tinte auf eine Urkunde gänsefederte, hatte Leo nur temporär, jetzt in der Zwischensaison. Und auch nur, weil niemand Qualifizierteres zu haben war. Wer jetzt fragt, wie viel Qualifikation es erfordert, Hotelzimmer sauber zu machen, hat das noch nie getan.

Leo hatte sich gut, sogar sehr gut eingearbeitet. Sie machte die Zimmer, reinigte den Poolbereich und half, wenn Not an der Frau war, auch nachmittags im Cafébereich aus. Herr Neuveille, der Hoteldirektor, hatte sie schon beim Einstellungsgespräch gefragt, ob sie nicht den Winter über bleiben wolle. Aber ganz ehrlich, wenn zur Skisaison wieder über 100.000 Verrückte in den kleinen 8000-Seelen-Ort einfielen, dann wollte Leo eher nicht im Hotel arbeiten. Es war so schon stressig genug. Fast alle guten Geister des Hauses waren in Urlaub, und von den Verbliebenen waren zwei krank. Ergo gab es – obwohl das Haus nur zur Hälfte belegt war – Stress.

Die Zwischensaisongäste wussten zwar, dass Zwischensaison war, erwarteten aber dennoch den vollen Service. Und zwar pronto. Erst gestern hatte um Viertel vor zehn ein Gast an die Tür zum Spa-Bereich geklopft – ach was, gehämmert – und Eintritt verlangt, obwohl das Spa erst um zehn öffnete. Und ein anderer hatte sie zur Kaffeestunde angepflaumt, als sie die verschiedenen Kuchenvarianten nicht alle namentlich aufzählen konnte. Pech, aber sie waren ihr in den fünf Minuten, die ihr blieben, um sich vom Poolgirl in eine Aushilfsbuffetkellnerin zu verwandeln, nicht persönlich vorgestellt worden.

Nee, das Hotel- und Gaststättengewerbe war auf Dauer nichts für sie.

Wenn Leo ihr erstes Studium nicht abgebrochen hätte, würde sie jetzt Pubertierende in Sport und Englisch unterrichten. Das wäre aber weder für die Kids noch für sie ein Vergnügen gewesen. Leo war nicht wirklich kompatibel mit Menschen. Wer ihr dumm kam, wurde gerissen wie eine Antilope. Da kam die Löwin in Leo durch. Darum war es rückblickend gut, dass sie auch ihr zweites Studium an den Nagel gehängt hätte. Die Vorstellung, dass sie als Psychologin Menschen in seelischer Not half, war lachhaft.

Und danach hatte Leo sich treiben lassen. War ein Jahr durch die Welt gebackpackt, hatte sich auf Hawaii von einem Surfer das Herz brechen lassen – und beim Bergsteigen in Nepal den linken Unterarm. Solange sie nicht wusste, was sie wollte, würde sie im Haus ihrer Oma bleiben. Schon immer wohnte Leos Familie in diesem – mittlerweile ziemlich windschiefen – Fachwerkhaus, das sich an den Hahnenkamm schmiegte. Beste Lage. Hätte man schon längst für einen Millionenbetrag verkaufen können. Grundstückswert, nicht für das windschiefe Hexenhäuschen, in dem man jedweden modernen Komfort vergeblich suchte. Immerhin hatte die Oma Anfang der siebziger Jahre ein Badezimmer einbauen lassen.

Und so war Leo an diesem kühlen Herbstmorgen, an dem die Wolken so tief hingen, dass man das Gefühl hatte, sie beinahe anfassen zu können, zügig zum Marchwardushof geeilt, der punktgenau an der Stelle stand, wo die „Vorderstadt“ auf die „Hinterstadt“ traf, im mehr als 700 Jahre alten Herzen des Ortes, wo sie um nur zehn Minuten zu spät ihren Dienst angetreten hatte und nun die Sisi-Suite putzte.

Das Einzige, was ihr in diesem drögen Einerlei half, war ihre Neugier. Hier zum Beispiel lag – unter zwei ordentlich gefalteten Handtüchern, als ob man es nicht sehen sollte – eine Heimwerker-Bibel auf dem Wasserkasten der Toilette. Noch in Folie eingeschweißt und mit dem Preisaufkleber Bücherklause Haertel direkt um die Ecke. Die Folie war allerdings an einer Seite aufgeschlitzt und jemand hatte einen gelben Post-it-Zettel hineingeschoben. Auf dem auch etwas stand. Man konnte es nur nicht lesen, weil es falsch herum hineingesteckt worden war. Leo schob ihren Zeigefinger unter die Folie und …

„Was machen Sie denn da?“, brummte plötzlich eine Männerstimme. Sie brummte ungnädig. Der dazugehörige Kerl fixierte sie wie ein Krokodil, das gleich eine zarte Antilope mit einem einzigen Happs verschlingen wollte.

Leo ließ vor Schreck das Buch fallen. Leider fiel es in die Kloschüssel, deren Deckel schon aufgeklappt war. Mit Putzmittel getränktes Wasser spritzte.

„Was fällt Ihnen ein, sich so an mich anzuschleichen?“, donnerte sie.

Wenn sie in ihren nunmehr 30 Jahren auf diesem Planeten eines gelernt hatte, dann das: Angriff war die beste Verteidigung!

„Äh …“

Leo war einen Meter achtzig groß, aber der Mann überragte sie um mehr als Kopfeslänge. Und war doppelt so breit wie sie. Außerdem war er im Recht: Es war sein Zimmer, und sie sollte das Bad nur wischen, nicht inspizieren.

„Haben Sie die grüne Kordel nicht gesehen?“, sagte sie und fischte das Buch aus der Toilette.

Wenn ein Zimmer gerade gereinigt wurde, hing eine grüne Kordel am Türknauf. Wobei natürlich auch der Wagen mit den Handtüchern und Seifen direkt neben der angelehnten Tür als Indiz dienen könnte.

„Sie müssen sich bemerkbar machen, wenn Sie hereinkommen!“ Leo sah ihn streng an.

„Äh …“

Zweite Lektion: Beim Verteidigungsangriff das Gegenüber nie zu Wort kommen lassen!

„Was glauben Sie denn, was ich hier tue? Ich wollte gerade den Wasserkasten freiräumen, um ihn sauberzuwischen.“ Hoffentlich meldete er sie nicht dem Direktor. Zimmermädchen mussten über jeden Verdacht des Herumschnüffelns erhaben sein. „In fünf Minuten bin ich fertig. Ich kann natürlich später wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist.“

Der Ton macht die Musik, und Leos Ton war – ungeachtet der Worte – eher Marschmusik als eine einschmeichelnde Mozartmelodie, wie sie die Hotelleitung für solche Eventualitäten eigentlich vorsah.

Er sah sie unsicher an. Wie so viele Raubtiere verwirrte es ihn, wenn sich ein Beutetier mit knallharter Selbstsicherheit zur Wehr setzte.

„Nein, bitte. Machen Sie nur Ihre Arbeit“, sagte er. „Ich rauche so lange eine Zigarette auf dem Balkon. Schon gut, ich nehme es so.“

Er nahm ihr das tropfende Buch ab und zog sich auf seinen Zimmerbalkon zurück.

Leo atmete tief aus. Nochmal gut gegangen. Sie wollte zwar ihren Vertrag nicht verlängern, aber eine fristlose Kündigung konnte sie jetzt auch nicht gebrauchen.

Jeden Morgen bekam sie den Belegungsplan, auf dem die Zimmer aufgeführt waren, die sie an diesem Tag reinigen musste. Darauf stand die Personenzahl pro Zimmer und ob eine Ab- oder Anreise anstand. Die Sisi-Suite war von zwei Männern belegt. Für sieben Nächte. Anfangs hatte Leo geglaubt, es müsse sich um ein schwules Pärchen handeln, möglicherweise ziemlich sicher auf Hochzeitsreise, denn die romantische Sisi-Suite wurde fast ausschließlich für diesen Zweck gebucht. Aber nachdem sie die beiden Herren zufällig vor zwei Tagen im Hotelflur in Augenschein hatte nehmen können, war eins klar: Schwul waren die nicht. Also, vielleicht doch, man wusste ja nie. Aber die beiden waren das lebende Stereotyp von zwei Hetero-Schlägern, die für ein Inkasso-Büro arbeiten. Oder für einen Mafiaboss Schutzgelder einsammeln. Etwas in der Art. Körperbau, Anzüge, Ausstrahlung – da konnte es gar keinen Zweifel geben. Vermutlich teilten sie sich nur die Sisi-Suite, weil alle anderen Suiten schon belegt waren und sie was Großes wollten, um nachts zusammen im neuesten Schlagring-Katalog zu blättern.

Leo linste um die Ecke und putzte dann weiter.

Und ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie hatte in der Suite herumgeschnüffelt. Schon vor dem Buch unter den Handtüchern. Die meisten Menschen versteckten Dinge, die die Zimmermädchen nicht finden sollten, unter den gefalteten Pullovern im Kleiderschrank. Oder in ihren Koffern. Leo hatte beim Öffnen der Koffer sehr darauf geachtet, dass da kein Haar absichtlich unabsichtlich über dem Reißverschluss lag. Aber in den beiden Carry-ons der Männer befand sich nur die Schmutzwäsche, unter ihren Pullis lagen nur weitere Pullis, und in den Kulturbeuteln hatte sie weiter nichts als das Übliche plus einer Revitalisierungscreme für Schütterhaarige gefunden.

Leo wischte zügig die Fliesen sauber, dann verließ sie mit einem „Schönen Tag noch!“ das Zimmer.

Zu ihrer Verteidigung kann nur gesagt werden, dass ihr Job eben total öde war. Und dass sie als Kind mit ihrer Mutter – die vor nun schon zehn Jahren bei einer Bergwanderung ums Leben gekommen war – immer Privatdetektiv gespielt hatte: verfolgen, aufspüren, deduzieren. Sie hatte es geliebt. Und die Mama auch.

Na gut, die beiden Schläger boten also nichts Interessanteres als eine heimliche Liebe zum Heimwerken. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt. Vielleicht bot das nächste Zimmer eine faszinierende Abwechslung.

Leo sah auf den Belegungsplan. An der Tür zur großen Kaisersuite, in der sich eine arabische Familie einquartiert hatte, hing nun schon den dritten Tag in Folge das Bitte-nicht-stören-Schild.

Leo schob den Wagen mit den Putzutensilien und dem Nachschub an Handtüchern und Goodies über den rot-weiß karierten Teppichboden zur letzten Suite, der Bellevue-Suite. Belegung: eine Person. Abreise: noch offen. Das gab es auch nur in der Zwischensaison, dass sich jemand spontan überlegen konnte, wie lange er bleiben wollte.

„Housekeeping“, rief Leo und klopfte an die Zimmertür. Die im selben Bruchteil der Sekunde von dem weiblichen Gast der Suite aufgerissen wurde. Leo bekam beinahe einen Herzkasper. „Oh, Entschuldigung.“

„Nein, bitte, kommen Sie ruhig herein. Mein Zimmer hat es nötig.“

Leo sah über die Schulter der Frau. Wenn es ein Zimmer gab, das es nicht nötig hatte, dann dieses hier. Es sah nachgerade unbewohnt aus. Nirgends lag etwas herum, sogar die Betten waren schon gemacht. Sehr ungewöhnlich. Normalerweise ließen Hotelgäste das innere Ferkel raus, warfen ihre Klamotten überallhin, zielten mit den Abfällen auf den Papierkorb und scherten sich nicht, wenn sie ihn verfehlten, und vermittelten generell den Eindruck, als hätten sie eine Bombe hochgehen lassen. Weil, man musste ja nicht selbst aufräumen und putzen. Dieses Zimmer hier wirkte dagegen klinisch rein. Gehörte die Zimmerbewohnerin zu den Menschen, die auch zu Hause immer putzten, bevor die Putzfrau kam?

Aber auch, wenn Leo quasi nur die Betten machen und einmal über alle Oberflächen wischen musste, sie schätzte es nicht, wenn die Hotelgäste während des Reinigungsvorgangs anwesend waren. „Ich will Sie nicht stören. Ich komme später wieder.“

„Nein, nein. Es passt gerade gut. Bitteschön. Im Bad müssen Sie nichts machen. Nur die Papierkörbe leeren. Und den Aschenbecher auf dem Balkon.“

Die Frau trat zur Seite, um Leo einzulassen. Sie war auf den ersten Blick in Leos Alter, aber das wollte nichts heißen. Die Optik konnte täuschen. Letzte Woche hatte Leo in der Douglas-Filiale drei Blondinen gesehen, die sie von hinten für Drillinge gehalten hatte. Erst als sie an ihnen vorbei zur Kasse ging, wurde ihr klar, dass es sich um Großmutter, Mutter und Enkelin handelte. Drei Russinnen, die zweifelsohne sehr viel Geld in diese mehr oder weniger gelungene Täuschung investiert haben mussten.

Leo seufzte, trat ein und leerte als Erstes die Papierkörbe. Die Frau hatte den kleinen Maiereimer aus dem Bad geholt und die Badezimmertür geschlossen. Leo wollte den geleerten Mülleimer wieder ins Bad stellen, da rief sie: „Schon gut. Ins Bad müssen Sie nicht. Die Handtücher benutze ich alle nochmal.“

„Ich sollte aber …“, fing Leo an.

„Ins Bad müssen Sie nicht!“, erklärte die Frau final.

Leo nickte und ging zum Bett. Beim Aufschütteln der Bettwäsche sah sie aus den Augenwinkeln zu der Frau, die es sich in der Wohnecke der Suite bequem gemacht hatte. Sie lag sehr elegant auf der Couch und blätterte in der Vogue. Leo hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so elegant auf einer Couch gelegen. Es war eine Fotoshooting-Pose. Sie mochten ungefähr gleich alt sein, aber die Frau wirkte definitiv so, als habe sie ihren Lifestyle schon gefunden. Und der buchstabierte sich L-u-x-u-s.

Jetzt sah sie auf.

Rasch klopfte Leo die Daunendecken platt und platzierte Überdecke und Deko-Kissen in einer fest vorgeschriebenen Formation.

Die Bellevue-Suite war eigentlich keine richtige Suite. In einem großen Fünf-Sterne-Haus wäre sie allenfalls als Juniorsuite durchgegangen. Zwar sehr geräumig, aber eben nur ein großes Zimmer mit Schlaf-, Arbeits- und Wohnbereich, an das sich ein Flur mit zwei Kleiderschränken und ein luxuriöses Bad mit Wanne und Regenwalddusche anschlossen. Nicht einmal halb so groß wie die Sisi-Suite. Von der Kaisersuite ganz zu schweigen. Was die Bellevue-Suite auszeichnete, war – wie der Name schon sagte – die schöne Aussicht. Direkt auf den Hahnenkamm. Wo an diesem diesigen Samstagvormittag noch nicht viel los war. Und selbst wenn, durch den Dunst hätte man es nicht gesehen. Morgen würde das anders sein, da gab es Brunch und Remmidemmi mit Band – alle Gondelfahrten zum halben Preis.

„Wirklich schön hier“, sagte die Frau, die erst zum Hahnenkamm und dann zu Leo schaute. „Ich bin übrigens Irina.“

Leo hielt inne. Fraternisierung mit den Gästen? Sie hatte das ungute Gefühl, dass das von der Hotelleitung nicht gern gesehen wurde. Untergekommen war ihr so ein Fall noch nie. Normalerweise bemerkten die Gäste sie nicht einmal.

„Luisa. Aber nennen Sie mich Leo.“

Irina lächelte. „Sind Sie von hier?“

Leo nickte bejahend, sagte aber: „Nein, ich arbeite nur hier.“

Sie sah Irinas irritierten Blick. „Entschuldigung. Meine Familie stammt von hier, schon in x-ter Generation. Nur ich bin woanders aufgewachsen.“ Sie staubwischte die Holzoberflächen, von denen es viele gab. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“

Irina schaute versonnen zum Berg. „Nur hier im Hotel. In Kitzbühel war ich bereits einmal. Ich … wir waren vor einem halben Jahr ein paar Tage in der Gegend, bis …“ Sie stockte. Holte dann tief Luft, schien sich mit aller Gewalt zusammenzureißen. „Aber dann hatten wir einen Autounfall.“

„Das tut mir sehr leid. Ein schlimmer Unfall?“ Blöde Frage. Es war doch offensichtlich. Irina wirkte plötzlich eingefallen und blutleer. Ein kleiner Kratzer an der Stoßstange nahm einen nicht so mit.

„Für mich ging es glimpflich aus, aber … Jimmy … mein Mann ist im Wagen verbrannt.“

Vor Leos innerem Auge tauchten plötzlich die Schlagzeilen in der TT, der Tiroler Tageszeitung, auf. Und vor ihrem inneren Ohr hörte sie die Sprecherin beim ORF sagen: „Der berüchtigte deutsche Schwerkriminelle Jimmy Maier ist bei einem schweren Autounfall in Tirol ums Leben gekommen. Seine völlig verkohlte Leiche wurde von seiner Begleiterin, die nur überlebte, weil sie bei dem Unfall aus dem Wagen geschleudert wurde, identifiziert.“

Es passierte nicht viel Schlimmes hier in Tirol, und das Spektakuläre merkte man sich ohnehin. Es war noch lange darüber berichtet worden, wie es sein konnte, dass ein Auto, das vermutlich wegen überhöhter Geschwindigkeit von einer Bergstraße abkommt, so dermaßen in Flammen aufgehen kann, dass der Fahrer bis zur Unkenntlichkeit verbrennt. Wenn Leos Erinnerung sie nicht täuschte – sie hatte damals eine kurze Stippvisite bei ihrer Oma gemacht –, wurde von offizieller Seite abschließend erklärt, dass der Mann – ein übles Subjekt: Frauenhändler, Rauschgiftschmuggler, Mehrfachmörder, jedoch nie überführt – offenbar leicht entzündliche Materialien für den Bau einer Bombe mitgeführt haben musste. Es ging das Gerücht um, er habe damit einen Konkurrenten ausschalten wollen.

All diese Erinnerungsfetzen huschten im Bruchteil einer Sekunde durch Leos Gehirn. Und zeigten sich anscheinend in ihren Gesichtszügen, denn Irina lachte auf. „Sie haben das damals mitbekommen, oder? Mein Jimmy hat mit seinem Tod für ziemlichen Wirbel gesorgt.“ Sie legte die Vogue beiseite und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Haut blieb allerdings bleich, aber das lag wohl am Alabasterteint. „Okay, zugegeben, Jimmy hat ein paar krumme Dinger gedreht. Aber er war kein kriminelles Schwergewicht. Das war nur üble Nachrede der Konkurrenz. Er hat nie jemanden umgebracht. Und zu mir war er immer gut. Einfühlsam und liebevoll.“

Es gab strenge Zeitvorgaben, wie viel Zeit man für die Reinigung eines Zimmers benötigen durfte. Und die Hausdame kontrollierte das auch. Entweder über die Flur-Kameras oder indem sie persönlich vorbeikam. Dennoch brannte die Neugier in Leo. „Mein Beileid. Und Sie wollen jetzt noch einmal Abschied von Ihrem Mann nehmen?“

Irina nickte. „Genau. Wir waren lange zusammen, und … ja … ich musste einfach nochmal herkommen. Er ist hier begraben, wissen Sie.“ Sie zupfte an ihrem schwarzen Kaschmirpulli, der sich hauteng um ihren grazilen Körper schmiegte. „Es wird auch langsam Zeit, dass ich meine Trauerkleidung ablege. Schwarz lässt mich blasser wirken, als ich ohnehin schon bin. Ich sehe aus wie eine sizilianische Witwe.“

Niemand sah weniger wie eine sizilianische Witwe aus als diese laszive Rothaarige in Pulli und Caprihose.

Leo wienerte mit dem Staubtuch nun schon zum gefühlt hundertsten Mal über die Kommode, auf der der Breitbildfernseher stand. Nur für den Fall, dass die Hausdame gleich unangekündigt den Kopf durch die Tür mit der Kordel am Knauf steckte. Sie ignorierte den Witwenteil und kam noch einmal auf das Grab zu sprechen.

„Er wurde hier in Kitzbühel zur ewigen Ruhe gebettet?“ Als ob ihre Oma aus ihr sprach. Die hatte bei einem ähnlich gelagerten Fall – also kein spektakulärer Verbrecherunfall, aber ein Tourist, der nach einem Infarkt hier eingeäschert worden war – sehr schmallippig geäußert, dass Leute, die nicht von hier waren, sich gefälligst auch in heimischer Erde begraben lassen sollten; Leichentourismus gehöre sich nicht.

Leo rollte innerlich mit den Augen, weil sie so ungläubig gefragt hatte. Aber es interessierte sie wirklich, warum der Mann nicht in seine Heimatstadt überführt worden war. Man lag doch gern da, wo Freunde und Familienangehörige mal eben rasch vorbeikommen und einen gießen konnten. Oder nicht?

„Ja. Auf diesem wunderschönen Friedhof neben der Kirche.“ Irina stand auf, ging zu der Nespresso-Maschine, drückte eine Kapsel hinein und sagte über das Rattern hinweg: „Ich dachte damals, es würde ihm gefallen. Die gute Luft. Mit dem unverbaubaren Blick auf die Berge. Bei uns in Berlin hätte er nur graue Hochhäuser gesehen.“

Leo verkniff sich die Bemerkung, dass er gar nichts mehr sehen konnte. Weil er ja tot war.

Irina hob die Tasse an die perfekt bemalten Lippen und nahm einen Schluck. Die Lippen waren danach immer noch perfekt, aber den Tassenrand zierte jetzt ein korallenroter Abdruck. „Heute bedauere ich das fast ein wenig. Nicht, dass er hier liegt. Nein, gar nicht. Aber dass ich hergekommen bin. Man soll die Toten ruhen lassen.“ Sie schaute versonnen auf das Ölgemälde über dem Bett. Es zeigte einen röhrenden Hirsch. „Ich dachte, wenn ich nach Kitzbühel fahre … wenn ich vor seinem Grab stehe und mich noch einmal an all die schönen Momente mit ihm erinnere … dann würde ich einen Abschluss finden und könnte wieder neu anfangen. Aber ich fühle mich wie begraben unter einer Lawine von Erinnerungen an unsere Liebe. Mehr denn je fühle ich mich verdammt einsam. Verstehen Sie das?“

Leo neigte nicht zu Gefühlsduseleien. Sie dachte, dass Irina so arm nicht dran sein konnte, wenn sie sich eine Suite in einem exklusiven Fünf-Sterne-Luxushotel zu leisten vermochte. Auch wenn’s die kleinste Suite des Hauses war. Und auch, wenn die Suiten in der Zwischensaison immer ein wenig finanzierbarer waren als beispielsweise während des Hahnenkammrennens. Aber sogleich schalt sie sich selbst für ihre Kaltschnäuzigkeit. Schwerverbrecher waren ja auch Menschen. Menschen, die jemand, der sie gerngehabt hatte, vermissen konnte. Niemand hatte nur schlechte Seiten. Das war doch ein wunderbares Beispiel für die Macht der Liebe.

Blöderweise hatte sie keine Schatulle mit Sinnsprüchen parat, aus der sie jetzt ein paar passende Trostzitate fischen konnte. „Tja … das Leben … Sie sollten sich ablenken. Es ist zwar momentan nicht so sehr viel los, aber heute Abend findet ein Sportereignis statt. Curling. Wird bestimmt unterhaltsam. Kommen Sie doch vorbei.“

Irina sah Leo an. Sehr lange, sehr intensiv.

„Ja, vielleicht mache ich das.“ Jetzt lächelte sie. „Das Leben muss ja weitergehen. Ich überlege es mir.“

Leo lächelte auch. „Super. Aber ziehen Sie sich warm an!“

Sie sah zum Bad. „Soll ich wirklich nicht saubermachen?“ Über die Fliesen wischen, die Haare aus dem Duschabfluss fischen, die Toilette desinfizieren, die kleine Vase mit den Duftstäbchen neu auffüllen?

„Nein.“ Irina stellte sich zwischen Leo und die Badezimmertür. Grazil, wie sie war, kam sich Leo spontan wie ein Elefant vor. „Hören Sie … äh …“

„Leo“, sagte Leo.

„Leo.“ Irina lächelte. „Ich habe mit … Freunden … Termine ausgemacht und bleibe daher noch einige Zeit in Kitzbühel. Momentan suche ich ein Haus hier in der Stadt. Zur Miete. Oder zum Kauf. Das ist ja immer eine gute Investition. Sobald ich etwas gefunden habe, brauche ich jemand, der mir hilft. Eine …“

„Zugehfrau?“

„Eine Hausdame. Einkaufen, putzen, mir eine Tasse Kaffee aufbrühen. Kleine Besorgungen.“

„Aber … warum ich? Sie kennen mich doch gar nicht.“

Irina zuckte mit den Achseln. „Ich habe ein sehr feines Gespür für Menschen. Zwischen uns stimmt die Chemie. Sagen Sie mir einfach, wie viel Sie verdienen wollen. Fangen Sie mit dem Doppelten an, was Sie hier bekommen. Und legen Sie noch was drauf. Mir ist wichtig, dass ich jemanden um mich habe, den ich sympathisch finde und dem ich vertraue. Sie wären perfekt!“

In Leo überlegte es. Sie konnte eine Geldspritze gut gebrauchen. Allerdings handelte es sich hier um die Witwe eines berüchtigten Verbrechers. Die sich offenbar ein Haus in Kitzbühel leisten konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Andererseits konnte Leo das Geld wirklich gut gebrauchen. Besonders üppig war ihr Gehalt im Marchwardushof nicht. Aber was würde Neuveille sagen, wenn sie ihn einfach so im Stich ließ?

Angesichts des inneren Für und Wider huschten Leos Augen von links nach rechts und zurück. Wie bei den Zuschauern in Wimbledon.

„Sie müssen sich nicht sofort entscheiden“, sagte Irina. „Überlegen Sie in Ruhe.“

Leo wollte gerade etwas antworten, da wurde die Zimmertür aufgestoßen und die Hausdame schaute herein. „Alles in Ordnung?“

„In bester Ordnung. Sie können sich wieder entfernen.“ Irina winkte die Hausdame mit einer lässigen Handbewegung davon. Die presste die Lippen aufeinander, aber der Gast war nun mal König, also entfernte sie sich.

Irina zwinkerte Leo verschwörerisch zu.

„Danke“, hauchte Leo.

Eine Viertelstunde später – sie lüftete gerade ein Doppelzimmer, das zur Straßenseite lag – sah Leo, wie Irina in einem eleganten Pelzmantel das Hotel verließ.

Als sie auf den Flur trat, fiel ihr auf, dass kein Bitte-nicht-stören-Schild am Türknauf zur Bellevue-Suite hing. Das war die Gelegenheit, doch schnell das Badezimmer zu putzen.

Sie nahm einen Satz frischer Handtücher vom Wagen, betrat die Suite und gleich darauf das Bad …

… und stockte.

Eins der weißen Handtücher lag in der Wanne und war über und über mit Blut verschmiert!

Aber dann sah sie die Packung besonders saugfähiger Tampons auf der Ablage über den Waschbecken und war sofort beruhigt. Das hatte doch jede Frau schon so oder so ähnlich erlebt. Die Schlachtplatte, während man seine Tage hatte. Ob sich Irina dafür schämte und sie deswegen nicht ins Bad lassen wollte?

Oder lag es womöglich an dem Nassrasierer und dem PreShave-Men-Rasieröl in der Seifenablage der Dusche? Entweder hatte Irina ein echtes Gesichtsbehaarungsproblem oder aber sie teilte sich ihr Bad – trotz Einzelbelegung der Suite – mit einem Mann …

Leichen, die auf Kühe starren

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