Читать книгу Verfluchtes Erbe Gesamtausgabe - T.D. Amrein - Страница 4
1.Kapitel
ОглавлениеZürich Mai 1975
Genau um halb neun Uhr morgens schreckte das Telefon Erich Merz an seinem Schreibtisch auf. Diese Zeit war nicht gerade seine Höchstform. Er hoffte darauf, dass der Anrufer schnell aufgeben würde. Daher ließ er es fünfmal klingeln, bevor er sich widerwillig meldete: „Ja, Merz.“
„Guten Morgen, Herr Merz!“ Sie klang attraktiv. „Hier ist Schwester Ilona vom Altersheim unter den Linden. Ihrem Herrn Großvater geht es schlecht. Könnten Sie vorbeikommen?“
Sein Opa. Wie lange hatte er ihn nicht mehr besucht? Mindestens seit zwei Wochen. Also willigte er ein.
Niemand erwartete in der Redaktion um diese Zeit schon etwas Brauchbares von ihm, so dass er ohne weiteres verschwinden konnte.
Im Altersheim fand er seinen Großvater blass und schwitzend in den Kissen liegend. Sein Atem verursachte ein hässliches Geräusch. „Es geht zu Ende mit mir, ich fühle es ganz deutlich“, sagte er mit erstaunlich klarer Stimme.
„Das glaube ich nicht“, antwortete Merz. „Es ist bestimmt nur das Wetter, das dir zu schaffen macht.“
„Wenn es soweit ist, dann weiß man es, glaube mir. Ich muss dir noch etwas erklären, was mir auf der Seele liegt. Du weißt, dass ich während des Krieges in Deutschland gelebt habe. Als Angestellter der Reichsbahn wurde ich nicht an die Front geschickt. Wir blieben einfach im Dienst.
Ich war öfters eingeteilt um Züge voller Juden zusammenzustellen, die in die Lager geschickt wurden. Oft haben uns die Leute angefleht, ihnen zu helfen.
Eines Tages habe ich ein paar Goldstücke angenommen, gegen das Versprechen, die Familie zu retten. Wirklich konnte ich gar nichts tun, es gab eine bewaffnete Begleitung in die Lager. Einem guten Kameraden habe ich davon erzählt, und schließlich haben wir von vielen Leuten Wertsachen angenommen, ohne auch nur einem einzigen je geholfen zu haben.
Jetzt weißt du, woher mein Vermögen stammt, das du jetzt erbst. Ich und Konrad haben uns geschworen, nie mit jemandem darüber zu reden. Ich glaube, er ist inzwischen gestorben.“
Seine Stimme versagte. Man hörte nur wieder das gurgelnde Röcheln eines Sterbenden, das jedem in schauriger Vorahnung durch Mark und Bein fährt.
Außer seinem Enkel Erich in diesem Moment. Der nahm gar nichts mehr wahr. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand auf den Kopf geschlagen. Kalt und heiß wechselten sich in schneller Folge ab. Dazu flimmerte ihm vor den Augen. Was hatte er da gehört?
Gold von Juden, die in die Lager geschickt wurden. In die Konzentrationslager. Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Schreckliche Bilder. Sein Opa war einer dieser miesen, so eine Nazi..., nein nicht Ratte oder Sau gewesen. Auch kein Geier. Die warteten schließlich anständig, bis das Unvermeidliche eingetreten war. So sehr er sich anstrengte. Er fand einfach kein passendes Wort.
Ausgerechnet sein Opa. Erich hatte sich bisher ab und zu mit unrechtmäßig verschobenem Reichtum während des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Dazu hatte er ein paar Artikel veröffentlicht, die sich kritisch mit dem Vermögen von deutschen Familien oder Firmen befassten. Dass es reiche Deutsche gab, die durch den Krieg große Summen verdient hatten, war allgemein bekannt. Die durften doch nicht einfach so davonkommen.
Enteignete Vermögen waren einfach an Parteigrößen verteilt worden. Solches regte ihn besonders auf. Erich wollte für Gerechtigkeit sorgen. Die Schuldigen entlarven, die mit dem gestohlenen Geld lebten, als wäre nichts gewesen.
Bisher konnte er jedoch nichts wirklich Konkretes aufdecken. Er wusste, dass er von Opa etliche Millionen erben würde. Deshalb hatte sich nicht besonders angestrengt, selbst etwas zu erarbeiten. Seine Arbeit war bisher mehr ein Zeitvertreib gewesen, als eine Berufung, an die er selbst glauben wollte.
Erich verließ das Zimmer und die Wohnung ohne einen Blick zurück.
Der Kaffee aus dem Automaten auf dem Gang schmeckte scheußlich. Er passte deshalb irgendwie zum Geruch, der durch die Flure des Heimes waberte.
Nachdem er sich nach einiger Zeit etwas gefasst hatte, schlurfte er zurück. Mit deutlich sichtbarem Ekel in der Miene stellte er sich an das Bett. „Wie konntest du nur? So etwas tun?“, presste er hervor
Aber sein Großvater lag jetzt ruhig da, mit offenen Augen, die an die Decke starrten. Er war inzwischen, wie man so sagt, sanft entschlafen.
In Merz stieg ein unbändiger Hass auf. Keine Antwort. Einfach schnell gestorben. Er verspürte das Bedürfnis, ihn zu schütteln. Aber gleichzeitig graute ihm davor, ihn noch einmal anzufassen.
***
Nachdem ein Arzt den Tod festgestellt hatte, Opa hatte jede lebensverlängernde Maßnahme abgelehnt, ging er ziellos spazieren. „Ich werde das Geld nicht anfassen“, sagte er zu sich. „So könnte ich nie mehr ruhig schlafen.“
Aber was sollte er tun? Seinen Namen mit der Wahrheit beschmutzen? Wie sollte er seiner Frau erklären, warum sie nicht erbten?
Völlig unmöglich. Sie hatten oft Pläne gemacht, wohin sie fahren würden und was sie alles kaufen wollten.
Opa Merz war schließlich schon über neunzig, sie die einzigen lebenden Verwandten. Sein Vermögen hatte Opa gut angelegt. Etliche Häuser gekauft, Wertpapiere und Bargeld auf der Bank.
Dabei fiel Erich ein, dass er sich jetzt um viele Dinge kümmern sollte. Er musste alle benachrichtigen. Formalitäten erledigen, die Beerdigung organisieren. Es würde auffallen, wenn er sich nicht sofort damit beschäftige. Eigentlich wollte er sich am liebsten irgendwo verstecken, wie es eher seiner Natur entsprach.
Sich richtig besaufen wäre jetzt das Beste, dachte er.
Warum konnte der das nicht mit ins Grab nehmen und mir ein schönes Leben lassen?
Wieder und wieder, ging ihm das durch den Kopf. Musste man doch für alles einmal zahlen, wie Opa oft gesagt hatte? Gerade er, dem ein so leichter Tod geschenkt wurde? Und seine Schuld hatte er einfach an ihn weitergegeben.
***
Seit dem Tod seines Großvaters waren zwei Wochen vergangen. Die wichtigsten Dinge waren erledigt. Erich Merz wollte sich zum ersten Mal wieder seiner Arbeit widmen. Er saß im Büro, aber ihm fiel nichts ein, zum Schreiben. Wieder schreckte ihn ein Anruf aus seiner Lethargie auf.
„Ich bin doch gar nicht da“, brummte er vor sich hin.
„Guten Morgen. Hier ist Schwester Ilona vom Altersheim unter den Linden. Aus der Wohnung ihres Herrn Großvaters sollten Sie noch ein paar persönliche Sachen abholen.“
„Persönliche Sachen?“, fragte er erstaunt. „Wir haben eine Räumfirma beauftragt, um alles zu entsorgen.“
„Ja, es handelt sich um Papiere und einige Fotos, die sie nicht mitgenommen haben. Es sind nur zwei Kartons. Können Sie bitte bald vorbeikommen?“
„Ja gut, ich komme sofort“, antwortete er und machte sich gleich auf den Weg.
In der kleinen aber gemütlichen Wohnung angekommen, fand er tatsächlich zwei kleine Kartons mit allerlei Papierkram. Nichts Wichtiges, ein paar Ansichtskarten, Briefe von Geschäftsfreunden, so Dinge, die man nicht wegwirft, wenn es genügend Platz gibt.
Die Wohnung war vor der Räumung bereits amtlich durchsucht worden. Bei dieser Gelegenheit hatte ein Beamter alles Wesentliche sichergestellt.
Einzig die paar Fotografien schaute Erich näher an. Alte Aufnahmen. Eine von seinem Vater, den er nie richtig gekannt hatte, als Kind. Opa hatte im Krieg bei einem Angriff seine ganze Familie, bis auf einen Sohn, Erichs Vater, verloren. Das war das Einzige, was er ihm über die Zeit erzählt hatte. Eigentlich war erzählt zu viel gesagt. Erich konnte sich aus einigen Stücken, die er nach und nach erfuhr, etwas zusammenreimen.
Sein Vater war kurz nach dem Krieg, bei einem Arbeitsunfall in einer Gießerei ums Leben gekommen, als Erich zwei Jahre alt war.
Seine Mutter hatte ihn allein großgezogen, bis auch sie an einer rätselhaften Krankheit zugrunde ging.
Wenigstens wurde sie durch Opa immer unterstützt, so dass sie keine materiellen Sorgen hatten. Sie war auch ein Einzelkind gewesen, deshalb waren Erich keine Verwandten geblieben, bis auf seinen Großvater.
Dieser war kurz vor dem Zusammenbruch zurück in die Schweiz geflohen. Die genauen Umstände hatte er mit ins Grab genommen. Opa war zwar reich gewesen, hatte aber immer sehr zurückgezogen und eher bescheiden gelebt. Keine Reisen unternommen. Genauso wie er sich auch niemals einen Urlaub gegönnt oder an gesellschaftlichen Anlässen teilgenommen hatte.
Erich hatte stets vermutet, die vielen Verluste hätten ihn davon abgehalten, sich wieder mit jemandem näher einzulassen.
Aber das war noch das alte Bild, das er von seinem Opa gehabt hatte. Jetzt war er ihm völlig fremd geworden.
Unter allen Fotografien fand sich noch ein vergilbter Umschlag. Darin ein Foto von Männern in Uniformen der Deutschen Reichsbahn. Auf der Rückseite, handgeschrieben: Meine Kameraden Konrad und Willhelm zum Führergeburtstag 1941. Konrad? Diesen Namen hatte Großvater doch auf seinem Sterbebett erwähnt. Er sah sich das Bild genauer an. Vielleicht ergab sich ein Hinweis, wo die Aufnahme gemacht wurde. Und wirklich, auf einem Plakat im Hintergrund ließ sich Frankfurt/Main entziffern.
Unter Umständen ließe sich doch noch etwas Genaueres erfahren, dachte er, wenn ich den Alten Fritz einmal nach Frankfurt schicke.
„Der Alte Fritz“, war ein pensionierter Privatdetektiv, den er schon öfter für Recherchen losgeschickt hatte. Der freute sich immer, wenn er wieder einmal etwas zu tun bekam.
Merz packte die Sachen zusammen, verabschiedete sich an der Rezeption des Heimes und fuhr zurück in die Redaktion. Unterwegs überlegte er sich, was er dem Alten Fritz sagen sollte. Er durfte ja nicht zu viel verraten über sein Dilemma. Trotzdem fand er, wenn ich das Geld dafür einsetze, seine Herkunft herauszufinden, konnte das nicht an sich, schlecht sein.
In seinem Büro angekommen rief er sofort an. „Es gibt Arbeit, Fritz, hast du Zeit?“
„Wie sollte ich keine Zeit haben? Du weißt ja, dass ich nur noch die Fliegen in meiner Wohnung zählen kann.“
„Jetzt übertreibst du, wie immer. Können wir uns treffen, ich brauche dich zu einer Ermittlung in Frankfurt?“
„Frankfurt, da war ich schon lange nicht mehr“, freute er sich. „Wann soll`s denn losgehen?“
„Du kannst dir Zeit lassen. Den Rest erkläre ich dir, wenn wir uns treffen. Kommst du um vierzehn Uhr in den Bären?“
„Ich komme“, antwortete Fritz.
An seiner Stimme ließ sich deutlich hören, wie willkommen ihm die Abwechslung war.
Merz packte eine Kopie der Aufnahme, ohne den Vermerk auf der Rückseite in ein Kuvert, legte zehntausend Mark dazu, die er schnell auf der Bank abgehoben hatte und fuhr dann zum Mittagessen.
Immer noch nachdenklich, was er dem Detektiv erzählen konnte und was er besser für sich behielt.
Fritz sollte ja nur herausfinden, wer dieser Konrad war, seinen Familiennamen und ob er noch lebte.
Die Verbindung mit Großvater sollte sich darauf beschränken, dass sie einmal zusammen gearbeitet hatten. Andererseits, falls dieser Konrad tatsächlich noch lebte, würde er sicher Verdacht schöpfen, wenn jemand aus der Schweiz nach ihm suchte.
Kurz vor der vereinbarten Zeit traf der Detektiv im Bären ein. Er wirkte für sein Alter noch rüstig und hatte sich einen gewissen Humor erhalten. „Hallo Erich, altes Haus“, begrüßte er Merz, und schüttelte ihm die Hand. Darauf etwas ernster, „tut mir leid um deinen Opa. Ich habe es in der Zeitung gelesen.“
„Schon gut“, antwortete Merz. „ Er hat ein langes Leben gehabt, was will man mehr?“
„Was kann ich für dich tun in Frankfurt. Hast du jemanden im Verdacht mit schmutzigen Geschäften?“
„Nein, nein“, antwortete Merz schnell. „Diesmal geht es um etwas anderes. Ich möchte gerne was erfahren über einen alten Freund von meinem Opa. Er hat früher in Deutschland gelebt, aber ich weiß eigentlich nichts über seine und damit auch über meine Herkunft. In seinem Nachlass habe ich ein Foto mit zwei alten Freunden von ihm gefunden. Ich möchte nur, dass du etwas über sie herausfindest.“
Mit diesen Worten legte er ihm die Aufnahme hin. „Ich weiß, dass sie am zwanzigsten April einundvierzig gemacht wurde, und siehst du, hier steht Frankfurt/Main.“
„Zwanzigster April“, antwortete der Detektiv, „Führergeburtstag, woher weißt du das?“
„Auf dem Original steht hinten ein Datum drauf“, antwortete Merz. „Außerdem gibt es noch einen Vermerk, meine Kameraden Franz und Konrad.“
„Hm“, brummte Fritz. „Warum zeigst du mir nicht einfach das Original?“
„Das Original?“ Ich dachte, dass dir eine Kopie genügen würde“, erwiderte Merz etwas verlegen.
„Es ist vielleicht nicht so wichtig. Aber grundsätzlich ist jede Information aus erster Quelle besser. Hast du sonst noch mehr, das ich wissen sollte?“, fragte Fritz.
„Nein, aber ich bitte dich darum, wenn du etwas über diesen Konrad herausgefunden hast, falls er noch lebt, dass er möglichst nichts davon merkt“.
„Ja gut“, brummte der Detektiv. „Ich hatte gehofft, dass du etwas Spannenderes für mich hast. Aber in Frankfurt habe ich noch eine alte Liebe gelassen, vielleicht finde ich die wenigstens wieder.“
Als ihm Merz das Kuvert mit dem Geld übergab, besserte sich seine Laune sofort. „Wenigstens muss ich nicht am Hungertuch nagen“, lachte er.
„Aber nein“, sagte Merz. „Lass es dir nur gut gehen. Ich kann mir das jetzt leisten.“
„In Ordnung“, antwortete Fritz. „Reicht es, wenn ich morgen fahre?“
„Ja natürlich, es kann auch übermorgen sein“, gab Merz zurück. Froh darüber, dass der Detektiv seine Geschichte offenbar geschluckt hatte.
***
Drei Tage später erhielt Merz den ersten Anruf von Fritz aus Frankfurt. Fritz hatte sich in einer kleinen Pension in der Nähe des Bahnhofs einquartiert, weil er ohnehin mit der Bahn gereist war, und die Suche in dieser Gegend beginnen wollte. Frankfurt habe sich mächtig verändert, seit er zum letzten Mal da gewesen war, erzählte er noch. Aber konkrete Informationen hatte er noch keine.
Er würde sich alle drei bis vier Tage melden. Oder immer dann, wenn er etwas Wichtiges erfahren habe.
Die Tage vergingen. Kein Anruf. Nach einer Woche begann Merz sich ernsthaft Sorgen zu machen. Das passte nicht zum Alten Fritz.
Ungeschickterweise hatte Erich sich den Namen der Pension nicht gemerkt, so dass er auch nicht dort anrufen konnte.
Nach zehn Tagen hielt Erich die Warterei nicht mehr aus. Er rief die Polizei in Frankfurt an.
Nachdem man ihn bereits des Öfteren weiterverbunden hatte, landete er endlich in der Abteilung, die für Vermisstenfälle zuständig war.
„Wie lautete der Name des Vermissten doch gleich?“, schnarrte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Friedrich Hauser, Schweizer Staatsbürger“, erklärte Merz zum wiederholten Male.
„Hauser Friedrich, ja Moment, ich verbinde Sie weiter.“
Nicht schon wieder, dachte Merz. Diese Beamten.
Jetzt meldete sich eine neue Stimme. „Guten Tag, ich bin Kommissar Reuter. Darf ich fragen, ob Sie mit Herrn Hauser verwandt sind?“
„Verwandt“, stotterte Merz. „Wie kommen Sie darauf?“
„Herr Hauser hat einen Unfall gehabt, ich darf nur den Angehörigen Auskunft geben.“
„Er hat, glaube ich, keine hier“, antwortete Merz zögernd. „Nur einen Sohn, irgendwo in Kanada.
Aber ist er nicht ansprechbar oder was ist los mit ihm?“
Der Kommissar räusperte sich zweimal, dann fragte er: „In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?“
„Ich bin Journalist. Er sollte für mich eine Recherche in Frankfurt machen, aber er hat sich seit zehn Tagen nicht mehr gemeldet. Und ich weiß nicht genau, wo er abgestiegen ist“, antwortete Merz.
Der Kommissar räusperte sich erneut, dann sagte er: „Herr Hauser ist von einem PKW überfahren und tödlich verletzt worden. Der Fahrzeugführer ist flüchtig. Bis jetzt konnten wir den Namen des Opfers nur vermuten, seine Brieftasche enthielt keine Ausweispapiere, nur einen Mitgliederausweis eines Seniorenclubs, ohne Lichtbild.
Da sich bis jetzt niemand nach ihm erkundigt hat, haben wir diesen Namen in die Vermisstenkartei eingegeben. Der Unfall ereignete sich vor fünf Tagen, genau am vierten Juni, morgens um drei Uhr. Deshalb gibt es auch keine Augenzeugen. Ist es Ihnen möglich, herzukommen und den Toten zu identifizieren“?
„Ja, kann ich“, antwortete Merz ziemlich verwirrt.
„Dann kann ich ihnen gleich noch ein paar Fragen stellen. Sie haben gesagt, Sie wissen nicht genau, wo Herr Hauser gewohnt hat? Wissen Sie wenigstens etwas Näheres darüber?“
Merz brauchte einige Sekunden, bis er antworten konnte. „Ja er hat gesagt, eine kleine Pension in der Nähe des Bahnhofs, ich denke des Hauptbahnhofes. Er ist mit der Bahn gereist, da bin ich sicher.“
„Sehr gut“, antwortete der Kommissar, „das können wir sicher ermitteln. Bis wann könnten Sie bei uns eintreffen?“
Merz überlegte kurz, dann erwiderte er, „ich kann denn ersten Zug morgen früh nehmen und dann etwa gegen Mittag bei Ihnen ankommen“.
„Ausgezeichnet“, lobte der Kommissar. „Nehmen Sie einfach ein Taxi zum Polizeipräsidium und fragen Sie nach Kommissar Reuter. Ich erwarte Sie in meinem Büro“.
Ich muss die Sache selber in die Hand nehmen, entschloss sich Merz nach einigem Nachdenken. Hatte er den Alten Fritz direkt in den Tod geschickt oder war doch alles nur Zufall?
In dieser kurzen Zeit konnte er doch kaum mit seinen Nachforschungen so weit gekommen sein, dass ihn deshalb jemand mit Absicht überfahren würde.
Und wenn doch? Wenn dieser Jemand in Angst vor Entdeckung lebte, könnte er möglicherweise auf alles vorbereitet sein.
Dann wäre ich auch noch schuldig an seinem Tod, dachte er. Das verfluchte Geld bringt mir nur Unglück. Ich belüge meine Frau und meine Freunde aber was soll ich machen? Auf alle Fälle werde ich nicht ruhen, bis die Umstände die den Alten Fritz das Leben gekostet haben, aufgeklärt sind, schwor er sich.
Den Rest des Tages verbrachte Merz mit Vorbereitungen für die Reise nach Frankfurt.
Er ließ sich in der Redaktion auf unbestimmte Zeit beurlauben. Er hatte in der letzten Zeit ohnehin nichts Außergewöhnliches verfasst. Sein Chef zeigte Verständnis. So wie alle anderen dachte er, dass der Verlust seines Großvaters Erich so mitgenommen hatte.
Schließlich rief er seine Frau an: „Hallo Schatz, wie geht’s?“
„Danke wie immer, und dir?“, antwortete sie vergnügt.
„Du hast mich schon lange nicht mehr angerufen, was ist denn passiert?“
„Ach, passiert ist nichts“, log Merz. „Aber ich muss morgen nach Frankfurt. Eine wichtige Recherche. Ich werde sicher ein paar Tage bleiben. Kommst du dann heute etwas früher nach Hause als sonst?“
„Ja natürlich. Wir könnten zusammen essen gehen. Ich reserviere uns einen Tisch. Einverstanden?“
„Ja, in Ordnung“, brummte Merz.
„Das tut dir sicher gut. Eine Reise bringt dich auf andere Gedanken. Du solltest das mit Opa nicht so schwer nehmen, er hätte das sicher nicht gewollt.“
„Ja, ja, ich weiß, du hast recht, aber ich bin so, wie ich bin, verstehst du?“, wehrte sich Merz. „Also, bis heute Abend, ich freue mich.“
Cécile, seine Frau, hatte sich, seit es Opa immer schlechter ging, als Chefin in die Verwaltung der zum Erbe gehörenden Mietshäuser eingearbeitet. Davor war sie nur Sachbearbeiterin gewesen. Jetzt ging sie in dieser neuen Aufgabe völlig auf. Deshalb hatte sie kaum Zeit für ihn. Und er musste ihr nicht allzu viel vorspielen.
Es wurde auch zunehmend schwieriger, alles mit seiner Trauer zu erklären. Einmal musste er sein Problem lösen. Aber wie? Besser hätte ich ihr sofort alles erzählt, dachte er. Aber wenn sie davon weiß, hat sie das gleiche Dilemma wie ich, das kann ich ihr nicht zumuten. Außerdem ist es jetzt wohl bereits zu spät, spann er den Gedanken weiter. Er würde versuchen müssen, damit leben. So wie Opa auch.
Das gemeinsame Abendessen verlief, wie er sich das gewünscht hatte. Cécile erzählte ihm von ihrer Arbeit, die ihr so viel Neues brachte. Sie konnte gar nicht aufhören, ihm von unmöglichen Mietern und ebensolchen Handwerkern zu berichten.
Erst ganz zum Schluss fragte sie ihn nach dem Zweck seiner Reise.
„Ach weißt du“, antwortete er. „Ich habe das schon lange im Kopf. Ich will nach einer Familie suchen, die sich im Krieg schamlos bereichert hat. Ein paar Hinweise dazu habe ich im Lauf der Zeit bereits gesammelt. Jetzt kann ich mich richtig damit befassen, weil ich ja nicht mehr Geld verdienen muss.“
Sie gab sich damit zufrieden. Auch weil sie hoffte, dass er auf diese Weise wieder der lockere Erich werden würde, den sie früher geliebt hatte.
In der Nacht schlief Merz schlecht. Plötzlich fiel ihm ein, dass er den Alten Fritz identifizieren musste. Wie sieht er wohl aus, überlegte er.
Bisher hatte er noch nie ein Unfallopfer ansehen müssen. Was wäre, wenn Fritz nur noch das halbe Gesicht hat? Langsam kroch das Grauen zu ihm unter die Bettdecke. Und es ließ sich nicht mehr verscheuchen.
Gut, dass er schon um fünf Uhr aufstehen musste, um den Zug nach Frankfurt zu erreichen. Er nahm seinen kleinen Koffer und schlich sich aus dem Haus, ohne Cécile zu wecken. Zum Bahnhof brauchte er zu Fuß nur ein paar Minuten. Die kühle Morgenluft tat ihm gut, und nachdem er auch noch einen Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich wirklich besser.
Eigentlich liebte er Reisen mit der Bahn. Nicht zuletzt auch deshalb, erreichte er Frankfurt in guter Stimmung. Ein Taxi, das ihn zu Polizeipräsidium brachte, fand sich leicht. Dort angekommen, fragte er wie abgesprochen nach Kommissar Reuter. Jemand begleitete ihn, in dessen Büro.
Kommissar Reuter war ein älterer Herr, der eine gewisse Ruhe ausstrahlte. Merz fühlte sich an den Alten Fritz erinnert, auch wenn der Kommissar höchstens sechzig Jahre zählte.
„Herzlich willkommen in Frankfurt, trotz des traurigen Anlasses“, begrüßte er Merz, während er ihm die Hand reichte.
Merz suchte nach einer passenden Antwort, die ihm aber einfach nicht einfallen wollte, so dass er schließlich nur ein „Danke“, herausbrachte.
Der Kommissar, sichtlich bemüht, die triste Stimmung etwas aufzulockern, fragte freundlich, „trinken wir zuerst einen kleinen Schnaps, bevor wir uns an die Arbeit machen?“
Merz nickte zustimmend. „ Ja, das tut sicher gut.“
Nachdem sie angestoßen hatten, begann der Kommissar zu berichten, was er bisher herausgefunden hatte.
„Wir haben alle Pensionen um den Hauptbahnhof abgeklappert, so viele sind das gar nicht. Herr Hauser hat in der Pension Erika gewohnt. Weil er das Zimmer zwei Wochen im Voraus bezahlt hatte, wurde er dort nicht vermisst. Die Durchsuchung seines Zimmers hat nichts Außergewöhnliches ergeben, so wie wir es erwartet haben.
Das Unfallfahrzeug haben wir bereits früher aufgefunden. Der Besitzer kommt als Täter nicht in Frage. Wahrscheinlich, das ist jedoch nur eine Vermutung, haben wir es mit einer klassischen Strolchenfahrt zu tun. Im Tatfahrzeug haben wir zwar Spuren gesichert, aber bisher hat sich daraus nichts Konkretes ergeben. Das ist der letzte Stand.“
Der Kommissar machte eine kleine Pause, um dann zu fragen. „Haben Sie gegebenenfalls noch etwas hinzuzufügen?“
Merz überlegte krampfhaft, ob er nach Hinweisen für einen vorsätzlichen Mord fragen sollte. Schließlich ließ er es aber bleiben. Er wollte den Kommissar nicht darauf bringen, auch noch in eine andere Richtung zu suchen.
„Dann könnten wir jetzt den Toten besuchen, um sicher zu sein, dass er sich um Herrn Hauser handelt. Er ist zwar auch in der Pension unter diesem Namen abgestiegen und die Dame am Empfang hat ihn auf Fotos zweifelsfrei erkannt. Wir sind jetzt auch im Besitz seines Reisepasses, den er in der Pension hinterlegt hatte. Trotzdem kann ich Ihnen das nicht ersparen, das Gesetz schreibt es vor.“
„Ja natürlich“, antwortete Merz ergeben, „wie sieht er denn aus?“
Der Kommissar beruhigte ihn sofort: „Herr Hauser hat praktisch keine äußeren Verletzungen, er sieht aus wie eingeschlafen.“
Merz war zwar immer noch sehr nervös, aber er konnte doch die Fassung bewahren. Zusammen schritten sie durch das Gebäude, hinunter in die Gerichtsmedizin. Es ist wirklich im Keller, fiel Merz auf, so wie man es im Film immer sieht. Jetzt fehlt nur noch ein abgebrühter Sezierer mit einem Sandwich in der Hand.
Aber als sie den gefliesten Raum betraten, kam ein älterer freundlicher Herr auf sie zu, der sofort Merz die Hand reichte. „Herzliches Beileid“, sagte er in salbungsvollem Ton.
Der Kommissar wies ihn an: „Zeigen Sie uns bitte den Herrn Hauser!“
„Selbstverständlich Herr Kommissar, sofort Herr Kommissar“, buckelte der Angestellte. Er begab sich zu einer großen Schublade, in einer langen, mehrstöckigen Reihe lag. Er öffnete sie vorsichtig und trat dann respektvoll zur Seite. „Bitte, meine Herren“.
Der Kommissar legte das weiße Tuch soweit zurück, dass das Gesicht des Toten zu sehen war.
Merz räusperte sich. „Ja, das ist der Alte Fritz, ich meine Herr Hauser.“
Der alte Fritz sah wirklich ganz friedlich aus. Fast wie sein Großvater, dachte Merz.
„Dann können wir noch ein Protokoll schreiben“, sagte der Kommissar. „Dazu gehen wir wieder in mein Büro.“
Auf dem Rückweg fragte Merz, „was passiert denn nun mit dem Toten?“
„Er wird in seine Heimat überführt, die schweizerische Botschaft ist bereits informiert. In solchen Fällen ist das üblich“, antwortete der Kommissar.
In seinem Büro angekommen, rief Reuter einen Assistenten, um das angesprochene Protokoll aufzunehmen.
Merz selbst musste ein langes Formular ausfüllen, mit Angaben zu seiner Person.
Als der Kommissar das Papier durchlas, stutzte er. „Ihr Vater ist in Frankfurt geboren?“
„Ja“, antwortete Merz. „Aber ich weiß sonst fast nichts von ihm, meine Eltern sind beide früh verstorben. In dieser Sache sollte Fritz für mich etwas herausfinden.“
„Das tut mir leid“, sagte der Kommissar. „Sie haben mit unserer Stadt wirklich kein Glück. Wollen Sie es jetzt vielleicht selber versuchen?“
Merz zuckte zusammen. Eigentlich wollte er das geheim halten. Aber er musste erkennen, dass diese Ermittler über einen Instinkt verfügten, wenn er etwas nicht offen sagen wollte. Er erinnerte sich sofort an den Alten Fritz, als er ihm die Kopie des Fotos gegeben hatte.
Ich muss vorsichtiger werden, dachte er, sonst werde ich nie jemand täuschen können.
„Ich weiß es nicht, Herr Kommissar“, antwortete er zögerlich. „Aber ich könnte es versuchen.“
Es war schon später Nachmittag, als Merz das Polizeipräsidium verließ. Er hatte sich von Kommissar Reuter verabschiedet, der ihm seine Karte gegeben hatte, falls noch Fragen auftauchen sollten.
Merz war sich nicht sicher, was Reuter damit gemeint hatte. Spürte der, dass Merz einiges verschwiegen hatte? Gedankenlesen können sie auch nicht, dachte Merz trotzig. Er winkte sich ein Taxi herbei und ließ sich zur Pension Erika fahren.