Читать книгу Verfluchtes Erbe Gesamtausgabe - T.D. Amrein - Страница 8

5. Kapitel

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Erich Merz saß in einem Restaurant im Flughafen von Oslo und schlürfte seinen ersten norwegischen Kaffee.

Zwei Stunden Aufenthalt bis zum Anschlussflug nach Kristiansand. Er hatte zwar nur das Nötigste eingepackt, trotzdem war sein Koffer erstaunlich schwer geworden. Eine nagelneue Angelausrüstung hatte er erworben, dazu einen Gaskocher und was man sonst so braucht, um in der Wildnis zu überleben.

Merz war ein typischer Stadtmensch. Noch nie hatte er eine solche Reise vorbereitet. Trotzdem ging er davon aus, komplett ausgerüstet zu sein. Wie viel ihm fehlte, sollte er erst später merken.

Sein Ziel lag an der Südspitze Norwegens, wo die „Isolde“ verschwunden war. Er hoffte, vor Ort rasch einen Führer zu finden, um sich in den richtigen Fjord bringen zu lassen.

Die eigentliche Suche nach Spuren von Dornbach wollte er allein durchführen. Dazu würde er sich ein Schlauchboot mieten. Für ein größeres Schiff besaß er kein Patent. Die geplante Ausbildung zum Kapitän hatte er leider noch nicht angefangen.

Offiziell war er als Tourist unterwegs. In dieser Jahreszeit einer von vielen, die im Norden angeln wollten.

Endlich wurde sein Flug aufgerufen. Merz reihte sich in die Schlange ein. Schon kurz darauf hob die Maschine ab.

In Kristiansand suchte er gleich das Touristenbüro auf, um sich eine Bleibe zu suchen. Die junge Dame sprach glücklicherweise ziemlich gut Deutsch. Merz zeigte ihr auf der Karte, wohin er wollte.

„Das ist eine sehr einsame Gegend. Ich könnte Ihnen etwas Interessanteres anbieten“, versuchte sie, ihn umzustimmen.

Merz schüttelte energisch den Kopf. „Ich möchte genau dahin. Was Anderes kommt nicht in Frage. Haben Sie ein Angebot in dieser Gegend. Ich möchte möglichst allein sein?“

Sie überlegte kurz. „Es gibt da eine Hütte, aber ich muss zuerst nachfragen, ob sie frei ist. Wie wollen Sie hinkommen? Mit der Fähre können Sie nur bis hier“, sie zeigte ihm einen Punkt auf der Karte. „Danach müssen Sie sich ein Boot mieten. Soll ich das organisieren?“

„Ja, bitte“, antwortete Merz.

„Kommen Sie in einer halben Stunde wieder. Dann kann ich Ihnen sagen, ob Sie die Hütte bekommen können. Es ist aber wirklich nur eine Hütte. Es gibt keinen Komfort, keinen Strom, nur einen Brunnen nebenan.“

„Das ist genau richtig“, behauptete Merz, obwohl er überhaupt nicht nach einer solchen Unterkunft suchte. Wichtig war, in die Nähe der Unfallstelle zu kommen und dort ungestört suchen zu können.

„Sie müssen Vorräte mitnehmen. Es gibt nichts zu essen in den Hütten, aber das wissen Sie sicher“, erklärte sie.

Merz wusste es nicht. Jedoch wollte er nicht den Eindruck erwecken, dass er zum ersten Mal so eine Reise unternahm, daher nickte er zustimmend. „Wo gibt es die letzte Möglichkeit, etwas einzukaufen?“, gab er sich als erfahren, aus.

„Wenn Sie die Fähre verlassen. Im Ort gibt es einen kleinen Laden. Die haben alles, was man braucht“, antwortete die junge Dame.

Merz ließ seinen Koffer in ihrem Büro zurück und suchte sich ein Restaurant.

Als er nach der vereinbarten Zeit erneut das Touristenbüro betrat, empfing sie ihn mit einem Lächeln. „Alles wie Sie es sich gewünscht haben. Die Hütte ist für die nächsten Wochen frei. In Mandal werden Sie Ihr Boot bekommen. Ich konnte sogar jemanden finden, der Sie begleiten wird. Ein Herr Krag wird Sie mit seinem Kutter bis zu der Hütte bringen. Er spricht nur ganz wenig deutsch und etwas englisch. Ich habe ihm schon gesagt, dass Sie noch einkaufen müssen.“

Merz war sehr zufrieden. Alles klappte genauso, wie er sich das vorgestellt hatte.

Sie erklärte ihm zum Abschluss, wann und wo die Fähre in Kristiansand anlegen würde. Mit reichlich Prospekten und Listen ausgestattet verließ er das Touristenbüro.

„Wenn dann schon Mal jemand kommt“, brummte Merz vor sich hin, den Stapel in seinen Händen musternd.

Sie hatte ihn offenbar noch gehört aber nicht verstanden. „Natürlich sind Sie willkommen. Einen schönen Aufenthalt in Norwegen!“, rief sie ihm durch das offene Fenster nach.

***

Die Fähre benötigte etwas mehr als zwei Stunden. Merz genoss die Fahrt auf dem Meer. Bisher hatte er im Flugzeug nichts vom Land gesehen. Die wilde Landschaft, meistens ohne Häuser oder andere künstliche Bauten versetzte ihn in eine ganz besondere Stimmung. So muss es gewesen sein, bevor es Menschen gab, überlegte er.

In Mandal, wo er die Fähre verließ, wurde er tatsächlich erwartet. Ein wild aussehender, bärtiger Mann empfing ihn. „Herr Merz?“, fragte er.

Merz nickte und reichte ihm die Hand.

„First on the Ship, and then shopping?“ Er sah Erich fragend an.

Merz nickte eifrig. „Ja, äh yes.“

Der Seebär schnappte sich den Koffer und trottete voraus. Der Geruch auf dem Kutter war für Merz kaum auszuhalten. Seine verwöhnte Nase meldete ihm einen penetranten Gestank nach verfaultem Fisch. Er entschloss sich, sofort einige Zigarren zu kaufen. Sonst würde er sehr schnell sein Mittagessen wieder loswerden.

Zum Glück gingen sie gleich wieder von Bord, um einzukaufen. Merz wurde zu einem kleinen Laden geführt, wo er einige Konserven, ein Stück Trockenfleisch, Zwieback und etwas, dass er für Brot hielt, einkaufte.

Wieder draußen, fragte ihn der Seebär: „Schnaps?“

Merz schüttelte den Kopf. Sein Begleiter machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Zigarren“, sagte Merz schließlich.

Die Miene des Seebärs hellte sich wieder auf. Zielstrebig ging er mit ihm zu einem anderen Laden, wo Merz das Gewünschte einkaufen konnte. Er nahm trotzdem auch eine Flasche Schnaps mit, obwohl er das eigentlich nicht vorgehabt hatte.

Der Seebär nahm ihm die Flasche sofort aus der Hand. „Thank you!“, sagte er.

So war es nicht gemeint, dachte Merz. Aber er überließ ihm das „Geschenk“.

Sie schlenderten zurück zum Hafen, durch eine Gasse mit schmucken Holzhäusern.

Wenn nur nicht dieser alles einhüllende Geruch nach verfaultem Fisch gewesen wäre, konnte sich Merz sogar vorstellen, hier ein paar Tage zu verbringen.

Auf dem Kutter angekommen, legten sie sofort ab. Der Seebär zeigte ihm das Schlauchboot, das sie in Schlepp hatten. Ein ziemlich neues Zodiac-Boot. Es sieht sauber aus, fiel Merz auf.

Er hatte sich eine Zigarre angezündet, ohne sie wirklich zu rauchen. Er versuchte nur, seine Nase immer im Rauch zu halten. Mit spitzem Fuß beförderte er einen halben Fisch ins Wasser. Wie halten die das bloß aus, dachte er.

Die kreischenden Möwen, die direkt mit ihnen gestartet waren, stritten sich knapp über dem Wasser um die stinkende Beute.

Der Seebär wollte gleich das Geschäftliche erledigen. Merz bemerkte, dass der Seebär die Flasche schon zur Hälfte geleert hatte. „Five hundred Kronen for two weeks“, verlangte er. Mit dem Schnaps wurde sein Englisch immer besser.

Merz zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur den angebotenen Schluck aus der Flasche lehnte er dankend ab.

Der Seebär schlurfte ins Ruderhaus, um das Steuer zu übernehmen.

Der zweite Mann, der bisher gefahren war, musterte Merz abschätzig. „German?“, fragte er.

„No, swiss“, antwortete Merz schnell.

Der Mann wurde sofort freundlicher. „Ach, Sie sind Schweizer. Willkommen in Norwegen!“, sagte er in gutem Deutsch. „Wollen Sie angeln oder nur ein wenig Ruhe haben?“

„Beides“, antwortete Merz.

„Die Hütte ist nicht besonders. Aber wenigstens ein Dach über dem Kopf“, fuhr er fort. „Zum Angeln ist es ein guter Platz und Sie haben ein ausgezeichnetes Boot. Wir haben es beim Fischen in der Nacht auf dem Meer gefunden. Es hatte zwar kaum noch Luft, aber es ist inzwischen repariert. Jemand wollte es offenbar loswerden. Keine Kammer ohne Loch. Was die Leute so alles wegschmeißen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Haben Sie nach dem Besitzer gesucht?“, wollte Merz wissen.

„Wie?“, fragte der Mann zurück. Wir bleiben ein paar Tage an Bord. Eine Stunde später wäre es abgesoffen gewesen.

Wenn sich einer meldet, der beweisen kann, dass es ihm gehört, geben wir es zurück. Ich denke, jemand wollte seine Versicherung betrügen oder so was?“

Merz ließ sich nichts anmerken. Der Kommissar hatte ihm gesagt, dass Dornbach sein Boot irgendwie loswerden musste. Also war die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass er Dornbachs Schlauchboot einfach so gefunden hatte.

Es läuft ausgezeichnet, dachte Merz. Endlich legten sie am einfachen Steg an, der zu seiner Hütte gehörte. Merz war froh, den stinkenden Kutter endlich verlassen zu können. Die Mischung aus Zigarrenrauch, Fischgestank und Schaukeln brachte ihn langsam an den Rand des Erträglichen.

Der zweite Mann bestand darauf, dass er mehr Benzin bekam, als ihm der Seebär zugestehen wollte. Er zeigte ihm auf der anderen Seite des Fjordes eine kleine Ortschaft. „Dort können Sie einkaufen. Aber fahren Sie nur bei ruhiger See. Es ist weiter weg, als man denkt. Schönen Urlaub. Wir holen Sie in zwei Wochen wieder ab.“

Der Seebär hatte inzwischen die Flasche ganz geleert. Er saß an der Wand angelehnt auf einer Kiste und lallte nur noch.

Sein Kumpel löste die Leinen und der alte Diesel stieß eine Rauchwolke aus, bevor sich der Kutter bewegte.

Merz winkte lässig und sah dem Schiff noch eine ganze Weile nach. Die Möwen waren ebenfalls wieder gestartet, langsam verebbte ihr Gekreische in der Ferne.

Endlich wandte sich Merz um. Tief sog er die frische Luft in seine Lungen. Kein toter Fisch mehr. Und diese Ruhe.

Merz begann damit, sein Gepäck zu der Hütte zu tragen.

Ich habe den Schlüssel vergessen, fiel ihm auf dem Weg plötzlich ein. Aber die Türe hatte noch nicht einmal ein Schloss. Vorsichtig öffnete Merz das schiefe, aus Brettern grob zusammengezimmerte Holzteil, das als Tür diente.

Das Geräusch, das dabei entstand, hätte in jeden Gruselfilm gepasst.

Ebenso das Innere des Hauses. Es gab nur einen Raum. Aus Rundholz gefertigte Stühle standen an einem schweren Holztisch, der aus einem ganzen Baumstamm herausgehackt worden war. Genauso wie die Wände, die an ein kanadisches Blockhaus erinnerten.

An der gegenüberliegenden Wand lag eine offene Feuerstelle mit gemauertem Kamin. In der rechten Ecke befand sich eine weitere Konstruktion aus grobem Holz. Diese war vermutlich als Bettstatt vorgesehen, mutmaßte Merz.

Alles von einer dicken Staubschicht überzogen. Auch die beiden Fenster starrten vor Dreck.

Da hat sicher seit zwanzig Jahren keiner mehr gewohnt, dachte Merz. Er schüttelte sich angewidert. Zuerst muss ich alles putzen, dachte er.

Aber wie? Es gab keinen Schrank oder eine Lade, worin er Dinge für einen Haushalt finden konnte.

Natürlich hatte er nicht daran gedacht, Putzlappen oder etwas Ähnliches mitzunehmen. Auch kein Toilettenpapier und Taschentücher, wie ihm jetzt langsam bewusst wurde. Schließlich formte er aus Moos einen Ballen. Wenigstens plätscherte tatsächlich hinter dem Haus ein Brunnen. Mit dem feuchten Ding wischte er die Einrichtung etwas ab.

Mit der langsam einsetzenden Dämmerung fielen Schwärme von Mücken über ihn her. Auch damit hatte er nicht gerechnet. Er war noch nie im Norden gewesen. Und außerdem packte Cécile sonst immer die Koffer. Sie hätte den Spray bestimmt nicht zuhause stehen lassen.

Dass Mückenspray im Norden nichts hilft, wenn man das einzige warmblütige Lebewesen ist, wusste Merz zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Er hatte keine Lust zum Kochen. Deshalb knabberte er nur etwas Zwieback, bevor er sich in den Schlafsack legte.

Trotz der Müdigkeit konnte er nicht einschlafen. Die Biester summten pausenlos um seinen Kopf herum. Er stand kurz davor, durchzudrehen.

Endlich fiel ihm ein, dass er in seiner Regenjacke, innen ein feines Netz gesehen hatte. Daraus bastelte er sich ein Moskitonetz, für die Öffnung des Schlafsackes. Das brachte ihm wenigstens einigermaßen Schutz vor den Blutsaugern.

Morgen fahre ich zum Einkaufen, murmelte er als Mantra vor sich hin. Dann fielen ihm endlich die Augen zu.

***

Am nächsten Morgen wachte er erst auf, als es bereits hell war. Zuerst wusch er sich am Brunnen. An warmes Duschen gewöhnt, raubte ihm das eiskalte Wasser schlagartig den Atem. Wenigstens blieben die Mücken verschwunden.

Sobald er es geschafft hatte, ein Feuer zu entfachen und den darauf gekochten, ersten Kaffee zu schlürfen, fühlte er sich wirklich besser.

Dass ihm Cécile vor langer Zeit einmal, eine Tasse aus Metall mit zwei Henkeln geschenkt hatte, erwies sich jetzt als Glücksfall.

An zwei abgebrochenen Zweigen, die er zwischen die Ritzen der groben Stämme in der Wand gesteckt hatte, ließ sich die Tasse über die Flamme hängen.

Natürlich verbrannte er sich die Finger an den Henkeln, sobald das Wasser kochte. Mit einem Esslöffel, der zu breit war, um durch die Öffnung des Henkels zu rutschen, löste er auch dieses Problem.

Dass sich der Löffel von selbst im Loch verklemmte, nahm Merz als das Glück des Tüchtigen hin.

Die Papierbecher, die er eingepackt hatte, fanden immerhin als Anzündhilfe Verwendung.

Wie er darauf gekommen war, die mitzunehmen, erinnerte er sich ganz deutlich. Abwaschen im Urlaub? Das fehlte noch?

***

Zuerst wollte Merz das Boot untersuchen. Wenn es, wie er vermutete, Dornbachs Schlauchboot gewesen sein sollte, dann mussten darauf Spuren von ihm zu finden sein.

Er versuchte an einigen Stellen, die dunkler schienen, Fingerabdrücke zu sichern. Er fand jedoch keine, die sich klar als solche erkennen ließen. Es handelte sich eher um ölige Flecke, die in verschiedenen Größen die Oberfläche des Bootes zierten. Merz erinnerte sich an die verschmierten Hände der Fischer, die ihn hergebracht hatten. Dass sich da kaum feinen Linien abzeichnen konnten, leuchtete ein.

Dornbach dürfte zwar mit sauberen Händen unterwegs gewesen sein. Aber die Fischer hatten bei der Reparatur so oft angefasst, dass keine unberührten Stellen mehr blieben. Schließlich gab er es auf und setzte sich auf den Anleger um ein wenig zu dösen.

Es war jetzt kurz vor Mittag. Das Meer schien friedlich, ein leichter Wind strich über das Wasser. Keine Mücken, stellte er fest.

Merz schob mit einem Fuß das Schlauchboot immer wieder von sich weg und wartete, bis der leichte Seegang es zurückbrachte. Eine völlig sinnlose Beschäftigung.

Cécile würde sich aufregen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Vielleicht fand er es deshalb so erholsam, überlegte er.

Auf der anderen Seite des Fjordes konnte er das kleine Dorf erkennen. Dort hin musste er fahren, wenn er einzukaufen wollte. Mit dem Boot.

Über den ganzen Fjord.

Keiner hatte danach gefragt, ob er über eine Fahrerlaubnis für Boote verfügte. Das schien hier ganz selbstverständlich zu sein, dass man sich damit auskannte.

Er hatte tatsächlich schon einmal auf dem Meer ein Schlauchboot gerudert. Im warmen Südfrankreich bei einer Wassertiefe von höchstens zwei Metern.

Dieses Meer hier schien wie eine gefährliche Bestie, wenn er es mit der côte d`azur verglich.

Er ließ sich ins Boot gleiten. Zum Glück waren die Hebel und Schalter am Außenbordmotor in deutscher Sprache angeschrieben.

Trotzdem staunte er, dass der Motor schon beim ersten Versuch lief.

Er sollte den Schwung nutzen, überlegte er. Das Wetter konnte kaum noch besser werden. Die Geldbörse steckte in seiner Hosentasche.

Der Knoten, mit dem der Fischer das Boot festgemacht hatte, faszinierte Merz. Er sah so elegant und einfach aus. Und er ließ sich ganz leicht lösen. Merz war sofort klar: Er würde ihn niemals wieder genauso hinkriegen.

Das Boot blieb seine einzige Verbindung zum Rest der Welt. Wenn er es selbst befestigte, würde er kein Risiko eingehen. Besser drei als nur zwei Knoten. Egal, wie das aussehen mochte.

Merz stieß sich vom Steg ab. Dann drehte er am Gasgriff. Das Boot bäumte sich auf und schob sich beinahe unter ihm weg. Mit einer solchen Beschleunigung hatte er nicht gerechnet.

Jetzt ging er es ruhiger an. Nach einigen Versuchen entlang am Ufer, fühlte er sich bald sicherer.

Entschlossen schwenkte er schließlich den Außenborder herum. Mit festem Blick auf das Dorf schien es fast wie Autofahren zu sein. Einmal abgesehen von der fehlenden Bremse, dachte er grinsend.

Obwohl er die mögliche Höchstgeschwindigkeit nicht annähernd ausnutzte. Die harten Schläge, wenn er über die kleinen Wellen fuhr, erzeugten bei ihm ein unangenehmes, schales Gefühl.

So hatte er sich Wasser nicht vorgestellt. Wie schlimm musste das erst bei großen Wellen sein. Da konnte man leicht in Seenot geraten.

Merz war heilfroh, seine erste Fahrt bei ruhigem Wetter machen zu können.

Mit stetig steigendem Staunen stellte er auf der Überfahrt fest, wie sehr er sich über die Entfernung täuschte. Das andere Ufer schien gar nicht so weit zu sein. Aber er brauchte mehr als eine Stunde, bis er den Hafen erreichte.

Wieder Mal schlich sich ein, wie naiv er manche Dinge anging. „Einmal kommst du in böse Schwierigkeiten!“, sagte er zu sich selbst.

Das Anlegen bereitete keine Probleme. Ganz selbstverständlich schien jeder, der auf dem Steg stand, bereit seine Leine zu übernehmen.

Merz nahm die Hilfe gerne an. Der Mann schlang das Seil um und zog ihn an den Steg. Freundlich lächelnd gab er Merz das Ende des Seils zurück. Merz legte es einfach hin. Er verließ sich darauf, dass es halten würde.

Der Laden stand direkt am Hafen. Merz fand ein Moskitonetz, Mückenspray und Klopapier im Regal. Zwar konnte er nicht lesen, wozu der Spray genau gedacht war. Aber das durchgekreuzte Insekt auf der Etikette, ließ hoffen, dass es sich um die hier notwendige, massive chemische Keule handelte.

Eine einfache Pfanne, Reinigungsmittel, Putzlappen und noch ein paar Kleinigkeiten, wanderten auch in den Einkaufswagen. Jetzt sollte er doch einigermaßen ausgerüstet sein, für ein Leben in der Wildnis, dachte er beruhigt.

***

Zurück in seiner Hütte begann er damit, die Flächen zu reinigen. Dass man sich nirgends hinsetzen oder etwas abstellen konnte, ohne kleben zu bleiben, widerte ihn an.

Schließlich kochte er sich eine Konserve in der frisch gekauften Pfanne. Seine Erste. Aber er war mit dem Ergebnis zufrieden.

Nach dem Essen entschied er sich, heute nicht mehr mit der Suche anzufangen.

Also packte er seine Angelausrüstung aus und setzte sich auf den Steg, um zu fischen.

Nach kurzer Zeit überfielen ihn plötzlich wieder die Mücken. So schlimm, dass er sich ins Haus zurückziehen musste.

Er machte alles dicht, entzündete ein Feuer im Kamin und sprühte das Innere der Hütte kräftig ein. Zwar fiel ihm das Atmen danach auch schwer. Doch immerhin konnte er die Plagegeister etwas auf Distanz halten. Was die Viecher in kürzester Zeit anlockte oder vollständig verscheuchte, blieb für Merz ein absolutes Rätsel.

Wie man hier Ferien machen konnte, auch.

***

Am zweiten Tag wollte Merz endlich mit der Suche beginnen. Er hatte sich vorgenommen, das ganze Ufer mit dem Boot abzufahren, vielleicht hatte das Meer etwas ans Ufer gespült, das von der Isolde stammte.

Außerdem hoffte er, dass sich ein Lagerplatz oder eine leere Hütte fand, in der Dornbach übernachtet hatte. Wenn ich fliehen müsste, dann würde ich mir auf jeden Fall zuerst eine ruhige Bleibe suchen, dachte Merz. Ich muss nur einen Beweis finden, dass Dornbach noch lebt. Alles andere kann ich der Polizei überlassen.

So fuhr er in langsamem Tempo dem Ufer entlang. Die Küste zeigte sich stark zerklüftet. Immer wieder tauchten kleine Buchten auf. Ab und zu stieß er auf Treibgut, meistens Holz. Jedoch nichts davon stammte von einem Schiff.

Mehrere Stunden war er schon unterwegs. Langsam begann er an seinem Vorhaben zu zweifeln.

Bis er plötzlich hinter einem Felsvorsprung, einen im Wasser treibenden Klumpen entdeckte. Neugierig steuerte er darauf zu. Etwas aus hellem Stoff. Könnte eine Tasche oder ein Koffer sein, dachte er.

Er griff nach dem Ding, das sich leicht drehen ließ und fuhr entsetzt zurück.

Eine stark verstümmelte Leiche. Eigentlich nur den Oberkörper davon, hatte er angefasst.

Die Uniformjacke war auf dem Rücken unbeschädigt geblieben. Deshalb hatte es wie eine Tasche ausgesehen.

Merz musste sich übergeben. Minutenlang saß er in seinem Boot. Unfähig irgendetwas zu tun. Schon wieder ein Toter. Und auch noch in diesem Zustand.

Vorsichtig sah er über die Bordwand. Aber der Klumpen war noch da. Eine unbändige Wut auf diesen Dornbach überkam ihn. „Wenn du mir noch einmal über den Weg läufst, bringe ich dich um!“, sagte er laut.

Was sollte er jetzt tun?

Den Klumpen in sein Boot ziehen, das konnte er nicht. Schon der Gedanke, dieses Fleisch noch einmal anzufassen, ließ ihn erschauern. Aber ich kann ihn doch auch nicht einfach im Wasser liegen lassen? Wie sollte er vorgehen?

Die Polizei verständigen. Das wäre das Richtige. Einfacher wäre, zu verschwinden, waberte irgendwie durch seine Gedanken. Aber dieser Fund würde ihn sein Leben lang verfolgen. Ganz sicher.

Würde er die Stelle wiederfinden? Was, wenn die Leiche verschwunden war, bis er mit der Polizei zurückkam? Würden sie ihn dann wegen grobem Unfug einsperren?

Er konnte nur in den Ort fahren, wo er eingekauft hatte. Dort gab es sicher ein Telefon. Aber die Sprache.

So einsam hatte sich Merz noch nie im Leben gefühlt. Endlich begann er mit dem Bootshaken, die Leiche ans Ufer zu schieben. Ein Stück auf den Strand hoch schaffte er. Den Gestank empfand er schlicht als umwerfend.

Mit einigen Steinen baute er einen kleinen Damm, damit sich das Meer den Klumpen nicht zurückholen konnte. An diesem Tag würde er es kaum schaffen, noch einmal zurückzukommen.

Trotzdem nahm er direkt Kurs in die Richtung, in der er das Dorf vermutete. Nach etwa drei Stunden traf er dort ein. „Police?“, fragte er die Leute am Hafen. Jemand führte ihn zu einem Haus, wo ein Beamter wohnte.

Er konnte ihm aber nicht klarmachen, was er gefunden hatte. Zuerst mussten sie einen Dolmetscher suchen, was wieder Zeit in Anspruch nahm. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit konnte Merz endlich über seinen Fund sprechen. „Ich habe eine Leiche gefunden“, begann er seinen Bericht. „Am Ufer auf der anderen Seite. Keine ganze, nur einen Oberkörper.“

Der Dolmetscher unterbrach ihn. „Moment, nicht zu viel auf einmal.“ Er trug dem Polizisten die Aussage von Merz vor. Dieser stellte auch eine Frage: „Wann und wo genau?“

Merz erklärte ihnen, wo seine Hütte lag, dass er an der Küste entlang gefahren war. Wozu, das verschwieg er natürlich. „Ich habe sie auf den Strand geschoben. Sie müssen sie abholen!“

Der Polizist antwortete sofort. „Wenn die Leiche am Strand liegt, dann wird sie von Tieren verschleppt. Wir müssen gleich los, sonst finden wir gar nichts mehr. Haben Sie die Koordinaten?“

Merz schüttelte den Kopf. „Nein, so was kann ich nicht bestimmen. Wir müssen am Ufer entlang fahren, dann kann ich Ihnen die Stelle zeigen.“

„Mit dem Polizeiboot können wir in der Nacht nicht so dicht ans Ufer, wir laufen auf Grund“, erklärte ihm der Polizist. Er machte eine Pause. „Ich werde einen Hubschrauber anfordern. Damit sind wir schneller.“ Er eilte ans Telefon. Jemand brachte Merz Kaffee, dazu einen Schnaps, der ihm sehr gut tat.

Nach einer halben Stunde hörte man das unverwechselbare Geräusch eines Helikopters. Der Polizist forderte Merz und den Übersetzer auf, mitzukommen. Merz kletterte in die Maschine. Mit einem Hubschrauber war er noch nie geflogen. Unheimlich, mit welcher Geschwindigkeit sich die Maschine in die Nacht warf. Natürlich gab es einen Suchscheinwerfer, aber auf dem Meer verlor sich das Licht. Merz krampfte sich an seinem Sitz fest.

Kaum eine Viertelstunde später erreichten sie das andere Ufer. Um dann der Küstenlinie zu folgen. Hier zeigte der Scheinwerfer etwas mehr Wirkung, Merz starrte gebannt auf die Erde. Nach einer halben Stunde entdeckte er die Fundstelle wieder.

Der Klumpen, den er am Strand zurückgelassen hatte, war inzwischen ein Stück landeinwärts gewandert. Etwas oder Jemand hatte die Rippen auseinandergerissen. Der Klumpen sah nicht mehr so kompakt aus, wie Merz ihn zuletzt gesehen hatte.

Der Anblick, deshalb umso scheußlicher. Merz wandte sich ab. Der Hubschrauberpilot fand eine Stelle um zu Landen. Alle, bis auf Merz, sprangen aus der Maschine, um sich die Sache anzusehen.

Schließlich schlenderte der Polizist mit dem Dolmetscher zu ihm zurück. “Wir warten nur noch ab, bis das Polizeiboot eintrifft! Dann fliegen wir zurück. Haben Sie gesehen, die Leiche ist schon angefressen. Bis morgen wäre nur noch die Kleidung übriggeblieben.“

Merz schauderte. Ihm war plötzlich kalt. Der Polizist verstand offenbar, wie er sich fühlte, und ließ ihm eine Decke bringen.

Es verging eine weitere Stunde, bis die Küstenwache eintraf, um den Fund zu sichern. Merz verkroch sich in seiner Decke. Die Zeit verging quälend langsam. Endlich konnten sie ins Dorf zurückfliegen.

Merz wurde in ein Hotel gebracht. „Fragen können Sie morgen beantworten“, hatte ihm der Dolmetscher übersetzt.

Merz stellte sich vor, heute Nacht in der einsamen Hütte zu übernachten. Nur der Gedanke daran, ließ ihn erstarren. Nie mehr im Leben würde er so allein eine Nacht in Ruhe verbringen können. Ganz sicher.

Immer wieder kam das Bild hoch, wie er ins Wasser gegriffen hatte…

Er legte sich auf das Bett und achtete darauf, nicht einzuschlafen. Wenn er träumen würde? Das konnte er nicht aushalten.

Gegen Morgen schlief er trotzdem ein. In dieser Nacht blieb ihm ein Traum erspart.

Jemand klopfte an seiner Zimmertür. Merz schreckte auf und sah auf die Uhr. Zehn schon vorbei. „ Ja, bitte!“, rief er.

Der Dolmetscher von gestern betrat sein Zimmer. „Guten Morgen, Herr Merz. Habe ich Sie geweckt?“

„Kein Problem“, murmelte Merz. „Es ist ja auch an der Zeit zum Aufstehen.“

„Können wir uns um elf Uhr auf der Polizeistation treffen? Sie sollten noch ein Protokoll unterschreiben.“

„Ja, ich komme natürlich“, antwortete Merz.

„Man hat für Sie ein Frühstück zurückbehalten“, sagte der Dolmetscher.“ Wenn Sie möchten, leiste ich Ihnen Gesellschaft?“

„Bitte, wenn Sie wollen.“ Merz war wie immer am Morgen, kurzangebunden.

Der Mann verließ sein Zimmer und Merz erledigte seine Morgentoilette. Danach suchte er den Frühstücksraum auf.

Er hatte Mühe, etwas zu essen. Die Erlebnisse von gestern drängten sich noch zu frisch in seine Gedanken.

Der Dolmetscher bemühte sich, ihn aufzuheitern. „Geht es Ihnen schon ein wenig besser? Das muss ein Schock gewesen sein, was Sie da gestern gefunden haben. Gut, dass die Leiche keinen Kopf gehabt hat! So ist es nur ein Stück Fleisch.“

Merz konnte diese Ansicht nicht teilen. Er legte das angebissene Brötchen zur Seite und nahm einen Schluck Kaffee.

Der Dolmetscher merkte, dass er besser nicht davon angefangen hätte und entschuldigte sich. „Ich wollte Ihnen nicht den Appetit verderben. Es tut mir leid.“

„Das können Sie auch nicht. Ich habe keinen“, antwortete Merz sarkastisch.

Sie schwiegen einige Minuten. Dann wurde es Zeit, die Polizeistation aufzusuchen. Der Beamte begrüßte ihn äußerst freundlich. Er zeigte deutlich mehr Gespür für den Zustand von Merz, als der Dolmetscher.

„Wollen wir das schnell hinter uns bringen?“, ließ er übersetzen.

Merz nickte. „Ja, was muss ich tun?“

„Ich lese Ihnen das Protokoll vor und wenn Sie damit einverstanden sind, unterschreiben Sie es bitte!“

Er bekam im Wesentlichen das vorgelesen, was er gestern ausgesagt hatte. Es gab nichts zu ergänzen.

Dass er genau wusste, woher die Leiche stammte und das er auf der Suche nach Dornbach war, hatte er für sich behalten.

„Möchten Sie noch etwas hinzufügen?“, fragte der Dolmetscher.

„Nein!“, wehrte Merz ab. „Das ist alles, was ich weiß.“

Er bekam einen Stift gereicht, womit er das Papier unterzeichnete.

Der Polizist richtete noch ein paar freundliche Worte an ihn. Er müsse das Hotel nicht bezahlen und wenn er noch einen Tag bleiben wolle, sei das in Ordnung.

Merz überlegte kurz. Wie sollte es weitergehen? Lust um weiterzusuchen verspürte er keine mehr. Andererseits, an diesem Ort zu bleiben, auch nicht. „Kann ich es mir noch ein wenig überlegen?“, fragte er.

„Selbstverständlich“, erhielt er als Antwort. „Sie müssen sich zuerst erholen. Lassen Sie sich nur Zeit.“

Merz schlurfte zurück in sein Hotel. Auf den Weg sah er am Hotelanleger nach seinem Boot. Jemand hatte es gebracht, wie versprochen und seine Sachen lagen noch drin. Merz genehmigte sich noch etwas zu trinken. Wie üblich, wenn er nachdenken wollte, saß er am liebsten allein an einem Tisch. Nur mit einem Glas oder einer Tasse vor sich.

Er musste seine Sachen aus der Hütte abholen. Auf keinen Fall würde er noch einmal dort eine Nacht verbringen. Schon der Gedanke daran ließ ihn frieren.

Dann bald nach Hause. Aber in diesem Zustand mochte er seiner Frau nicht begegnen.

Außerdem hatte er ihr gesagt, dass er mindestens zwei Wochen wegbleiben wolle.

Schließlich entschloss er sich: Zurück in die Hütte, danach fahre ich ein Stück mit dem Boot und suche mir ein Hotel.

Nach ein paar Tagen habe ich mich gefasst. Dann fliege ich nach Hause.

Er verabschiedete sich an der Rezeption. Dem Personal, an Touristen gewöhnt, konnte er mit etwas Englisch und Deutsch klarmachen, dass er abreisen wollte.

Langsam tuckerte er über den Fjord. Das Wasser lag spiegelglatt da, das Boot glitt sanft wie ein Schlitten über den Fjord. Er brauchte deshalb fast zwei Stunden für die Überfahrt. Aber egal. Die frische Luft fühlte sich gut an und das sanfte Gleiten gefiel ihm.

Als er am Steg landete, überkam ihn plötzlich ein unbestimmtes Grauen. Er spürte eine Gefahr, die sich eiskalt in ihm ausbreitete. Hier gab es doch Bären. Möglicherweise wartete in der Hütte einer auf ihn.

Er versuchte, sich zu erinnern, ob die Tür von selbst zufiel, wenn man durchging? Möglich. „Dass ein Bär die Tür hinter sich zuzieht, ist kaum zu erwarten“, schalt er sich selbst.

Merz konnte den Gedanken trotzdem nicht verscheuchen. Zitternd schob er die Tür auf. Spähte vorsichtig in den dunklen Raum. Aber alles stand noch genauso da, wie er es verlassen hatte.

Er ärgerte sich über sich selbst. „Siehst du jetzt überall Gespenster?“, sagte er zu sich.

Kein Zweifel, dass ihn das Erlebte noch einige Zeit verfolgen würde.

So rasch wie möglich packte er seine Sachen zusammen und legte alles ins Boot. Der Bär konnte ja auch irgendwo in der Nähe lauern. Vielleicht hatte er Erfahrung, wusste, dass die Menschen gefährlich sein können. Merz steigerte sich immer mehr in die Angst hinein. Der Bär würde ihn einfach anfressen ohne darauf zu achten, ob er bereits tot war oder nicht.

Merz hatte es mit der Überfahrt nicht eilig gehabt. Aber jetzt wollte er weg. Erst auf dem Wasser beruhigte er sich wieder. Im Boot fühlte er sich sicherer.

Langsam fuhr er der Küste entlang, bis er den nächsten Ort erreichte. Direkt am Wasser lag ein kleines Hotel. Mit Anlegestelle.

Er steuerte an den Steg und vertäute sein Boot an einem freien Platz.

Ohne Gepäck betrat er das Haus, um erst nach einem Zimmer zu fragen. Die junge Frau am Empfang sprach gutes Deutsch. Er brauchte sich nicht mit seinem kargen Englisch abzumühen.

„Ja“, antwortete sie freundlich auf seine Frage. „Wir haben Platz. Wie lange möchten Sie bleiben?“

Merz wusste es selbst nicht. „Nur ein paar Tage. Ich kann es noch nicht genau sagen.“

Sie zeigte ihm ein schön eingerichtetes Zimmer. Merz gefiel es auf Anhieb.

Nach seinem Aufenthalt in der Hütte war das kein Wunder. Aber am wichtigsten blieb für ihn im Moment: Ich bin nicht allein.

Er schleppte seine Sachen aufs Zimmer. Duschte lange und legte sich anschließend für ein paar Minuten hin.

An diesem Tag hatte er noch nichts gegessen. Inzwischen verspürte er doch Hunger, also suchte er das Restaurant auf. Er lauschte aufmerksam, ob sich jemand von den Anwesenden auf Deutsch unterhielt. Vergeblich.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in sein Zimmer zurückzuziehen. Er versuchte zu schlafen, aber er konnte den Film in seinem Kopf nicht anhalten.

Lange würde er das nicht durchhalten. Er brauchte jemanden zum Reden. Kaum war er doch endlich eingeschlafen, folgte das Unvermeidliche. Er träumte, wie er ins Wasser griff. Und dieses Mal starrte ihn ein entstelltes Gesicht an.

Merz schreckte hoch. Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass er in einem Bett lag.

Das wird mich immer verfolgen, dachte er verzweifelt. Am besten wäre, gar nicht mehr zu schlafen. Er stand auf und schlich ans Fenster. Es war inzwischen still und dunkel geworden. Keine Lichter mehr im Ort. Merz sah in den Himmel: Ein Sternenmeer, wie er es noch nie gesehen hatte.

Einige Zeit betrachtete er fasziniert den Himmel. Jetzt verstand er, weshalb man es, die Milchstraße nennt.

Wie klein man sich vorkommt. Und wenn ich das jetzt Cécile zeigen könnte, dachte er.

Er hatte normalerweise nicht so Sehnsucht nach seiner Frau. Er liebte es, auch Mal allein zu sein. Aber jetzt hätte er sie gern in den Arm genommen.

Den Rest der Nacht verbrachte er zwischen Bett und Fenster. Wieder einzuschlafen, fürchtete er sich. Endlich wurde es hell. Merz machte einen kleinen Spaziergang. Die Frische des Morgens fühlte sich gut an.

Als er das Hotel wieder erreichte, saß die junge Dame vom Empfang im Frühstücksraum und blätterte in einer Zeitung.

Merz freute sich außerordentlich, jemanden zu treffen, mit dem er ein paar Worte wechseln konnte. Deshalb überwand er alle Hemmungen und sprach sie an.

„Guten Morgen, junge Frau. Schon an der Arbeit?“

Sie lachte. „Arbeit kann man das nicht nennen. Ich stehe immer früh auf.“

Merz fragte, ob er sich ein wenig zu ihr setzen dürfe. Sie hatte nichts dagegen.

„Kaffee“, fragte sie.

Merz nickte, „ja gern, wenn es nichts ausmacht.“

Sie verschwand in der Küche und kehrte bald wieder mit zwei vollen Tassen zurück. „Bitte. Mit Milch und Zucker.“

„Danke“, antwortete Merz knapp. Die ganze Zeit überlegte er sich, was er zu ihr sagen konnte, ohne aufdringlich zu wirken.

Sie nahm wieder die Zeitung zur Hand. Einen Moment hielt sie inne, „wollen Sie lesen?“

Merz lachte auf. „Ich kann mir ein wenig die Fotos anschauen, meinen Sie?“

„Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht kränken“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Kein Problem“, gab Merz zurück. „Wo haben Sie eigentlich so gut Deutsch gelernt?“

„Meine Mutter stammt aus Deutschland. Zuhause sprechen wir deutsch, wenn Vater nicht da ist“, antwortete sie.

„Ach so“, sagte Merz. Er wollte das Gespräch gerne noch ein wenig fortsetzen. Aber er hatte Mühe, passende Worte für eine Unterhaltung mit einer jungen Frau zu finden.

Nach einer Weile sagte sie ein wenig schaudernd: „Da hat ein Tourist bei uns Leichenteile gefunden.“

Merz nickte. „Ja, das war ich.“

„Sie?“ Sie sah ihn erstaunt an. „Sie haben das gefunden? Wie schrecklich, können Sie überhaupt noch schlafen. Das muss ja furchtbar sein.“

Mitleidig sah sie ihn an.

Merz freute sich über das Mitgefühl, das sie zeigte. Seine Hemmung zu sprechen schwand. „Ja, das war grausig. Ich finde keine Ruhe mehr. Deshalb bin ich auch schon draußen. Sonst schlafe ich gerne etwas länger.“

Sie sah in an. „Das sollten doch Ihre Ferien sein? Die sind jetzt verdorben?“

„Ich will mich nur noch ein wenig erholen. Dann fliege ich nach Hause“, bestätigte er.

„Eigentlich wollte ich hier einen Mann finden.“ Er kramte das Foto von Dornbach aus seiner Jackentasche und legte es vor ihr auf den Tisch.

Sie musterte das Bild. Dann nahm sie es in die Hand, betrachtete es genauer. „Der hat vor einigen Tagen bei uns gewohnt. Er spricht auch deutsch, ich erinnere mich genau. Moment“, sagte sie und verschwand hinter einer Tür.

Merz blieb zurück, wie vom Donner gerührt. Dornbach hatte hier gewohnt. Wieder fand er ohne Mühe etwas heraus, nachdem er die Suche bereits aufgegeben hatte.

Sie kehrte zurück, schwenkte ein Papier in der Hand. „Wir machen von ausländischen Gästen immer eine Kopie vom Ausweis. Sehen Sie?“

Merz blieb für einen Moment sprachlos. Der Reisepass von Dornbach. Zwar stand Jens Müller als Name drin, aber das Foto zeigte eindeutig seinen Mann.

Merz stotterte leicht: „Können Sie mir das überlassen?“

„Ich kann Ihnen eine Kopie davon machen, wenn Sie wollen, das ist kein Problem“, sagte sie und verschwand wieder.

Kurz darauf legte sie ihm das Papier hin. „Sind Sie vielleicht ein Detektiv oder sogar von der Polizei?“

Merz wehrte ab: „Aber nein. Ich möchte ihn aus persönlichen Gründen sprechen. Ich habe zufällig erfahren, dass er hier in der Nähe Urlaub macht.“

Sie gab sich damit zufrieden, und Merz zog sich zurück auf sein Zimmer. Viel länger hätte er sich nicht mehr beherrschen können. Er wollte ihr aber nicht zeigen, wie sehr sie ihm geholfen hatte. Er trommelte mit den Fäusten auf sein Bett. Am liebsten hätte er laut gebrüllt. Das kam jedoch, um bei den anderen Gästen nicht aufzufallen, nicht in Frage.

„Jetzt habe ich dich!“, murmelte er vor sich hin. „Dornbach oder Müller hat ausgespielt.“

Damit lag der Beweis, den Reuter brauchte, vor ihm. Etwas Besseres hätte er gar nicht finden können.

Dornbach war am Leben. Er reiste unter falschem Namen. Er konnte nicht mehr behaupten, dass er nur zufällig überlebt hatte. Mit diesem Papier hatte Merz sein Ziel mehr als erreicht.

Eine Euphorie überkam ihn. Für einen Moment dachte er nicht mehr an die Leiche, sondern fühlte sich rundum zufrieden.

Er legte sich auf sein Bett. Das Papier behielt er dabei in der Hand, und überlegte sich, wie er weiter vorgehen wollte.

Ich muss sofort nach Frankfurt. Der Kommissar wird Augen machen. Das Mädchen vom Hotel kann mir einen Flug buchen. Das reicht vielleicht sogar noch für heute, überlegte er.

Andererseits wollte er jedoch nicht auffallen. Sie könnte Fragen stellen, wenn er derart Hals über Kopf abreiste.

Also fliege ich morgen, entschloss er sich. Ich muss ja auch noch das Boot zurückgeben. Und außerdem kann ich mich auch noch ein wenig erholen. Merz entspannte sich zusehends. Wie schön, einfach ein wenig zu liegen und seinen Erfolg zu genießen.

Kurz vor Mittag suchte er erneut den Empfang auf. Er hatte sich Notizen gemacht, was die junge Dame für ihn organisieren sollte. Einen Flug nach Frankfurt buchen. Nachfragen, wann er die Fähre nach Kristiansand besteigen konnte. Diesen Krag anrufen, damit der sein Boot abholte.

Sie versprach, alles zu erledigen.

Merz genoss danach ein üppiges Mittagessen, das ihn für die letzten Tage entschädigte. Den Nachmittag verbrachte er damit, das Boot von dem schwarzen Pulver zu befreien, das er für die Suche nach Abdrücken verwendet hatte. Seine Vorräte und das Angelzeug verschenkte er an die Dame vom Hotel. Er mochte es nicht diesem Krag überlassen.

Sie hatte ihm inzwischen einen kompletten Fahrplan für den nächsten Tag erstellt. Um neun Uhr legte die Fähre ab. Noch am Nachmittag würde er in Frankfurt landen.

Er brach an diesem Abend zu einem ausgedehnten Spaziergang auf. In einem schönen Restaurant am Meer gönnte er sich eine halbe Flasche Wein. Er trank äußerst bedächtig. Flirtete dazwischen kurz mit der Bedienung. Danach beobachtete er lange das Spiel der Wellen. Die gute Stimmung hielt noch an.

Nach seiner Rückkehr ins Hotel konnte er sogar in Ruhe schlafen.

Um halb acht wurde er geweckt, wie er es gewünscht hatte.

Zum Frühstück erhielt er frischen Kaffee, die Empfangsdame leistete ihm Gesellschaft. Endlich verriet sie ihm auch ihren Namen: „Ich heiße Lara.“

Merz bat sie, ihn Erich zu nennen. Inzwischen fühlte er sich sehr zu ihr hingezogen. Aber er hatte ja schon eine Frau zuhause.

Lara war sehr nett zu ihm gewesen. Vielleicht ist es besser, dass ich jetzt gehe, spürte er.

Er erhielt zum Abschied Küsse auf die Wangen, die er erwiderte.

Sie roch gut. Und fühlte sich noch besser an. Merz musste sich zusammenreißen, sie nicht auch noch auf den Mund zu küssen.

Endlich legte die Fähre an. Merz ging an Bord und die frische Luft, die ihm um die Nase wehte, vertrieb die Erinnerung an Lara ein Stück weit. Es lag an der Euphorie, dachte er. Aber nicht nur. Dass er bei einem so jungen Kätzchen noch Chancen zu haben schien, fand er beruhigend.

Bald darauf saß er im Flugzeug, ohne Probleme erreichte er Oslo, wo er nur eine Stunde warten musste, um in die Maschine nach Frankfurt umzusteigen.

Die ganze Zeit malte er sich aus, was der Kommissar sagen würde, wenn er mit seinem Papier ankam.

Dazwischen schlich sich ab und zu auch ein Gedanke an diese Lara ein. Merz versuchte, sie aus seinem Kopf zu verscheuchen. Er würde kaum noch einmal nach Norwegen fahren. Auch nicht für Lara. Leicht fiel ihm das jedoch nicht.

***

Schließlich landete Merz in Frankfurt. Er holte seinen Koffer vom Fließband, um gleich danach Kommissar Reuter anzurufen. „Guten Abend Herr Kommissar. Wie geht’s?“, sagte er in den Hörer, nachdem man ihn verbunden hatte. Merz platzte fast, vor Stolz. „Sind Sie in Ihrem Büro, heute? Ich bin am Flughafen, kann ich Sie kurz besuchen?“

Reuter gab sich, wie erwartet, erstaunt über seinen Anruf aus Frankfurt. „Sie sind schon zurück? Haben Sie etwas herausgefunden?“

„Ja, Herr Kommissar. Aber ich möchte Ihnen das gerne zeigen. Am Telefon kann ich das nicht erklären.“

„Na gut, dann kommen Sie. Ich bin da“, antwortete Reuter.

Merz schnappte sich in ein Taxi. „Bringen Sie mich zum Polizeipräsidium!“, wies er den Fahrer an. Die Art, wie Merz auftrat, ließ kaum Zweifel aufkommen, dass er eine wichtige Person darstellte.

„Danke, ich kenne den Weg und ich werde von Kommissar Reuter erwartet“, ließ er am Empfang fallen. Ungehindert eilte er zum Büro des Kommissars.

Beschwingt trat er ein, ein Siegerlächeln im Gesicht. Reuter gab ihm die Hand. „Hallo Erich. Sie scheinen ja sehr erholt zu sein. Wie waren die Ferien in Norwegen?“

Für einen Moment verschwand die Freude aus dem Gesicht von Merz. „Die Ferien verliefen nicht so besonders. Aber davon erzähle ich Ihnen später, Alois. Zuerst sehen Sie sich bitte das hier an!“

Er legte ihm die Kopie des Passes auf den Schreibtisch. Reuter nahm das Papier in die Hand, um es sich genauer anzusehen „Wie sind Sie daran gekommen? Das könnte ja Dornbach sein.“

„Das könnte?“, wiederholte Merz. „Das ist er. Ich wohnte im gleichen Hotel. Sie machen eine Kopie von allen Ausländern. Lara, ich meine eine Hotelangestellte, hat ihn auf dem Foto wiedererkannt. Erst danach hat sie mir eine Kopie gegeben.“

Merz war etwas in Fahrt geraten. Der Kommissar konnte doch nicht wirklich daran zweifeln, dass er Dornbach gefunden hatte?

„Beruhigen Sie sich bitte“, antwortete der Kommissar. „Ich gebe die Passnummer in den Computer ein, dann wird sich zeigen, ob das ein richtiger Pass ist.“

Reuter verließ sein Büro. Schon bald kam er wieder zurück. „Dieser Pass ist ein echtes Dokument. Aber er dürfte nicht im Umlauf sein. Vor etwa zehn Jahren wurden einige leere Pässe gestohlen. Bei normalen Kontrollen fällt das aber nicht auf.

Damit kann ich eine Zielfahndung einleiten. Sobald er irgendwo den Pass zeigt, werden wir benachrichtigt. Dann können wir zuschlagen. Gratuliere, Erich! Das haben sie gut gemacht.“ Anerkennend klopfte ihm Reuter auf die Schulter. „Sie müssen die Passagierlisten von Oslo nach Zürich verlangen, Alois. Er ist nach Zürich geflogen. Dort habe ich ihn doch gesehen“, drängte Merz.

„Ja, das werde ich. Darin finden wir vielleicht eine Spur“, entgegnete Reuter. „Den Rest können Sie uns überlassen. Ich benachrichtige Sie, wenn sich etwas ergibt.“

Merz sah abgrundtief enttäuscht aus. „Ich möchte dabei sein, wenn Sie ihn suchen!“, antwortete er trotzig.

Reuter lächelte. „Ich gehe ihn jetzt nicht suchen. Es ist der Apparat, der ihn sucht. Erst wenn ich eine Nachricht bekomme, leiten wir Schritte ein. So läuft das ab. Unser großer Vorteil ist, wir sind immer da. Ein Flüchtiger muss sich jederzeit vorsehen. Für uns spielt die Zeit keine große Rolle. Einmal macht er sich irgendwo bemerkbar, dann schnappen wir ihn.“

Merz schluckte. Er sah ein, dass der Kommissar Recht hatte. Aber so einfach wollte er sich doch nicht geschlagen geben.

„Ich kann ja weitersuchen. Vielleicht finde ich ihn, bevor er sich irgendwo verrät“, bot Merz an.

„Bloß nicht“, antwortete der Kommissar entsetzt. „Wenn er Sie zu Gesicht bekommt, dann schweben Sie in höchster Gefahr. Wissen Sie, er würde Sie sofort aus dem Weg räumen, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.

Außerdem wäre er dann gewarnt. Er würde sicher sofort wieder einen neuen Namen verwenden.

Fahren Sie jetzt nach Hause und warten Sie ab, was passiert. Wir brauchen nur etwas Geduld. Das ist eine unserer besten Waffen.“

Reuter sah ihn beschwörend an. Er traute Merz zu, weiterzusuchen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit klein war, dass er Dornbach fand. Das musste er verhindern.

Merz gab auf. „Also gut, wenn Sie meinen. Aber Sie halten mich auf dem Laufenden!“

„Ja, natürlich“, sagte Reuter beruhigend. „Darauf können Sie sich verlassen.

„Ach ja“, erklärte Merz. „Ich habe in Norwegen auch noch eine Leiche gefunden. Haben Sie davon gehört?“

„Wie? Schon wieder eine?“ Reuter zog die Brauen hoch. „Ich habe nichts davon gehört. Erzählen Sie!“

Merz trug seine Geschichte vor. Als er geendet hatte, schüttelte der Kommissar den Kopf.

„Ihnen bleibt wirklich nichts erspart. Ein solcher Anblick ist auch für uns Profis immer wieder schlimm. Möchten Sie zu einem Psychologen, der Ihnen hilft, das zu verarbeiten?“

Merz fühlte sich extrem düpiert.

„Ja! Es war schlimm! Aber deshalb fehlt es mir nicht im Kopf!“

„Aber Erich! Es geht doch nicht darum, ob Ihnen etwas fehlt. Unsere Leute, die zum Beispiel Unfallopfer bergen müssen, gehen immer zur Therapie. Sonst kann man das nicht verarbeiten. Das ist ganz normal.

Ich wollte Ihnen auf keinen Fall zu nahe treten. Falls Sie in Schwierigkeiten geraten, überlegen Sie sich das einfach noch einmal. Diese Leute können Ihnen wirklich helfen. Und die gibt es auch in der Schweiz.“

Merz blieb ungehalten. Mit Seelenklempnern wollte er absolut nichts zu tun haben. Die sind doch alle nur zu faul, um etwas Richtiges zu arbeiten. So lautete seine Ansicht. Aber das er behielt für sich.

Er war so gelöst und voller Freude gekommen. Der Kommissar sollte über ihn staunen. Ihn bewundern.

Aber stattdessen wollte ihn dieser Blödmann zum Psychiater schicken. Merz wollte nur noch weg.

Sein Selbstvertrauen war jetzt nachhaltig zerstört. Er fühlte sich grottenschlecht. Dieser Idiot, dachte er. Dieser unglaublich arrogante Scheißkerl!

„Also, dann gehe ich, Herr Kommissar“, sagte Merz in dunklem Ton.

Er würde ihn nie mehr mit seinem Vornamen ansprechen. „Sie brauchen mich ja offenbar jetzt nicht mehr!“

Reuter wurde die Sache äußerst peinlich. Er wollte doch wirklich nicht…

Aber da ließ sich im Moment nichts mehr Reparieren, das fühlte Reuter. Die typische Reaktion einer Person mit starken Selbstzweifeln. Ganz klar.

Aber dass Erich Merz so empfindlich sein könnte? Das hatte er wirklich nicht erwartet.

„Ich danke Ihnen für alles!“, sagte Reuter mit ernster Stimme. „Sie haben wahrhaftig den entscheidenden Hinweis gebracht.“ Wenigstens ein Stück weit, versuchte er, ihn wieder aufzubauen. Merz tat ihm aufrichtig leid.

Er reichte ihm die Hand, die Merz nur noch flüchtig drückte. „Auf Wiedersehen!“, wünschte Reuter.

Aber Merz brummte nur noch undeutlich, bevor er das Büro verließ. Die Tür schloss er mit einem kräftigen Fußtritt.

***

Draußen suchte Merz als erstes ein Restaurant auf. Was nun, ging ihm durch den Kopf. Schlagartig war ihm jede Lust vergangen.

Er hatte sich auf eine spannende Jagd gefreut. Er wollte große Erfolge feiern, sich fast unbesiegbar fühlen. Der unbeirrbare Journalist sein, vor dem die Profiteure und Kriegsgewinnler zittern sollten. Und jetzt: Er wurde abgewiesen wie ein kleiner, dummer Junge.

Undankbar ist die Welt. Das wusste er bereits. Jedoch steigerte er sich gern in tiefstes Selbstmitleid hinein, wenn er sich verletzt fühlte.

Am liebsten wollte er in diesem Zustand irgendetwas gegen eine Wand werfen. Aber im Moment hatte er nichts Passendes zur Hand.

Später, als er am Main entlang spazierte, warf er einen faustgroßen Stein nach einem Schwan, den er auch traf. Der Vogel schrie schrecklich laut auf, sackte zusammen und trieb danach nur noch als lebloses, weißes Federbündel im Fluss.

Das brachte Merz wieder zur Besinnung. Was hatte ihm der Vogel getan? Der konnte doch nichts dafür. Und er hatte ihn umgebracht, nur um sich abzureagieren?

Unter Umständen hatte der Schwan Junge, die nun elend verhungern mussten?

Merz stand kurz davor, selbst in den Fluss zu springen. Aber er war ein zu guter Schwimmer um an dieser ruhigen Stelle zu ertrinken.

Er schämte sich grenzenlos. „Was bist du nur für ein nutzloser Dummkopf!“, sagte er laut zu sich. „Reuter hat doch Recht! Ich bin reif für die Klapsmühle!“

Er schlich sich ein Hotel, wo er sich vor allem vergraben konnte. In diesem Zustand nach Hause zu fliegen, kam auf keinen Fall in Frage.

Verfluchtes Erbe Gesamtausgabe

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