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Kapitel 2

Natur, Nahrung, Nirgendwo

Umzug in eine verunsichernde Umgebung

Als ich noch ganz klein war, nahmen meine Eltern eine Stelle als Förster in der Wildnis von Utah an. Wir wohnten in einer winzigen Wachstation mit zwei Zimmern, ohne Strom, ohne sanitäre Anlagen im Haus und mit einem Plumpsklo in der Wildnis der Rocky Mountains. Ich verbrachte meine Kindheit dort, wo die Frühsommertage in langsamen Kreisläufen den Himmel mit Licht und Dunkelheit überzogen und die Zeit aufzehrten. Jeden Morgen küsste die Sonne beim Aufgang die Spitzen der geschwungenen Hügel, als ob sie aus diesen grasbewachsenen Kuppen des Westens Leben saugen wollte.

Hier wurden Tiere nicht in Käfigen gehalten und die Leute nicht hinter Beton und Glas eingesperrt. Nachbarn waren wertvoll, einfach weil es so wenige gab und sie weit auseinander wohnten. Doch für meine Familie und mich hatte Utah nie etwas Idyllisches.

Nachdem wir uns dort niedergelassen hatten, mussten wir feststellen, dass die dortige Gesellschaft und unsere Umgebung ziemlich rau und nachtragend waren. Im Winter waren sowohl die Salbeisträucher als auch unsere Haut einer so trockenen Kälte ausgesetzt, dass alles Leben abstarb und verstummte. Erwachsene Männer wurden so schwielig und hart wie ihre schwer arbeitenden Hände – und so derb, dass sie keine Gnade mehr kannten. Kein Wunder also, dass die Frauen angesichts dieser großen Härte verfielen. Sie gaben sich alle Mühe, in einer Gegend, in der man besser gar nicht erst als Mädchen auf die Welt kam, ihre Anmut zu bewahren.

Wie ich inzwischen weiß, klammerten sich diese Frauen und Mädchen deshalb an die Religion, weil sie die einzige Möglichkeit für sie war, mit der gefühllosen Grausamkeit dieses Lebens fertig zu werden und aus der scheinbar ständigen Tragödie wenigstens ein paar wenige Tropfen an Sinnhaftigkeit, Bestimmung und Kontrolle herauszupressen. Schon als ganz kleines Kind erfuhr ich auf die harte Tour, was diese Frauen bereits wussten: In Utah ohne Gott zu leben, bedeutete ein einsames Leben als Beute, denn die Gesetze dieser Gesellschaft – ihre isolierenden, ächtenden Regeln und unterdrückenden Rollen – waren so hart wie die Gesetze der Natur: Fressen oder gefressen werden.

So klappt es in der Wildnis

Trotz alledem war ich ein Kind, war das unser neues Zuhause, und ich hatte zum Glück keine Ahnung von dem, was da alles auf mich zukommen sollte. Als ich fast vier Jahre alt war, kam mein Bruder auf die Welt, ein prächtiger Junge mit platinblondem Haar und strahlend blauen Augen. Mein Bruder hatte keine übersinnlichen Fähigkeiten. Im Gegensatz zu mir war er ein glückliches, verspieltes Kind, nie quengelig, unglaublich kontaktfreudig. Und ganz anders als ich bestätigte mein Bruder meine Mutter als Mensch und als Mutter.

Deshalb, so meine ich, trieb seine Geburt einen noch tieferen Keil zwischen meine Eltern und mich. Jetzt hatte ich einen emotional unzugänglichen Vater, eine Mutter, die mich meinem Gefühl nach hasste, und einen Bruder, der in die Familie passte. Ich fühlte mich ausgestoßener als jemals zuvor, wirklich ganz allein. Ich hatte das Gefühl, mit mir stimmte etwas nicht, und saß in einer Familie fest, der ich mich nicht zugehörig fühlte.

Ich stellte mir vor, die Beeswaxes gäbe es wirklich und mein Vater wäre ein überfürsorglicher, wohlhabender Rechtsanwalt aus New York City, meine Mutter eine wunderschöne, künstlerisch begabte, warmherzige, exotische Opernsängerin, und sie wohnten in ihrem schicken, mit viel Samt und Seide ausgestatteten Apartment in Manhattan und hatten Schwierigkeiten mit ihrer Hippie-Tochter, die hohe Turnschuhe tragen wollte, ihr Haar in zwei Zöpfe flocht und ständig davon redete, die Wale zu retten. Ganz bestimmt waren dieses Mädchen und ich bei der Geburt vertauscht worden! Ich träumte, es würde eines Tages jemand an die Tür klopfen, die Verwechslung würde entdeckt und wir beide kehrten endlich zu der Familie zurück, zu der wir wirklich gehörten.

Aber das geschah natürlich nicht. Unter anderen Umständen wäre das Leben in der Hütte in der Wildnis eine wunderbare Kindheit gewesen. Und eigentlich war ich sehr gerne dort in der Wildnis. Wenn man nicht ständig dem statischen Summen des Stroms in den Wänden und den Ablenkungen moderner Technologie ausgesetzt ist, hat das Leben eine Einfachheit und vermittelt ein Gefühl ungestörten Friedens.

Und so gelang es mir, meine Umgebung trotz der Isoliertheit zu lieben. Wir waren von Natur umgeben. Wir kosteten unsere Unterhaltungsmöglichkeiten voll aus, von gemeinsamen Mahlzeiten bis zu Fantasiespielen, Tieren und Hobbys.

Bevor ich in die Schule kam, war mein Leben voller Sinn und Fülle. Uns so großzuziehen war die beste Entscheidung, die meine Eltern hatten treffen können, bis auf eines: Bei ihrem Umzug nach Utah hatten sie nicht die von Religion geprägte Atmosphäre in diesem Bundesstaat bedacht.

Ein Leben unter Menschen mit strengen religiösen Riten

Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bzw. die Mormonen hatten Utah zu einem Bundesstaat mit einer höchst homogenen religiösen Struktur gemacht. Das ist keine Sonntagsreligion, sondern eine Kultur, die jede Sekunde eines jeden Tages im Leben ihrer Mitglieder durchdringt. Solange man die Doktrin akzeptiert und keine Fragen stellt, ist es eine Kultur des Familienlebens und der Gemeinschaft.

Doch schon bald fiel es der Gemeinschaft auf, dass meine Familie und ich nicht zu den Gottesdiensten kamen. Und es dauerte nicht lange, da wurden Gerüchte über meine übersinnlichen Fähigkeiten überall in der Stadt per Mundpropaganda verbreitet. Ich war die Tochter von liberalen Hippies, und so benahm ich mich nicht wie ein typisches Mädchen, das bei den Mormonen aufwuchs. Um es kurz zu machen: Ich wurde in der Gemeinschaft überhaupt nicht gut aufgenommen.

Sehr aggressive Bekehrungsversuche führten bei meiner Familie zu nichts, und so hielten sich die meisten Bewohner der Stadt bewusst von uns fern. Die meisten Kinder durften nicht mit mir spielen, und ich durfte nicht zu ihnen nach Hause kommen. Oft wurde ich nach der Schule auf dem Parkplatz aus der Menge herausgegriffen und mir wurde gesagt, was die gottlosen Entscheidungen meiner Eltern für mich bedeuteten. Das Leben meiner Familie, so hieß es, war unrein und wir konnten nicht auf Erlösung hoffen.

Wenn das alles gewesen wäre, wäre es mir wohl immer noch sehr viel besser ergangen, als es der Fall war, aber leider gab es noch einen weiteren Haken. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage betrachtet sich als die »einzige wahre Kirche«; die Mormonen glauben, das wahre Wort Gottes und die Priesterschaft könne nur über ihren Gründer, Joseph Smith, weitergegeben werden und alle anderen Religionen seien Religionen falscher Propheten. Spontanheilungen und Kontakt mit Dingen »jenseits des Schleiers« waren den Mormonen bekannt und wurden praktiziert. Jegliche übersinnlichen Fähigkeiten wurden als potenzielle Gabe von Priestern betrachtet, die von Gott an Joseph Smith und von Joseph Smith an die Getauften und Gläubigen weitergegeben wurde.

Und das ist der Haken: Das Amt eines Priesters konnte nur von Gott an Joseph Smith und von ihm an einen Mann weitergegeben werden. Als sich im Sommer 1988 das Gerücht von einem kleinen Mädchen verbreitete, das eben diese Fähigkeiten zur Schau stellte, wurde das nicht als Gabe Gottes betrachtet, sondern als ein Geschenk des Teufels.

Die meisten Mormonen halten sich an die Philosophie »des Hinhaltens der anderen Wange«, wenn es um Außenstehende geht. Doch wie fast alle Religionen gibt es auch bei den Heiligen der Letzten Tage Splittergruppen, beispielsweise die Fundamentalisten, die für eine ganze Reihe von in den Medien breitgetretenen Skandalen sorgten, insbesondere wegen ihrer polygamen Überzeugungen und dem fließenden Übergang zur Pädophilie.

Dann gibt es da noch eine nur selten genannte Splittergruppe namens The Blood Covenant (»Blutbund«). Ihrem Glauben nach besteht ihre von Gott gegebene Mission darin, die Erde vom Bösen zu befreien. Sie glauben an die Urlehre der Mormonen über Blutsühne und daran, dass für Sünden mit dem Blut eines Menschen bezahlt werden muss. Wegen dieser beiden Glaubensüberzeugungen hat die Gruppe vor Ort ansässige satanische Gruppen infiltriert, um sie zu untergraben und Gegenrituale abzuhalten. Außerdem nehmen Gruppenmitglieder an sadistischen und masochistischen Ritualen teil, denn sie glauben, durch Leiden fänden sie zum Licht Christi und durch Aderlass würde man von seinen Sünden gereinigt.

Die dunkle Reise meiner Seele nahm ihren Anfang

1989 wurde ich zu einem Mädchen nach Hause eingeladen, welches mit mir in den Kindergarten ging. Ihr Vater war Mitglied eines satanischen Zirkels, und dort erregte ich die Aufmerksamkeit von Doc, der damals um die 50 oder 60 Jahre alt war. Er war Mitglied des Blood Covenant, was meine Mutter nicht wusste, und er hatte eine satanische Sekte in der Gegend infiltriert.

Jahre später wurde mir klar, dass Doc ein Soziopath mit multiplen Persönlichkeiten war; aber die einzige Persönlichkeit, die die meisten Mitglieder der Gemeinschaft, auch meine Eltern, sahen, war ein superintelligenter, charismatischer und erfolgreicher »Wohltäter«. Doch wegen seiner multiplen Persönlichkeiten führte Doc ein Doppelleben. Einerseits war er ein liebenswerter, kluger Gesundheitsexperte, der sich obsessiv mit dem Studium des menschlichen Geistes beschäftigte. Andererseits war er ein sadistischer Psychopath, der in seiner Freizeit an kultischen Ritualen teilnahm.

Ich weiß nicht, ob er und meine Eltern sich schon vorher kannten; auf jeden Fall entwickelte Doc eine obsessive Vorstellung, er müsste mich besitzen. Als ich eines Tages alleine mit meinem pinkfarbenen Huffy-Fahrrad herumfuhr, folgte er mir mit seinem Lastwagen, zog mich vom Rad herunter und vergewaltigte mich das erste Mal – in einem Gemeindehaus (Kirchenhaus) der Mormonen. Dann setzte er mich wieder aufs Fahrrad, aber ich blutete, hatte solche Schmerzen und war so geschockt, dass ich nicht fahren konnte.

Ich zog das Rad an den Straßenrand und lief in ein Feld, wo ich weiß Gott wie lange saß und das Gefühl hatte, meine Wirklichkeit wäre gerade zusammengebrochen. Ich dachte, das, was da gerade mit mir geschehen war, wäre eine Strafe, weil ich mit meinem Fahrrad um den Parkplatz des Gemeindehauses herumgefahren war. Bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, meine Eltern würden wie der Weihnachtsmann aus dem Nirgendwo herbeigesaust kommen und mich aus jeder Gefahr retten. Doch an jenem Tag erkannte ich, dass mich meine Mutter und mein Vater nicht vor allem schützen konnten und ich in einer sehr gefährlichen und brutalen Welt ganz alleine war. An diesem Tag endete meine Kindheit, und ich wurde auf eine verzerrte Art erwachsen; damals war ich gerade einmal sechs Jahre alt.

Von da an schaffte es Doc immer wieder, mich zu erwischen. Noch bevor ich sieben wurde, drängte er mich bei einer Reitstunde in die Ecke und stellte meine Welt erneut auf den Kopf. Er drückte mich an die Stallwand, drosselte mich und sagte mir, er wäre mein wirklicher Vater, ich sei ein Dämon, der die Stelle des wirklichen Kindes meiner Eltern eingenommen hätte, und dann warnte er mich: Sollte irgendjemand das herausfinden, würde man mich ihnen wegnehmen, und nur er könne mich vor diesem Schicksal bewahren.

Doc sagte weiterhin, wenn ich irgendjemandem erzählen sollte, wer ich wirklich war oder was er gesagt hatte, würde meine gesamte Familie getötet. Schon damals war ich ein stilles, starkes Kind mit viel Verantwortungsgefühl und meinte, das alles wäre meine Schuld, ich hätte an jenem Tag etwas Falsches getan und hätte das alles verdient. Meinen Eltern sagte ich kein Wort davon, denn es gab für mich keinen Grund, Docs Worten keinen Glauben zu schenken. Die Vorstellung, er würde an meiner Familie Vergeltung üben, wenn ich jemandem von ihm erzählte, wie er gesagt hatte, erschreckte mich zutiefst.

Mentor oder Opportunist?

Später in dieser Woche kam die stellvertretende Schulleiterin in mein Klassenzimmer und sagte mir, die Schule habe von meinen Eltern die Nachricht erhalten, ich würde nach dem Anwesenheitsappell abgeholt. Sie fragte mich, ob jemand mit mir zum Parkplatz gehen sollte, wo ich abgeholt würde. Ich verneinte, und nach dem Appell nahm ich meinen Rucksack, verließ die Schule und ging zum Parkplatz. Doch dort warteten nicht meine Eltern in ihrem Auto auf mich, sondern Doc in seinem Lastwagen.

Damit begann meine dreizehnjährige Leidenszeit rituellen, mentalen, emotionalen, physischen und sexuellen Missbrauchs. Heute sehe ich, wie sorgfältig Doc das alles inszeniert hatte. Er hatte sich systematisch Zugang zu mir verschafft und mich ohne Wissen meiner Eltern brutal angegriffen; jetzt musste er sich nur noch die bereits vorhandene emotionale Kluft zwischen meinen Eltern und mir zunutze machen. Pädophile Soziopathen sind Opportunisten, die es auf ausgegrenzte Kinder abgesehen haben.

Die fatale emotionale Dynamik zwischen meiner Familie und mir ermöglichte es Doc also, seinen Fuß in die Tür zu setzen und sich in mein Leben zu drängen. Er pflegte eine freundschaftliche Beziehung mit meiner Mutter, die er bereits durch die Gemeinde kennengelernt hatte; deshalb war das ganz einfach, und damit hatte er unbeschränkt Zugang zu mir. Er überzeugte meine Eltern, er wüsste alles über meine Art von außersinnlichen Fähigkeiten und wäre der perfekte Mentor für mich.

Docs kranker Plan ging auf; schon sehr bald war ich von ihm und seiner Anerkennung abhängig. Das ist auch als das sogenannte Stockholm-Syndrom bekannt. Ich glaubte tatsächlich, er wäre mein richtiger Vater. Ich glaubte alles, was er sagte. Meine Eltern hatten das Gefühl, ich würde wirklich Hilfe benötigen, und da war ein intelligenter Mann, der seine Hilfe anbot – ein Experte noch dazu, der mir leidenschaftlich gerne helfen wollte. Deshalb hatten meine Eltern Vertrauen zu ihm.

Meine Eltern machten sich nach wie vor Sorgen um mich und waren ziemlich verzweifelt, weil ich ständig unglücklich war und, wie sie sehr wohl wussten, keinerlei Freunde oder Freundinnen hatte. Inzwischen glaubten sie, dass mit mir ernsthaft etwas nicht stimmte, aber sie hatten keine Ahnung, was das war oder was sie hätten tun können. Sie sahen die roten Warnflaggen, aber interpretierten sie falsch, und während der Jahre, in denen ich in Docs Klauen war, wies ich viele aufschlussreiche Symptome auf.

Ich verletzte mich mit Ritzen; wenn ich also mit Verletzungen nach Hause kam, die mir Doc oder ein anderes Sektenmitglied zugefügt hatte, wurde das als Selbstverletzung abgetan oder als Unfall mit den Pferden. Wenn mein Verhalten wegen der Drogen, die Doc mir eingeflößt hatte, wirkte, als wäre ich geistig verwirrt, oder wenn ich geistig oder stimmungsmäßig wegen meiner übersinnlichen Fähigkeiten seltsam drauf war, lautete die Erklärung, ich hätte eine schizoaffektive Störung.

Wenn ich eine extreme Trennungsangst an den Tag legte, die weit über meinen derzeitig angemessenen Entwicklungsstand hinausging, und mich zurückzog und überhaupt keine Freundschaften schloss, schrieb man das meiner Schüchternheit zu. Wenn ich Essen in meinem Zimmer hamsterte, sagten meine Eltern, das wäre einfach nur eine Macke von mir. Und wenn ich nicht wie andere Kinder einfach spielte, sondern bei allen Aufgaben obsessiven Perfektionismus an den Tag legte, vor allem beim Sport, betrachteten sie das als Zeichen dafür, dass ich eine talentierte Perfektionistin sei.

Wenn ich dunkle, gestörte Gedichte verfasste oder verstörende Bilder zeichnete, meinten sie, ich sei überempfindsam und das wäre auf ein anderes Kind aus der Schule zurückzuführen, das missbraucht wurde. Meine ständigen bakteriellen Entzündungen und Harnwegsinfektionen, Migräneanfälle und die schlimmen Magenschmerzen, die mich ins Krankenhaus brachten, wurden meinem schwachen Immunsystem oder einem hormonellen Ungleichgewicht zugeschrieben.

Mit dreizehn wurde ich von einer Freundin meiner Mutter, einer examinierten Krankenschwester, untersucht, und sie entdeckte, dass mein Jungfernhäutchen nicht mehr intakt war. Sie fragte meine Mutter, ob ich bereits sexuell aktiv sei. Als meine Mutter das verneinte, erklärte sie das gerissene Hymen damit, dass ich seit Jahren ritt.

Wie konnte dieser fürchterliche Missbrauch unentdeckt bleiben?

Alle meine durch den Missbrauch hervorgerufenen Symptome als Kind und Teenager wurden also auf etwas anderes zurückgeführt, wie oben beschrieben, bzw. ich wurde als psychisch krank eingestuft. Meine Eltern dachten, ich hätte eine psychische Störung, die kein Psychologe oder Psychiater diagnostizieren konnte. Verstehen Sie mich richtig – mir wurden von jeder Menge Psychiatern und Psychologen Diagnosen gestellt, aber lauter unterschiedliche, denn meine Symptome passten zu keiner bestimmten psychischen Erkrankung.

Mehrere Male wurde von den Psychologen auch der Verdacht auf sexuellen Missbrauch in den Raum gestellt, aber nachdem weder mein Vater noch meine Mutter als Täter infrage kamen, mussten sie wohl oder übel nach anderen Erklärungen suchen. Kein Mensch konnte sich vorstellen, dass eine andere Person, der meine Eltern vertrauten, der Täter sein konnte. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand auf die Idee kam; das war für sie so abwegig wie eine Entführung durch Außerirdische.

Und die ganze Zeit hatte ich eine Riesenangst davor, Doc als Schuldigen zu nennen und mitzuteilen, dass ich komplett unter seiner Kontrolle stand. Je kränker und unglücklicher ich wurde, desto öfter kam er als »Retter in der Not« mit dem Vorschlag an, ich solle mehr Zeit mit ihm verbringen, er wüsste schon, wie er mir helfen könne. Aus Sicht meiner Eltern waren alle Erwachsenen um mich herum – einschließlich sie und Doc – ernsthaft darum bemüht, herauszufinden, was mit mir nicht stimmte, und eine Lösung zu finden.

So ließen meine Eltern zu, dass Doc immer mehr Zeit mit mir verbrachte, denn sie waren verzweifelt auf der Suche nach Hilfe und nach jemandem, der mir zeigen konnte, wie ich mit meinem ungewöhnlichen Gehirn klarkommen konnte. Ich glaube, die Vorstellung, er könnte dank seiner starken Kontrolle über mich das alles direkt vor der Nase meiner Eltern machen, verstärkte Docs Erregung zusätzlich. Wie ein Süchtiger musste er immer mehr Täuschungen und Risiken eingehen, um dieselbe rauschhafte Erregung zu empfinden. Dasselbe galt für seine Grausamkeit – was wiederum die Gefahr für mich und meinen Schrecken noch verstärkte.

Die Einzelheiten möchte ich Ihnen ersparen, nur so viel: Zwischen 6 und 19 Jahren wurde ich körperlich und sexuell in kultischen Ritualen gefoltert, vergewaltigt, mir wurde die Nahrung verwehrt, und ich wurde zu drei Abtreibungen gezwungen (Doc war in allen Fällen der Vater, und er führte auch die Abtreibungen durch). Es wurden sadomasochistische, pornografische Fotos von mir gemacht, die auf den Toiletten von Tankstellen an Männer verkauft und in Kellern und einem Loch im Boden auf Docs Hinterhof aufbewahrt wurden. Ich wurde mit Elektroschocks und Isolationsfolter gequält und über Nacht in Lavahöhlen im südlichen Idaho festgebunden.

In dieser Zeit wurde ich von Doc ständig narkotisiert; er war Tierarzt und hatte unbegrenzten Zugang zu diesen Mitteln. Doc jagte mich auf »Verfolgungsspielen« durch die Wildnis von Idaho und Utah, und wenn er mich fing, musste ich entsprechend büßen (er brachte mir Schnitte am Brustkorb bei oder vergewaltigte mich). Und ich diente ihm als Köder für andere Kinder, die verletzt und manchmal auch getötet wurden.

Durch einen Fehler öffnet sich die Tür in die Freiheit

Mit 19 war ich nur noch eine leere Hülle. Ich war eine sogenannte Ritzerin und die meiste Zeit dissoziiert. Ich hatte Selbstmordversuche unternommen und war nach wie vor suizidgefährdet. 13 Jahre lang hatte ich geglaubt, meine Familie wäre nicht meine wirkliche Familie und mein Leben mit ihr wäre eine Fassade. Ich lebte mit dem Schuldgefühl, ich hätte ihrem wirklichen Kind sein Leben weggenommen. Ich hielt mich für schlecht und dachte, wenn ich jemandem von meinem »wahren Leben« mit Doc erzählte, würden sie alle brutal umgebracht.

Meine Eltern hatten alles versucht, Hilfe für mich zu finden; sie waren erschöpft, verwirrt und völlig machtlos, wussten nicht, was sie mit mir machen sollten, und so hatten sie mehr oder weniger aufgegeben.

Doch als ich 19 Jahre alt war, machte Doc einen Fehler – den ersten in 13 Jahren. Und zwar dosierte er eines der Betäubungsmittel, die er mir verabreichte, falsch. Er wollte mich so mit Drogen vollpumpen, dass er mich davon überzeugen konnte, ich hätte etwas getan, was ich gar nicht getan hatte. Doch durch die falsche Dosis erinnerte ich mich daran, dass das, was er mir da einreden wollte, nicht stimmte.

Irgendwann war mein Kopf klar genug für den Gedanken: Wenn Doc da gelogen hat, was hat er mir dann wohl sonst noch für Lügen aufgetischt? Der einzige Grund dafür, dass er mir einreden wollte, ich hätte etwas getan, was ich gar nicht getan hatte, bestand darin, mir so viel Angst einzujagen, dass ich total machtlos und abhängig war. Diese Erkenntnis kam mir nach der Fehldosierung, und so hatte ich schließlich die Chance, die Flucht zu ergreifen, und die nutzte ich.

Noch in derselben Nacht floh ich zu einem Mann, den ich nur zweimal vorher getroffen hatte. Er hieß Blake, und ich hatte ihn kennengelernt, als meine Mutter versuchte, mein nicht vorhandenes soziales Netzwerk zu erweitern. Sie war in Kontakt mit einer Familie, deren Sohn (nicht Blake, sondern ein anderer Junge) eine bipolare Störung diagnostiziert worden war. Meine Mutter dachte, wenn ich zu einem anderen psychisch gestörten Teenager eine Beziehung aufbauen könnte, würde ich mich weniger einsam fühlen.

Ich war mit diesem neuen Bekannten zu einer Party gegangen, und als ich die Haustür aufgemacht hatte, wo die Party stattfand, hatte mich ein enthusiastischer, gertenschlanker junger Mann mit einem »Hallo« begrüßt, war in die Luft und über das Geländer in die Büsche gesprungen. Ich dachte damals: Was für ein Idiot.

Doch als er wieder ins Haus zurückgekommen war und wir zum ersten Mal Augenkontakt hatten, waren seine Augen und seine Essenz so durch und durch sanft und er mir so vertraut, dass wir in dieser Nacht unzertrennlich waren. Irgendwann gingen wir mit ein paar anderen zum Nacktbaden in einen Stausee, und ich verspürte eine greifbare Kameradschaft. Ich wusste: Dieser Mann war so rein und unschuldig, ich konnte ihm vollkommen vertrauen.

In der Nacht also, als ich Docs Kontrolle entkam, war Blakes Haus der einzige sichere Ort, der mir einfiel. Ich war zuvor erst einmal dort gewesen, als er mir seine »Hacky Sac«-Sammlung zeigen wollte. Blake und auch seine beiden Mitbewohner waren in dieser Nacht nicht zu Hause. In meiner Verzweiflung brach ich durch ein Fenster ein, und die einzige Möglichkeit, mit meiner Not fertig zu werden, bestand für mich darin, mich zu ritzen.

Als Blake nach Hause kam, fand er mich zu seinem großen Entsetzen in seiner Badewanne, während Blut den Abfluss hinunterlief. Er machte mich sauber, verband die Schnitte und sagte, ich solle bei ihm bleiben. Und genau das tat ich. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, Doc für immer zu entkommen; diese Möglichkeit kam mir gar nicht in den Sinn. Aber ich blieb einen Tag bei Blake, und dann noch einen, bis schließlich eine Woche und dann ein ganzer Monat vergangen waren. Ich wollte nie mehr zurück. Ich versteckte mich.

Bei Gelegenheit erzählte ich meinen Eltern, bei wem, aber nicht, wo ich war. Anfangs wusste Blake nicht, warum ich offensichtlich so beunruhigt und gequält war, und zum Glück fragte er mich auch nicht danach. Aber er sorgte so treu und hingebungsvoll für mich, dass es mir allmählich besser ging und ich langsam aus meiner emotionalen Hölle herausfand.

Befreie dich durch Selbstliebe

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