Читать книгу Naturfaktoren im Sozialleben - Tekla Reimers - Страница 4

Einleitung

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„Ihre sozialistischen Ideale in allen Ehren," sagte mein Doktorvater zur studentischen Rebellion von 1968, "aber die Menschen sind nun mal nicht so." Ging es um Ideale? Mit den Genossen vom sozialistischen deutschen Studentenbund (SDS) hielt ich mich an die ökonomischen und historischen Analysen von Karl Marx oder auch Friedrich Engels, dessen Abhandlung "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" wir gerade lasen. Im Erfolgstaumel unserer internationalen Jugendrevolte waren wir überzeugt, dass sozialistische Gemeinwirtschaft - unter Herrschaft der arbeitenden Bevölkerungsmehrheit - mit dialektischer Gesetzmäßigkeit, auf die kapitalistische Produktionsweise folgen würde. Viel später hörte ich den Grundgedanken zur Untauglichkeit des Menschen für einen egalitären Sozialismus wieder, diesmal von Berthold Brecht, einer Autorität kommunistischen Kulturschaffens. Während seiner letzten Lebensphase in der DDR (Deutschen Demokratischen Republik) wies er auf eine anthropologische Lücke der sozialistischen Theorie hin. Diese späte Einsicht des weltberühmten Dichters ist weit weniger bekannt geworden als sein geflügeltes Wort aus der Drei-Groschen-Oper: "Wir wären gut, doch sind wir roh, / denn die Verhältnisse, die sind nicht so." Immer wieder stellt sich bei politischer Gestaltung menschlicher Sozialsysteme die Frage nach der sozialen Natur des Menschen und den Umwelteinflssen. Warum haben sich die angestrebten egalitären Gesellschaften, ohne Ausbeutung abhängig arbeitender Bevölkerung durch luxuriös konsumierende Oberschichten, nirgends dauerhaft verwirklicht?

Das behavioristische Paradigma, demgemäß Menschen unbegrenzt konditionierbar und lernfähig sind, beherrscht seit einem halben Jahrhundert die Diskurse in Wissenschaft und Politik. Für unser individualistisches Zeitalter und Verhaltensanpassungen in offenen Gesellschaften mit durchlässigen Hierarchien eignet sich diese Theorie hervorragend. Doch die Epoche wird nicht ewig dauern und neigt sich bereits ihrem Ende zu. Während der bekannten Weltgeschichte lebten die meisten Zivilisationsmenschen in strikt hierarchischen Sozialverbänden großer Staatsgebilde. Freie Individuen gab es historisch vornehmlich bei Jägern und Sammlern, aber auch in den Oberschichten hoch kultivierter Gesellschaften sowie an deren Rändern. Wie sieht die erbliche Veranlagung der Spezies Homo sapiens zur Vergesellschaftung eigentlich aus - Inklusive aller Lernfähigkeiten und neuronalen Voraussetzungen zur nachhaltigen Prägung von Verhalten.

Seit der Altsteinzeit lässt sich in menschlichen Gruppierungen einige Übereinstimmung mit der natürlichen Evolution von Hierarchien sozialer Raubtiere aufzeigen. Mit Hundeartigen vor allem. Bis zum heutigen Tag eignet sich der Hund so hervorragend als Gefährte des Menschen, weil seine Urahnen, die Wölfe, einer sozialen Selektion in Jagdrudeln unterworfen waren, welche auch die menschliche Natur formte. Underdogs in Hunde- und Menschengestalt bringen diese Übereinstimmungen auf den Begriff. Lerndispositionen und Triebnatur der ursprnglicheren Hunderassen bedürfen nahezu sozialer Rangfolgen für eine artgemäße Entfaltung ihrer Individuen. Solche Hunde sind biologisch prädestiniert für ein Leben in hierarchischen Sozialverbänden und blühen darin auf. Bei solitärer Lebensweise, zum Beispiel als einsame Wölfe, werden sie von Angst gepeinigt, aggressiv und unglücklich. Menschen machen sich die biologisch gegebenen Eigenschaften dieser Spezies zu nutze und sozialisieren ihre Familienhunde mit einer menschlich-hündischen Zwitter-Identität. So kann der Hund einen unteren Rang im familiären Rudel ausfüllen, Babies bewachen und als Sündenbock oder Blitzableiter bei Konflikten herhalten. Auf jeden Fall verschaffen folgsame Hunde ihren Gebietern eine gefühlte Rangerhöhung.

Heutzutage drängen sich auch Analogien zwischen Insektenstaaten und der postmodernen Industriegesellschaft auf. Ein afrikanischer Schriftsteller (Xinua Achebe) nannte seinen zeitgenössischen Roman über die vielschichtige Gesellschaft großer Städte: "Termitenhügel". (Ein scheinbar aus der Natur herausfallender Pyramiden-Bau, wie auf dem Cover-Foto abgebildet.) Offenkundig wirkt die Menschheit zur Zeit als eine ziemliche Pest auf Erden. Anscheinend vernichtend. Sie zerstört wo immer sie sich ausbreitet, das ökologische, natürlich gewachsene Gleichgewicht der Lebewelt. Mittlerweile nicht nur regional, sondern global, weltweit. Und sie setzt kaum etwas Besseres anstelle der vernichteten Natur: Betonsilos, Asphaltbahnen, Fabrikschlote, Atommeiler und Plastikmüll, wobei die künftigen Verwüstungen durch künstliche, gentechnisch manipulierte Spezies noch gar nicht bedacht wurden. Weil nicht absehbar.

Vielleicht ließe sich die Evolution menschlicher Sozialsysteme weniger zerstörerisch gestalten für natürliche Systeme unseres Planeten, wenn ihre biologisch gegebene Dynamik durchschaut würde. Eine vergleichende Betrachtung von Konkurrenz und Kooperation, hierarchischen und egalitären Bedürfnissen sozialer Tiere kann dafür Anhaltspunkte bieten. Der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz beschrieb 1973 mit seiner Abhandlung "Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit" - aus konservativer Perspektive - wie die kapitalistische Konkurrenz, Hast, Gier und Jagd nach Geld das biologische Einzelwesen der Spezies Homo sapiens ruiniert und krank macht. Auch seinen Lebensraum vernichtet. Allergien und Autoimmun-Krankheiten, Magen-Darm-Leiden, Krebs, Depressionen u.a. sind mitverursacht durch seelische ワberforderung unter den unbersichtlichen, aber ständig verschärften Konkurrenzbedingungen im globalisierten Spätkapitalismus. Während Konrad Lorenz in der modernen Zivilisation keine Faktoren ausmachen konnte, "die einen Selektionsdruck auf die Entwicklung [...] sozialer Verhaltensnormen ausüben", ergeben sich aus prinzipiell fortschrittlicher Perspektive betrachtet - ohne Verteufelung innerartlicher Konkurrenz oder marxistischer Theorie - durchaus Anzeichen für eine Evolution zu weiter entwickelter Sozialität des Menschen. Wenn auch nicht unmittelbar als kollektives Bewusstsein oder allgemein mitmenschliche Solidarität, so doch in Form von zunehmender Kommunikation - mehr oder weniger aufrichtig! Mittlerweile sogar digital, als globale Netzwerke.

Die Dynamik natürlicher Selektion langlebiger Sozialverbände, die Generationen überdauern, wurde an den Zwangsgemeinschaften von Individuen der Insekten erst in den letzten Jahrzehnten evolutionsbiologisch erklärbar. Unter ihnen entstanden mehrfach eusoziale Spezies: Wespen- und Bienenvölker, Termiten- und Ameisenstaaten sind seit langem allgemein bekannt. Die Gesetzmäßigkeiten von Darwins natürlicher und sexueller Selektion werden im Folgenden herangezogen sowie die neueren soziobiologischen Theorien, wobei generell die lebendigen Individuen, also 'specimen' (Artgenossen) mitsamt ihren individuellen Genomen, als Einheiten der Selektion gelten. Besonders wichtig sind Gesetzmäßigkeiten von Sippenselektion (kinselection) und Elterninvestitionen für die natürliche Evolution persönlicher Bindungen sowie soziale Selektionsmechanismen der Gruppenbildung, mit oder ohne Hierarchieevolution.

Wegen artgemäß beschränkter Wahrnehmung, können Menschen die Realität der physikalischen und chemisch-biologischen Welt nicht in ihrem ganzheitlichen Sein erkennen. Was wir erfahren ist immer nur ein Konstrukt unserer Gehirne, aufgrund von Sinnesreizen und deren Interpretation. Beides auch noch gefiltert, subjektiv verzerrt durch Gefühle und frühkindlich geprägte Raster der Wirklichkeitserfassung in Bildern, Worten sowie Satzgebilden. Wissenschaftler werfen Theorien über das Verborgene menschlicher Wahrnehmung, wie Fischer Netze ins Meer. Die damit ihrer Einsicht zugänglich gemachten Tiere, Pflanzen oder allgemein 'Forschunsobjekte' sind aus ihrem existenziellen Zusammenhang gerissen, sodass sie wesentlich unverstanden bleiben. Aber immerhin gelangt auf diese Weise etwas davon ins menschliche Bewusstsein. Es ergibt sich ein Eindruck davon, was in den Meerestiefen, unter der spiegelnden Oberfläche natürlich vorkommt. Der Philosoph David Hume spricht von 'impression of sensation' in seinem Buch "A Treatise of Human Nature" (1739 / 40). Unvollständig bleibt menschliches Wissen dabei immer, schon weil nur Objekte erfasst werden, welche nicht durch die Maschen der verwendeten Theorie-Netze schlüpfen. Oder philosophisch mit Tomas Kuhn gedacht: in zeitgemäße Theorien passen.

Die folgenden Einsichten zur sozialen Natur des Jetzt-Menschen sind mittels neodarwinistischer Theorie und reflektierender Urteilskraft gewonnen. Immanuel Kant sieht deren Leistungen insbesondere darin, für die Erklärung einer Reihe von Einzelfällen eine passende allgemeine Regel zu finden. ,Abduktion' wie der amerikanische Zeichentheoretiker Charles Sanders Peirce diese Schlussform menschlichen Denkens nannte, ergibt keine zwingenden Zusammenhänge, aber wahrscheinliche. Bei großen Anzahlen sind diese auch statistisch erfassbar und also den maschinellen Auswertungen per Computer zugänglich. Die Vielfalt der Welt lässt sich damit, aufgrund von Ähnlichkeiten, in Mustern wahrnehmen und erkennen. Viele Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte - insbesondere aus Anthropologie sowie Archäologie - ermöglichen durch abduktive Schlussfolgerungen die Zusammenhänge von gesellschaftlicher Humanevolution und lebendigen Grundlagen zu erkennen. Dabei ergeben sich kaum Beweise im Sinne exakter Naturwissenschaft, aber doch biowissenschaftliche Erklärungen sozialer Phänomene, deren regelmäßig beobachtete Wiederholungen bei Tieren und in Gesellschaften des Homo sapiens, biologische Begründungen nahe legen. Natürliche Entstehungsgeschichte und Selektionsbedingungen für soziale Spezies im Tierreich können im Hinblick auf ihre analog (umweltangepasst) und homolog (genetisch bedingt) ähnlichen Eigenschaften zum Jetzt-Menschen verstanden werden. Von daher lassen sich auch Entwicklungstendenzen und Möglichkeiten der postmodernen Industriegesellschaft absehen.

Hume (und meiner akademisch philosophierenden Tochter Melusine) verdankt diese naturphilosophische Betrachtung eine grundsätzliche Vermeidung von Sein-Sollen-Fehlschlüssen - wie sie fast typisch erscheinen für naturwissenschaftliches Denken. Naturhistorisch entstandene Eigenschaften einer Spezies müssen nicht immer so sein und lassen sich modifikatorisch bis zur Unkenntlichkeit abwandeln. Werden auch durch Selektion sowie Mutationen über die Generationen hin verändert - bei Katastrophen manchmal sogar schnell - insbesondere für Menschen, die sich selbst und ihre Umwelt gestalten können. Im Rahmen der Naturgesetze selbstverständlich. Philosophischen Vorgaben folgend, verwendet diese Abhandlung den Begriff Natur für Strukturen, Dinge, Lebewesen und Verhaltensweisen, mitsamt den motivierenden Gefühlen, welche von selbst entstehen. Spontan. Für Menschen bedeutet das vor allem den körperlichen Organismus mit seinen lebenswichtigen Funktionen, wie trinken, essen, schlafen zum Überleben und fruchtbarer Sexualität zur Nachkommenausbreitung in die Zukunft. Dafür nicht zuletzt auch elterlicher Fürsorge.

Naturfaktoren im Sozialleben

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