Читать книгу Liebesleben und Geschlechterkampf - Tekla Reimers - Страница 4
2. Erzählung I: Alix wächst heran und überschreitet die weibliche Rolle.
ОглавлениеWenn ich meine Haare abschneide, immer Hosen trage und auf Bäume klettere, könnte ich doch auch ein Junge werden, dachte Alix, reiten und kämpfen kann ich genauso gut wie die. Ich werde einfach der Sohn sein, den mein Vater sich wünscht! Mit zehn Jahren war ihr noch niemals die Idee unüberwindlicher Geschlechtsunterschiede gekommen. Sie fühlte sich stark und groß genug, es mit den meisten Jungen ihrer Klasse aufzunehmen. So klug wie die war sie allemal. Was ihr noch fehlte, würde sie schon lernen.
In ihrer kleinen Stadt, an der großen Straße nach Norden schien nahezu jedes Unglück letzten Endes vom verlorenen Krieg herzurühren. Wie Alix vermutete, lag dort irgendwo auch die dunkle Ursache dafür, dass ihr Vater nur Töchter bekommen hatte: Als er in den II.Weltkrieg ziehen musste zeugte er Margarete, die Älteste. Clarissa nachdem er aus der Schlacht um Stalingrad mit knapper Not entkommen war und schließlich sie selbst, Alix, kurz nach seiner Heimkehr aus amerikanischer Gefangenschaft. Ihre Mutter hatte schrecklich gelitten, allein mit zwei kleinen Kindern: unter der Angst vor Bomben, der Sorge um ihren Mann, dem vollkommenen Mangel an allem, was das Leben angenehm machte. – Doch Alix’ Vater war mit dem Ergebnis all der Mühsal überhaupt nicht zufrieden.
Nach ihrem Entschluss ein Sohn zu werden, benahm Alix sich so frech und laut, wie irgendein Junge. Das ging ein, zwei Jahre ganz gut, dann wurde sie im Schulunterricht, zweimal kurz hintereinander, getadelt. Beim dritten Mal bekämen die Eltern eine Nachricht, von wegen „nicht tragbar für ein Gymnasium“.
Der Vater fand höhere Bildung für seine Töchter sowieso unnötig. „Mädchen heiraten ja doch“, sagte er und hoffte insgeheim auf Schwieger- und Enkelsöhne für seine Firma, die traditionsreiche Holzhandlung ‚Schulz und Söhne’. Deshalb suchte er unter seinen Töchtern schon lange dringend nach einer Kandidatin fürs Büro. Alix‘ vorzeitiger Schulabgang käme ihm gerade recht und er könnte sie zwingen ihre Ausbildung bei ihm als Buchhalterin zu machen. Da steckte sie lieber erst mal zurück.
Indessen herrschte Alix’ Mutter im Hause der Familie Schulz. Sie bestimmte über Essen und Kleider, Kinder und Dienstboten. Ganz wie Friedrich Schiller in seinem Nationalepos bürgerlicher Gesittung dichtete: „Drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder...“. Solange Köchin, Waschfrauen und Kindermädchen finanzierbar waren, blühte diese Art innerfamiliäres Matriarchat. Die Mutter führte ihren Haushalt, indem sie Anweisungen gab, wie gekocht, wie gewaschen und wie ihre drei Kinder versorgt werden sollten.
Bevor Alix eingeschult worden war, während die beiden älteren Mädels bereits zur Grundschule mussten, hatte die Mutter für sich und ihre jüngste Tochter das Frühstück im Salon auftragen lassen. Gemütlich tranken sie ihren Tee mit Milch, plauderten, die Mutter warf einen Blick in die Zeitung. Danach gingen sie zur Schneiderin, manchmal zum Frisör oder machten Besorgungen in der Stadt. In ihren hübschen Kleidchen, mit einer blassblauen Schleife in den blonden Locken, fühlte sich Klein-Alix an der Hand ihrer Mutter, wie eine Prinzessin.
Dies bürgerliche Glück hatte allerdings nicht lange gedauert: Das letzte Dienstmädchen verschwand ersatzlos Anfang der Sechzigerjahre, denn das deutsche Wirtschaftswunder bot von da an auch ungelernten weiblichen Arbeitskräften besser bezahlte Jobs in Industrie und Gewerbe. Alix’ Mutter stand dann selber am Herd und am Waschzuber. Alles Übrige mussten die Töchter tun: putzen, bügeln und backen, einkaufen, Hund und Viehzeug füttern, Hühner, Gänse, Enten, außerdem die Gartenarbeit für Gemüse, Kartoffeln, Obst. Als Jugendliche schufteten die Mädels wie Mägde.
So verlebte Alix ihre Kindheit in einer Welt von Frauen: Was ihre Mutter, die Schwestern und Dienstmädchen taten, wollten oder auch nur dachten, bestimmte den Gang ihrer Tage, wurde zum Maßstab ihres Menschenbildes. Denkanstöße, Inspiration, praktische Kenntnisse und Handlungsvorgaben erhielt sie von diesen Frauen. Alles, was im Hause passierte geschah durch ihre weibliche Tätigkeit.
Zwar setzte der Vater den materiellen Rahmen des tagtäglichen Frauenregiments in Alix’ Familie: durch das verfügbare Haushaltsgeld und seine geschäftliche Tüchtigkeit im Holzhandel bestimmte er über ihren sozialen Status in der Kleinstadt. Doch blieben diese männlichen Voraussetzungen familiärer Existenz dem Ablauf des Alltags weitgehend äußerlich. Sein patriarchalisches Normenkonzept aus deutsch-nationaler Vergangenheit wirkte eher herausfordernd als ehrwürdig auf die Nachkriegsgeneration. Clarissa machte sich einen Sport daraus es zu unterlaufen, Alix schliff ihren rebellischen Geist daran es zu hinterfragen. Die Mutter half ihnen dabei. Sie hatte selbst eine höhere Schule besucht, ihr Abitur glänzend bestanden und von einem akademischen Beruf geträumt - vor der Ehe. Nun hasste sie den nimmer-endenden Stumpfsinn ihrer nichtsdestoweniger notwendigen Hausarbeit.
Daher mochte es kommen, dass Alix den ‘Menschen an sich’ ganz selbstverständlich weiblich dachte. Ob sie nun über Halbgötter wie Herakles, den trojanischen Krieger Hector oder einen Indianerhäuptling las, sie bemerkte keinen Wesensunterschied zu sich selbst und nahm die Helden - quasi ohne Ansehen des Geschlechts - als persönliche Vorbilder. Allerdings faszinierten sie noch mehr die Märchen und Legenden von Frauen, die ihre Abenteuer in einer Männerrolle bestehen: Amazonen, Walküren oder als Söhne verkleidete Königstöchter. Daran änderten auch monatliche Blutungen nichts, die sich bei Alix mit 13 regelmäßig einstellten. Sie musste dann 5 Tage lang lästige Polster aus Zellstoff zwischen den Beinen tragen – wie ihre älteren Schwestern. Alle Frauen eigentlich. Meist witzelte sie mit Clarissa über solche ‚lustigen Tage’ und nutzte die Gelegenheit körperliche Anstrengungen zu verweigern – Sport, schwimmen, schwere Arbeiten mit Haushaltslasten, Viehzeug oder Gemüseanbau.
In der kleinstädtischen Langeweile ihrer Pubertätsjahre träumte sie sich als weiblichen Winnetou mit langen, goldenen Haaren, niederfallend bis zur Hüfte, und blitzblau strahlenden Augen. Sie fantasierte sich in eine Wildnis, wo sie allein lebte: Ihre Blockhütte stand versteckt in einem unzugänglichen Tal; es gab ein murmelndes Bächlein worüber sich eine riesige Trauerweide wölbte. Ihre Zweige reichten ringsherum bis zur Erde nieder und bildeten eine grüne Höhle. Daneben graste ihr weißes Pferd. Sie war schlank und hoch gewachsen, mit Mokassins an sehr langen Beinen und einem Jagdanzug aus weichem, braunem Wildleder, wie ein Indianer. Viele Jäger und Kundschafter des wilden Westens hatten diese rätselhafte Gestalt flüchtig zu Gesicht bekommen. Keiner wusste wer sie war.
Als die wirkliche Alix vierzehn Jahre alt wurde, fand schließlich ein erträumter ‘Old Shatterhand’ den Weg zu ihrem wilden Garten Eden. Er war hingerissen und irgendwie musste es zu einem alles auflösenden Kuss kommen - aber dann wusste sie nicht weiter und eigentlich auch nichts Rechtes mit ihm anzufangen. So endete ihre Tagträumerei.
Damit ihr Mädchentraum wahr werden könnte, beschloss Alix reiten zu lernen. Bei einem benachbarten Bauern gab es Pferde und ihr Vater brachte seiner 3.Tochter das Nötigste bei an Kenntnissen und Fähigkeiten, welche noch aus seiner Militärzeit in der Kavallerie stammten. Bald durfte Alix als Pferdepfleger und Bereiter beim Nachbarn mithelfen, wann immer Schule und Hausarbeit ihr Zeit ließen. Sie liebte diese starken, empfindsamen Tiere und durchstreifte in den folgenden Jahren mit ihnen die ländliche Umgebung ihrer Heimatstadt.
Nach dem Abitur wollten Alix’ Klassenkameraden etwas Konkretes werden: Arzt, Lehrer, Rechtsanwalt oder wenigstens Großverdiener. Sie aber glaubte, nun stünde die Welt ihr offen. Die Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz wollte sie erleben: Algeriens Sonne und Norwegens Eis. Dies gerade, weil sich ihr geistiger Horizont von ganz links nach ganz rechts erstreckte, über eine christlich-buddhistische Mitte, in Anlehnung an Hermann Hesse. Denn die Bücher von Sartre, Camus und Brecht hatten sie genauso beeindruckt wie Romane von Knut Hamsun und Friedrich Nietzsches philosophische Schriften. Darüber hinaus war Alix zu der festen Überzeugung gelangt, dass der Mensch auf dieser Welt sei, um sich nützlich zu machen, damit alle genug zu essen hätten und eine warme Wohnung. Etwas unbestreitbar Nützliches zu tun, ein zukünftiger Broterwerb und die weite Welt in Afrika oder Asien zu erleben, schien ihr durch ein Studium der Agrarwissenschaften erreichbar. Außerdem hatte sie beim Galoppieren über sonnige Felder, ‚auf dem Rücken der Pferde’, ihr höchstes Glück empfunden.
Alix ergriff somit einen Männerberuf. Als Praktikantin der Landwirtschaft auf einem Versuchsgut der regionalen Universität lernte sie Kühe melken, Schweine mästen, Trecker fahren, mähen und pflügen. Das konnte sie schließlich alles gut machen, nur blieb sie merkwürdig unpassend für solche Arbeiten. Die Bedienungshebel waren zu klobig für ihre kleinen Füße und zu schwergängig für ihr Gewicht. Mit 1,65m war Alix nun ausgewachsen und mittelgroß, wohl muskulös, doch von eher zierlichem Körperbau.
Oft waren ihre Kraftreserven schon mittags erschöpft und sie schlief auf dem erstbesten Stuhl im Sitzen ein. Als Treckerfahrerin schaffte sie ebenso viel wie ihre - sämtlich männlichen - Kollegen, aber mit der Forke, der Schaufel oder Sackkarre höchstens die Hälfte. Wenn etwas mit der Hand zu laden war - Futter, Mist, Kunstdünger oder was eben anlag - wurde sie häufig gebeten, lieber für Unterhaltung und Bier zu sorgen. Auf dem großen Gutshof, wo Alix ihr praktisches Lehrjahr absolvierte, mochten solche Mängel an Körperkraft noch durchgehen, aber ein normal rechnender Bauer hätte sie sicher nicht eingestellt.
Manchmal fragte Alix sich, ob sie einfach zu klein geraten sei für die Landarbeit oder ob es einer Frau prinzipiell unmöglich wäre in einem Männerberuf mitzuhalten. Sind weibliche und männliche Körper gleich groß und stark, gleich begabt für den Lebenskampf und körperliche Arbeit?