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4. Erzählung II: Alix‘ Schwestern suchen den Mann fürs Leben

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Liebe herrschte in den Köpfen der drei Schwestern als eine Form von Platons Ideal: Weib und Mann als zwei Hälften eines Ganzen. Vielleicht sogar individuell füreinander geschaffen? Zusammen erst ein vollständiger Mensch. Sie stellten sich das ungefähr so vor, wie Friedrich Schiller:„...und plötzlich fühlt ich klar es in mir werden, die ist es oder keine sonst auf Erden!“

Demnach konnten sie ganz unbesorgt warten auf dieses Zusammen-gefügt-werden mit dem extra angefertigten Vorherbestimmten. Bis es so weit war, verliebten sie sich häufig, heftig und am besten auf Blickentfernung. Jahrelang umspannen sie interessante Schulkameraden, Tennispartner oder schöne Bauarbeiter mit erotischen Fantasien, sehnten sie herbei und schlugen sie beim geringsten realen Annäherungsversuch mit bösen Scherzen in die Flucht.

Dies widersprüchliche Verhalten hatte seine Gründe: In ihrer kleinen Stadt konnte nichts passieren, ohne dass jeder davon erfuhr: Spazieren gehen mit einem Verehrer, gar herum knutschen - nichts entging der strengen Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Was sie nicht selber sahen, wurde ihnen sicher zugetragen. Sex gab es erst nach der Heirat und auch darüber wurde nicht gesprochen.

Als doch einmal ein verliebter Klassenkamerad die älteste Schwester von der Schule nach hause begleitete, drohte ihr Vater seinen Schäferhund loszulassen: „So was kommt mir nicht auf den Hof“. Das sollte allen anderen eine Lehre sein, zogen doch bereits die Leute über ihn her: „Lieber einen Sack Flöhe hüten, als drei hübsche Töchter!“

Was blieb den Mädels übrig als warten? - Auf den Schulabschluss, nicht mehr die Füße unter Vaters Tisch stellen zu müssen; wegziehen können aus der Kleinstadt, studieren, eine eigene Bude haben, endlich 21 werden und mündige freie Bürger. Das schien ein unabsehbar langer Weg für Eine, die siebzehn ist und heiß.

Die Mittlere der Schwestern, Clariss - wie sie sich nun nannte, weil es französisch klang - setzte sich prinzipiell über alle Regeln hinweg, auch die sexuellen Tabus ihres Vaters. Sie trug kilometerlange Fingernägel in schreiendem Rot und klimperte mit den grün getuschten Wimpern ihrer Lidstrich gesäumten Augen, ließ weiße Spitzenunterröcke blitzen und schwere Silberarmbänder klirren. Das nachtschwarze Haar zu einem Berg von Löckchen und Fransen kunstvoll aufgetürmt - da der viel schickere Bubikopf ihr strikt verboten war - wirkte sie im Kleinstadtmief wie ein schwarzer Stern. Exotisch, extravagant, das dunkle Mädchen: Stundenlang schwamm sie in kochend heißem Badewasser herum, lief splitternackt durchs Haus, schleppte Katzen und Hunde zum Kuscheln ins Bett, später auch ihre Schwestern,.

Der Vater wollte sein sauer verdientes Geld nicht für Klamotten rauswerfen. Deshalb befasste sich Clariss mit Mode und lernte, unterstützt von der Mutter, nähen. Bald machte sie ihre Kleider so eng wie sie wollte, ihre Ausschnitte tief, ihre Röcke aufreizend kurz.

Und es funktionierte: Ein fertiger Ingenieur mit Auto und gehobenem Einkommen, stellte sich auf einem Familienfest ihren Eltern als ernsthafter Bewerber vor. Seine Frau würde einmal Köchin und Putzfrau haben. Nicht dass er Clariss sonderlich gefallen hätte, aber er durfte sie, mit elterlicher Erlaubnis, am Wochenende ausführen, dafür nahm sie wenig körperliche Attraktivität und seine bornierte Langeweile in kauf.

Während ihrer letzten Schulferien reiste Clarissa ans Meer. Am Strand jobbte ein Holländer als Aufsicht: Adrian van Leuwen, dem sämtliche Frauenaugen folgten, wenn er Strandkörbe aufstellte, Signalflaggen hisste, das Rettungsboot zu Wasser ließ. Sein Körper glich einer klassischen Statue, sein Gesicht einem Erzengel, trotz oder auch gerade wegen der wilden Locken drum herum. Clariss war hingerissen von der hoch gewachsenen Gestalt. Seine wunderbar langen Beine, die schmalen Hüften und starken Schultern fand sie einfach unwiderstehlich.

Im Abendrot trug er sie den Strand entlang zu seiner Hütte zwischen den Dünen. Beim Schein der Petroleumlampe erzählte er von seinem Traum: Er wollte ein Segelschiff bauen, groß genug zum Wohnen und seetüchtig, um die Weltmeere zu befahren. Wo es ihm gefiele, da wollte er bleiben - vielleicht in Indien.

„Oder auf den glückseligen Inseln hinter dem Winde“, schlug Clariss vor. Adrian war der erste Mann, in den sie sich so Hals über Kopf verliebt hatte.

Morgens saß sie allein am Strand, blickte träumerisch in die Weite der grenzenlosen See und sprach mit sich selbst: „Ach, Adrian! Warum muss ich mich in dich verlieben? Ich will nicht, dass mein Freud’ und Leid von einem Unbekannten abhängen.“ Was weiß ich denn von ihm, dachte sie weiter, ich kann seine Art zu leben nicht begreifen. Ich kenne diesen Menschen doch kaum. Soll ich denn nur froh sein können, wenn er da ist? Und das ist er ja eigentlich eher selten. Ständig hat er was Besseres vor! Er liebt mich nicht, befand sie schließlich. Er hat eine schöne Zeit mit mir, so wie mit vielen anderen Frauen vorher - und sicher auch nachher wieder, wenn ich nach hause fahre. Ich bin allein, auch wenn er bei mir ist.

„Ach“, seufzte sie nach einer Weile tiefen Sinnens, „ich will gar nichts von ihm. Nur ihn leben sehen, ihn fühlen jetzt: sein Gesicht, den Blick seiner unergründlichen Augen, seinen Mund, wie er lacht und atmet, die Bewegungen seines Körpers - seinen Schlaf sogar“. Fast die ganze Nacht hatte Clarissa ohne Decke gelegen, weil sie sich nicht traute die von ihm weg zu ziehen. „Ich wage nicht, ihm meine Liebe in den Weg zu stellen“, überlegte sie weiter, „diese furchtbare Angst, er will mich nicht wirklich!“

Tatsächlich war Clariss von nun an jeden Abend bei ihm, ein paar mal sogar über Nacht. Todmüde durch eine wilde Tanzerei, waren sie irgendwann einfach zusammengeblieben. Zwischen nacht und morgen hatte Adrian versucht hineinzukommen in ihren Schoß. Doch bei einer Jungfrau landet man nicht so leicht: Sein Erguss blieb außen vor.

Am Morgen danach, als Clariss noch im Halbschlaf dämmerte, war Adrian schon putzmunter und sexuell stark drauf. Trotzdem konnte er nicht gänzlich eindringen, auch beim zweiten Anlauf nicht.

Später, als sie aufstand, bemerkte Clariss einen Schwall von Blut zwischen ihren Beinen. Schnell kniff sie die Schenkel zusammen, besorgt um Bettzeug und Teppich. Sie dachte, das sei noch eine Nachblutung ihrer Menstruation, die tags zuvor beendet schien. Erst ein paar Stunden danach fiel ihr auf, dass dies wohl das mythische Jungfernblut gewesen sein musste. Eigentlich ein recht unspektakuläres Ereignis, dieser wirkliche Riss ihres Hymens. Sie hatte sich den krönenden Abschluss ihrer Jungfräulichkeit oder den Verlust ihrer Ehre - je nachdem wie man es betrachtete - irgendwie viel dramatischer vorgestellt, als eine totale Umwälzung. Wenigstens hätte doch ihr Liebster etwas gemerkt haben müssen!

Gleich abends ging sie zu ihm. Diesmal stieß Adrian auf keinerlei Hindernisse und ergoss sich schließlich zum ersten Mal in ihr. Bei all dem hatte es für Clarissa nur kurz einmal, zwischendrin, höllisch wehgetan, sonst waren überhaupt keine Schmerzen dabei - besondere Lust allerdings auch nicht. Doch fühlte sich Clarissa nun unauflöslich an diesen wunderschönen Mann gebunden. Sie wollte die Zeit anhalten, einfach bei ihm bleiben.

Die Ferientage vergingen aber und sie musste noch zur Schule gehen. Heiraten, ohne elterliche Erlaubnis, konnte sie erst in drei Jahren. Und einem holländischen ‚Nomaden der Winde’ würde ihr Vater seine schönste Tochter keinesfalls geben wollen. Ihr blieb nichts übrig als nach Hause zurück zu fahren. Auf der ganzen Reise heulte sie Rotz und Wasser, kotzte sämtliches Essen aus und fühlte sich wie ein Häufchen Elend, ganz und gar verloren. Von nun an hatte sie nur noch ein Ziel: So schnell wie möglich ihr Abitur machen, in Adrians Nähe ziehen und irgendwann mit ihm zusammen in die Welt hinaus segeln.

Eine Lehrerausbildung fand sie dafür praktisch am besten geeignet, zumal sie noch jahrelang die Zustimmung ihrer Eltern für berufliche Entscheidungen brauchte. Das Studium an der pädagogischen Hochschule war kurz, ließ ihr viel freie Zeit und konnte vielerorts stattfinden, auch im Grenzgebiet zu den Niederlanden. Außerdem musste sie es ja nicht unbedingt abschließen, wenn der Mann ihrer Träume sie vorher heiratete.

Anders Margarete, die Älteste von Alix‘ Schwestern: Sie hatte einfach gar kein Ziel, war immer Papas Liebling, blond und brav sein ‘deutsches Gretchen’. Tüchtig hatte sie sich einer höheren Mädchenbildung der Fünfzigerjahre unterzogen, was bedeutete Haushalten und Abitur. Sie lernte leicht, arbeitete fleißig, war immer elegant angezogen, mit engen Röcken von modischer Kürze, die ihre schmale Langbeinigkeit raffiniert zur Geltung brachten. So entsprach sie nahezu genau dem zeitgemäßen Idealbild einer bürgerlichen Frau. Indessen war sie selbst gefühlsmäßig überzeugt von einer grundsätzlichen eigenen Unfähigkeit - wie sie meinte konnte praktisch jeder andere alles besser als sie. Sie traute sich eigentlich gar nichts zu und passte auch damit perfekt in die damenhafte Rolle. Immer war sie zurückhaltend, äußerte sich kaum, wirkte eher ein bisschen blass und ihre hohe Intelligenz, ihr sprühender Witz blieben meist unbemerkt. Ebenso ihre private Schlampigkeit, die, verborgen unter dem ordentlichen Auftreten in der Öffentlichkeit, nur im schwesterlichen Kreise fröhliche Urstände feierte.

Weil der Vater es nicht mochte, dass Margret seiner Aufsicht gänzlich entglitt, zwang er sie an einer Hochschule in der Nähe zu studieren. Seine notwendige Zustimmung gab er nur, wenn sie im ersten Semester täglich pendelte. Margret hatte keinen besonderen Berufswunsch. Viel wichtiger erschien ihr geliebt zu werden. Sie brauchte Selbstbestätigung durch einen Mann. - Tatsächlich durften es auch mehrere sein. So begann sie eine Lehrerausbildung an der Pädagogischen Hochschule ihrer ländlichen Region.

Nach der ersten Eingewöhnung, berichtete sie ihren Schwestern: “...wie das Bedürfnis nach etwas Männlichem“ sie auf ihren ersten Hochschulball führte. „Ich hatte mich schon gleich mit Lesestoff eingedeckt,“ erzählte sie, „weil ich wusste: es ist Mädchenüberschuss und wenn ich schon sitze, will ich wenigstens mein Vergnügen haben!“ An der pädagogischen Hochschule studierten nämlich nur 15 % Männer. Bei dieser Gelegenheit hatte Margret ihr neues Superkleid, das ‘Goldene’, endlich mal eingeweiht. Wie die Tanzerei im Einzelnen abgelaufen war, fand sie langweilig, beschrieb aber ausführlich die skurrilen Begebenheiten ihrer Partnersuche: „Am Schluss habe ich es jedenfalls doch geschafft, so einen irren Knaben aus dem dritten Semester aufzugabeln - oder eher er mich? Er heißt Lothar, ist anscheinend rechtschaffen verrückt, wohl auch recht verdorben. - Na, ich weiß noch nicht. Er ist schwer zu erfassen. In den Augen hat er Ähnlichkeit mit Clariss und wenn man ihn so sieht, denkt man möglicherweise an eine von diesen dürren aber zähen Möwen, wie sie immer hinter den Schiffen herfliegen. Bisschen bizarr der Vergleich, aber er hat auch so eine krächzende Stimme, vielleicht denke ich es deshalb.“

Nach dem Tanz waren sie in eine Kneipe gegangen. So gegen zwei Uhr nachts hatten sie noch eine Waldwanderung gemacht, die bis vier Uhr morgens ging. Danach nahm Lothar sie noch mit ins ‚Antonianum’ ein von Nonnen geleitetes Heim für Studenten. Im Fernsehsaal hatten sie es sich bequem gemacht. Der junge Mann kochte Kaffee und beide waren todmüde. Gegen fünf brach Margret dann auf in Richtung Heimat: „Tja, das war also meine erste durchwachte Nacht,“ erzählte sie zuhause, „ich bin gespannt, wie das wohl weiter geht. Geküsst hat er mich noch nicht; es war mir auch nicht unbedingt ein Bedürfnis, aber gewundert habe ich mich doch!“

Was sie ebenfalls gewundert hatte: Bei ihren scherzhaften Hinweisen auf die Verteilung der Geschlechter an der Hochschule, meinte Lothar allen Ernstes, das brauche sie doch nun nicht mehr zu interessieren, sie habe ja ihn. Außerdem wollte er sie unbedingt mit zum Baden haben, wozu sie versonnen bemerkte: „Er hat gesagt, er fände mich sehr nett...und schön...tja...“

An sich hatte sie auf dem Ball auch noch zwei andere Männer in Aussicht gehabt: Einen aus dem sechsten Semester, mit Brille, freundlich und ein bisschen eingerostet bereits. Und einen anderen, 28 Jahre alt, der erst schon sechs Semester Theologie studiert hatte, vor seinem Lehrerstudium. „Wahrscheinlich habe ich mal wieder auf das falsche Pferd gesetzt! Aber das bin ich ja bei mir fast schon gewohnt,“ schloss sie ihren Bericht, „weil ich überhaupt nicht weiß, was für einen Mann ich eigentlich erwarte: Die Schönen mögen mich nicht, die Netten sind meist hässlich, Passable sind meist kirchlich. Was bleibt?“

Margret fand die ganze Partnerwahl eine recht triste Angelegenheit und fragte sich: „Mag das wohl an mir liegen?“ Sie konnte sich einfach kein Ziel einfallen lassen, beugte sich dann halt irgendwelchen Notwendigkeiten und dachte dabei immer: Es hätte ja anders sein können; hätte es anders sein können....?

Liebesleben und Geschlechterkampf

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