Читать книгу Die Ketzerin von Carcassonne - Tereza Vanek - Страница 10

5. Kapitel

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Der Tag lief gemächlich an. Simon und Antonius waren erst aus dem Wagen gekrochen, als wärmende Sonnenstrahlen bereits die letzten frostigen Lüfte der Nacht mit Wärme durchdrungen hatten. Dann saßen sie schweigend beieinander, kauten an zwei harten Brotrinden und teilten sich einen Becher heißen Wassers, um sie hinunterzuspülen.

»Jemand sollte in der Stadt Vorräte besorgen, bevor wir aufbrechen«, meinte Antonius an niemand Bestimmten gewandt.

»Peyres ist jetzt in Köln«, entgegnete Simon, ohne diesen Umstand weiter zu erklären.

»Der trifft sich doch mit diesen Leuten wegen seiner Schwester«, kam es von Antonius. Marcia, die gerade einen Topf von der Feuerstelle gehoben hatte, ließ ihn wieder fallen. Er schlug mit einem Knall auf den Holzscheiten auf, der zu heißem Wasser geschmolzene Schnee schwappte über den Rand und löschte zischend ein paar Flammen. Über Marcias Lippen huschten fremde Worte, die wie ein Fluch klangen. Dann durchbohrte sie den Jüngling mit zornig funkelnden Blicken.

»Peyres ist in Köln, erledigt alles Notwendige und bringt auch Vorräte mit, damit wir vielleicht heute schon weiterziehen können.«

Kurz sah sie Adelind an, als sei diese Nachricht vor allem für sie bestimmt.

»Aber ihr wolltet doch noch ein paar Tage bleiben«, warf Hildegard ein, die erst nach Simon und Antonius aus dem Wagen gekommen war und nun ebenfalls gierig in eine Brotscheibe biss.

»Manchmal ändert man seine Pläne eben«, erwiderte Marcia, ohne jemand anderen zu Wort kommen zu lassen. »Es ist so schrecklich kalt in diesem Land. Ich kann es nicht erwarten, meine Heimat wiederzusehen.«

»Unterwegs wird es noch eine ganze Weile kalt bleiben, aber du findest doch immer jemanden, der dich wärmt«, warf Simon kichernd ein, bekam dann einen Hustenanfall, der vielleicht durch Marcias böse Blicke ausgelöst worden war.

»Peyres soll entscheiden, was wir tun«, beendete sie entschlossen das Gespräch, ohne auf Widerstand zu stoßen. Hildegard schmiegte sich an Adelind.

»Was sollen wir denn machen, wenn sie wegfahren?«, flüsterte sie unglücklich. Adelind fühlte wieder einen Stich des altbekannten Ärgers. Hielt die Schwester sie denn für eine Heilige, die Wunder wirken und so alles Elend aus der Welt zaubern konnte? Sie spürte überdeutlich Marcias Blick und ahnte, dass ihrer beider Auftauchen der Grund für den übereilten Aufbruch war, viel mehr als der winterliche Frost. Sie schlang die Arme um sich, denn trotz der Sonne und des vollen Magens fror sie erneut. Wie der Winter wohl in Marcias Heimat aussehen mochte? So warm, dass man noch frisches grünes Gras sehen oder gar riechen konnte? Warum waren sie dann ausgerechnet zu dieser Jahreszeit in kältere Gefilde aufgebrochen, wenn sie doch nur einen klapprigen Wagen besaßen und im Freien auftreten mussten, um sich zu ernähren? Sie ahnte, dass Marcia keine dieser Fragen bereitwillig beantworten würde. Entschlossen streckte Adelind den Rücken. Wenn Peyres zurückkam, dann würde auch sie eine Gelegenheit finden, mit ihm zu reden.

Er erschien erst um die Mittagszeit, schwang ein Bündel auf seiner Schulter und hockte sich wortlos vor dem Lagerfeuer nieder, wo er seine Vorräte auspackte. Drei weitere Laibe Brot, ein Stück Pökelfleisch und ein Topf mit Honig, der den aufgewärmten Schnee wohl genießbarer machen sollte.

»Wir haben kein Geld mehr«, sagte er an seine Freunde gewandt. »Vielleicht sollten wir heute noch einmal auftreten, denn das Wetter ist günstig. Sobald es wieder abkühlt, ist kein Mensch länger draußen als notwendig.«

Adelind betrachtete mit einer gewissen Genugtuung, wie Marcia ihr Gesicht verzog.

»Wir können auch erst einmal losfahren und unterwegs irgendwo Halt machen«, schlug die dunkle Schöne vor.

»So schnell erreichen wir keine größere Stadt«, hielt Peyres dem entgegen. Simon knurrte zustimmend.

»Ich brauche Menschen mit Zahnschmerzen«, mischte Antonius sich ins Gespräch. »Je größer eine Stadt, desto mehr gibt es davon.«

Marcia ging mit missmutig nach unten gezogenen Mundwinkeln in die Hocke.

»Wir haben Leute bei uns, die hier gesucht werden«, sagte sie laut und deutlich. Adelind hörte, wie ihre Schwester einen leisen Klagelaut ausstieß.

»Es tut uns schrecklich leid. Wir sind euch dankbar, dass ihr uns heute Nacht beherbergt habt, und werden jetzt gehen«, versprach Hildegard, während sie auf die Beine sprang. Adelind zerrte an dem Ärmel ihres Kittels, um sie zurückzuhalten. Diesen Triumph würde sie Marcia nicht so einfach gönnen.

»Wir möchten natürlich niemandem zur Last fallen«, erklärte sie. »Wenn es nur irgendwie geht, machen wir uns nützlich. Sobald wir Köln verlassen haben, besteht auch keine Gefahr mehr, dass man nach uns sucht, denn wer sollte denn wissen, dass wir mit euch fortgefahren sind?«

Nun war sie es, die Marcia forsch ins Gesicht sah, denn deren Vorschlag, Köln baldmöglichst zu verlassen, kam ihr selbst durchaus entgegen. Marcia richtete ihren Blick erwartungsvoll auf Peyres, der nun leicht verärgert in Adelinds Richtung schaute.

»Wir hatten vereinbart, dass ihr bei uns bleiben könnt, bis wir weiterziehen«, sagte er nur. Adelinds Herzschlag beschleunigte sich. Sie wusste nicht, wie viel Großzügigkeit sie von diesem Mann erhoffen konnte, doch durfte sie sich in ihrer Lage keinen Stolz erlauben.

»Ihr wolltet erst in einer Woche weiterziehen«, erinnerte sie ihn an seine Worte. »Doch falls ihr eure Pläne nun ändert, so ist das für uns nur von Vorteil. Bitte, um der Barmherzigkeit willen, lasst uns eine Weile mitkommen, bis ... bis wir wissen, was wir weiter tun können.«

Sie kam sich vor wie eine Klette, die ihre Stacheln in Peyres’ Beinlinge gesteckt hatte, denn seit ihrer Flucht aus dem Kloster hatte sie nur von ihm ein wenig Freundlichkeit erfahren. Sollte er nun den Fuß schütteln, um sich ihrer zu entledigen, würde sie noch hartnäckiger klammern müssen. Wieder perlte Schweiß aus ihren Poren. Sie hasste diesen fremden, eindrucksvollen Mann, weil er sie in eine solch demütigende Lage brachte.

»Und bis die feinen Damen sich überlegt haben, was sie mit ihrem Leben anfangen, sollen wir sie mit durchfüttern?«, meinte Marcia schnippisch.

»Ich sagte doch schon, dass wir uns nützlich machen wollen«, hielt Adelind dem störrisch entgegen. Marcia stieß ein Lachen aus. Dann stand sie auf, stemmte ihre Hände in die Hüften und beugte sich zu Adelind hinab, sodass ihre dunklen Locken fast den Nonnenschleier berührten. Zorn funkelte in ihren Augen, Spott und noch ein unerklärlicher Schimmer von Angst.

»Haben die zwei Schönen denn im Kloster gelernt, wie sie Männern die Münzen aus dem Beutel locken? Auf der Straße muss eine Frau das nämlich können, sonst verhungert sie.«

Adelind hörte erneut Simons Kichern, das in einem Hustenanfall endete. Wieder musste sie energisch Hildegards Kittel festhalten, damit ihre Schwester nicht gleich davonlief.

»Wir haben im Kloster andere Dinge gelernt, die durchaus nützlich sind. Wir können lesen und schreiben«, sagte sie stolz. Marcia klatschte lachend in die Hände.

»Großartig! Dummes Volk wie wir kann es nicht, und weißt du warum, meine kluge Jungfer? Nein? Nun, ich werde es dir sagen. Weil wir es auch nicht brauchen, ganz einfach.«

Jetzt floss der Schweiß in Bächen über Adelinds Rücken. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Vielleicht hatte Hildegard recht, sie sollten einfach fortlaufen, anstatt weitere Kränkungen hinzunehmen. Allein das Wissen um ihre aussichtslose Lage ließ sie regungslos verharren. Ein Gedanke erwachte in ihrem Kopf, und sie klammerte sich an ihn, um nicht vor Verzweiflung zu ersticken.

»Ich kann singen«, flüsterte sie erschöpft.

»Ja, das ist richtig. Sie hat eine wunderschöne Stimme«, kam Hildegard ihr unerwartet zu Hilfe. »Niemand konnte im Kloster so wundervoll Hymnen vortragen. Schon als sie noch ein kleines Mädchen war, stellte unsere Äbtissin sie dem Propst von Sankt Kunibert ...«

Als Marcias schallendes Lachen diese Lobeshymne unterbrach, unterdrückte Adelind wieder einmal mühsam den Wunsch, ihre Schwester zu ohrfeigen.

»Bisher habe ich Hymnen gesungen, aber ich singe alles, was den Leuten gefällt«, erklärte sie trotzig.

»Nein, wie großzügig sie ist, die feine Dame«, spottete Marcia weiter, doch Antonius hatte bereits begonnen, mit Simon zu tuscheln.

»Ich finde, wenn sie singen kann, dann können wir sie auch brauchen«, warf der schmächtige Jüngling ein. Sein Blick hing allerdings an Hildegard, und das schon eine ganze Weile. Plötzlich wünschte Adelind, dass ihre Schwester die Geistesgegenwart hätte, den stillen Verehrer wenigstens einmal anzulächeln. Sie brauchten in dieser Lage jede Unterstützung.

»Ach ja, und die andere steht nur im Hintergrund herum und lässt alle Männer ihr hübsches Gesicht bewundern«, zischte Marcia auch schon, doch Peyres hob ungeduldig die Hand.

»Jetzt reicht es mit dem endlosen Gerede!«, erklärte er. »Ich habe diesen zwei Mädchen unsere Hilfe versprochen. Wenn eine davon singen kann, dann soll sie singen. Für die andere findet sich sicher eine Aufgabe. Sie bleiben eine Weile bei uns, und wir ziehen jetzt weiter. Sobald wir den nächsten größeren Ort erreicht haben, treten wir auf, und dann soll die Betschwester zeigen, was von ihrer Gesangskunst zu halten ist.«

Er hatte die energische Stimme eines Anführers, stellte Adelind erleichtert fest. Simon und Antonius trollten sich zum Wagen. Marcia stand noch eine Weile mit leicht geröteten Wangen da, aber sie wagte es nicht, ihren Unmut gegen Peyres zu richten, der bereits das Maultier vor den Wagen spannte.

Adelind staunte. Sie wusste, dass sie selbst an Marcias Stelle nicht klein beigegeben hätte, nur weil ein Mann meinte, für alle anderen entscheiden zu dürfen.

Der Aufbruch ging schnell vonstatten, da nur ein paar Töpfe und Decken eingepackt werden mussten. Bald schon holperte der Wagen eine flach getretene Straße entlang, und die Umrisse der Kölner Stadtmauer schrumpften langsam, bis sie vom Horizont verschluckt wurden. Im Wagen war es erträglich warm, doch stach das Springen der Räder über Unebenheiten immer wieder in die Knochen. Hildegard schmiegte sich an Adelinds Schulter und schlummerte. Glücklicherweise war ihr nicht mehr übel geworden, seit sie das Kloster verlassen hatten, doch Adelind fragte sich, wann ihre neuen Gefährten die Schwangerschaft wohl bemerken und wie sie darauf reagieren würden. Aber im Augenblick gab es genug andere Sorgen. Marcia saß vorne neben Peyres und hatte einen besitzergreifenden Arm um seine Schulter gelegt. Simon ließ mit leisem Gemurmel eine Kette aus Holzperlen durch seine knochigen Finger gleiten. Adelind stellte mit Befremden fest, dass es kein Rosenkranz war. Mutter Mechtildis hätte einen Wahrsager vermutlich als Sünder bezeichnet, der sich anmaßte, Gottes Wirken voraussehen zu können. Antonius musterte weiterhin Hildegard, ohne von ihr beachtet zu werden.

»Wenn Ihr bequemer sitzen wollt, könnt Ihr meine Decke haben, um sie unter Euren Kopf zu legen«, schlug er nach einer Weile des Schweigens vor. Hildegards Augenlider flackerten nur kurz, erst nachdem Adelind sie vorsichtig angestupst hatte, richtete sie ihren Blick für einen Moment auf ihren Verehrer.

»Ihr seid sehr gütig, junger Herr, aber meinetwegen sollt Ihr nicht frieren«, sagte sie und lächelte ihn an. Obwohl sie gleich darauf wieder die Augen schloss, strahlte Antonius, als habe jemand in seinem Kopf eine Kerze angezündet.

»Ihr seid Zahnkünstler«, führte Adelind das Gespräch fort, da ihre Schwester endgültig eingeschlafen war. »Es hört sich wie eine schwere Aufgabe an.«

Antonius nickte ernst.

»Ich füge Menschen für eine Weile große Schmerzen zu, um sie von langwierigem Schmerz zu befreien«, erzählte er. »Mein Vater brachte mir das Zähnebrechen bei. Leider starb er an einer Krankheit, als ich noch ein Knabe war, und ließ mich allein zurück. Peyres las mich am Straßenrand auf, nachdem zwei Straßenräuber mir gerade meine ersten selbst verdienten Münzen gestohlen hatten. Seitdem ziehe ich mit ihm herum.«

Adelinds Stimmung wurde ein klein wenig zuversichtlicher.

»Peyres scheint ein hilfsbereiter Mensch«, sagte sie zufrieden. Wieder stieß Simon eine Mischung aus Husten und Kichern aus.

»Er ist nicht übel. Die Weiber mögen ihn. Aber er hört nur auf seine Schwester, und allein ihretwegen zeigt er sich manchmal barmherzig, damit sie ihm seine sonstigen Fehler verzeiht. Aber ich will mal nicht klagen, ohne ihn wäre auch ich schon längst verhungert.«

Adelind verdaute langsam die Neuigkeiten. Sie dachte an Marcias Arm, der Peyres seit der Abfahrt umschlungen hielt. Lag in dieser Geste nicht ein wenig Trotz oder gar Verzweiflung?

»Wer ist diese Schwester denn, von der er sich Vorschriften machen lässt?«, wollte sie wissen.

»Eine Heilige«, erklärte Simon. »Eine richtige Heilige, aber erst seit einigen Jahren. Vorher war sie nicht anders als Marcia.«

Antonius schubste den Alten sanft an.

»Wir sollen nicht über diese Dinge reden«, sagte er leicht verlegen an Adelind gewandt. »Peyres wünscht das nicht.«

Adelind nahm es hin. Als der Karren bald darauf in einer kleinen Ortschaft zum Halten kam, verdrängte die Aufregung über ihren versprochenen Auftritt alle Neugierde.

Ungefähr zehn Häuser aus Holz und Lehm reihten sich um einen Platz, auf dem der Karren zum Stillstand gekommen war. Da der Wind eisig pfiff und dunkle Wolken am Himmel zusammentrieb, konnte nicht weiter auf das Auftauchen der nächsten Stadtmauer am Horizont gewartet werden. Peyres band das Maultier an einem Pfosten fest, während neugierige Gesichter allen vier Gestalten entgegenspähten, die zwischen den ledernen Planen des Wagens hervorkrochen. An diesem kleinen Ort bekamen sie wenigstens Aufmerksamkeit, dachte Adelind, obwohl sie sich nicht sicher war, ob ihr dieser Umstand gefiel.

Peyres sprang bereits herum, klatschte in die Hände und versprach eine Darbietung, die alle Anwohner nicht so schnell vergessen würden. Marcia hatte sich inzwischen über einen Spiegel gebeugt und fuhr sich rasch mit ihren Fingern durch die wilde Lockenpracht. Adelind betrachtete die schwarz glänzenden, kräftigen Kringel mit Bewunderung. Ihr fiel ein, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, welche Farbe ihr eigenes Haar hatte. Plötzlich tat diese Erkenntnis weh. Marcia holte ein winziges Töpfchen aus der Tasche, die an ihrem Gürtel hing, und schmierte ihre Lippen mit einer blutroten Paste ein, die sie dann auch auf ihren Wangen verrieb. Schließlich wandte sie sich Adelind zu, als habe sie deren Blick wie eine Berührung gespürt.

»Hier, mach dich auch etwas hübsch!«, meinte sie gnädig und reichte ihr den Spiegel. Adelind zögerte einen Augenblick, denn Eitelkeit war sündhaft. Doch die Neugier, endlich ihr eigenes Gesicht kennenzulernen, überwog. Es war notwendig, sagte sie sich.

Sie starrte sich lange an. Ein Sprung auf der glatten Oberfläche zerschnitt ihr Spiegelbild in zwei Hälften, eine hohe Stirn unter dem Nonnenschleier war auf der oberen Seite zu sehen. Schiefergraue Augen blickten ihr entgegen, unerwartet klug in ihrem Ausdruck und von langen Wimpern überschattet. Mit etwas gutem Willen waren sie fast schön zu nennen. Unterhalb des Sprungs sah sie feine, blasse Lippen, die von einer spitzen Nase überschattet wurden. Sie war nicht hässlich, stellte sie erleichtert fest, doch neben einer schillernden Erscheinung wie Marcia wirkte sie farblos. Außerdem fehlte ihr etwas, das männliche Blicke auf sie ziehen würde. Sie konnte nicht benennen, was es genau war, erkannte nur diesen Mangel an sich selbst.

»Nimm etwas von der Pomade, sonst übersieht man dich«, bot Marcia sich wieder an. Ihre Stimme klang weder zornig noch herablassend. Es schien, als hätte sie Adelind für den Moment als Teil der Truppe angenommen. Adelind schmierte sich zögernd etwas Rot auf Lippen und Wangen, doch wurde sie dadurch nach eigenem Ermessen nicht hübscher. Die Farbe schien unmäßig grell in ihrem Gesicht, schrie dem Betrachter aufdringlich entgegen, während sie bei Marcia selbstverständlich wirkte.

»Und zieh endlich den Lappen vom Kopf!«, drängte Marcia nun ungeduldig. »Der macht doch aus jeder Frau eine Vogelscheuche!«

Adelind wollte gehorsam den Arm heben, erstarrte aber in der Bewegung.

»Es geht nicht«, flüsterte sie Marcia beschämt zu. »Im Kloster wurde uns regelmäßig das Haar geschoren.«

Marcia sog laut Luft ein.

»Also ich würde jedem, der mich so verunstalten will, die Schere aus der Hand beißen«, zischte sie. Adelind senkte den Kopf, plötzlich beschämt, dass sie all dies mit sich hatte geschehen lassen, ja, dass es ihr nicht einmal schlimm vorgekommen war. Aber was wusste Marcia schon von einem frommen Leben, sagte sie sich und zog trotzig die Schultern zurück.

»Sie hat wirklich eine wunderschöne Stimme«, mischte Hildegard sich nun ein. »Warum sollte es denn wichtig sein, ob jemand ihr Haar sieht?«

Antonius nickte zustimmend, wobei er weiterhin in Hildegards Richtung starrte. Wenn sie gesagt hätte, dass Wölfe liebenswerte Tiere seien und dass Igel durch den Himmel flögen, hätte der junge Mann wohl ebenfalls genickt. Konnte allein der Anblick einer schönen Frau Männer derart ihres Verstandes berauben, grübelte Adelind. Marcia, die wohl zu einem ähnlichen Urteil gelangt war, holte schnaubend Luft, doch da rief Peyres nach ihr, und sie eilte an seine Seite.

Er spielte auf einer Fiedel, während Marcia sang. Die Melodie war flott und floss gefällig ins Ohr. Marcia hatte eine recht tiefe, kräftige Stimme, die nicht immer den richtigen Ton traf, doch machte sie dies durch den reizvollen Schwung ihrer Hüften wett, wenn sie sich zur Musik bewegte. Die Worte des Liedes konnte Adelind nicht verstehen, ebenso wenig wie die neugierig gaffenden Zuschauer, aber die Darbietung gefiel. Ein paar Türen öffneten sich und entließen weitere Gestalten, die sich zum Publikum gesellten. Anschließend legte Peyres sein Instrument nieder, Marcia ergriff eine Rassel, und sie sangen gemeinsam. Diesmal war das Lied auf Deutsch. Es handelte von einem Händler, der nach langen Reisen zu seiner Gemahlin zurückkehrte, sie der Untreue verdächtigte und einen Freund überredete, als Verführer aufzutreten, damit er die Sünderin auf frischer Tat ertappen konnte. Doch im verabredeten Moment wartete die Frau allein auf ihn, warf ihm sein Misstrauen vor und beteuerte ihre Unschuld. Als Peyres reumütig seinen Arm um Marcia legte, die ihren Kopf an seiner Schulter vergrub, wischten ein paar Frauen sich die Augen trocken. Dann rammte Marcia ihm ihren Ellbogen in die Rippen, trat grinsend vor und fragte, welche Frau es verdient hätte, bis an ihr Lebensende an die Seite eines derart eifersüchtigen Griesgrams gefesselt zu sein, der unterwegs sicher kein Hurenhaus ausgelassen hatte. Zögernder Applaus erklang, der anschwoll, als sie ein paar schwungvolle Drehungen vollführte und den Zuschauern dabei einen Blick auf ihre nackten Beine gönnte. Ein paar Männer boten sich johlend als Tröster an. Trotz des Stirnrunzelns mehrerer Matronen warf Marcia ihnen eine Kusshand zu. Adelind sah sich besorgt nach Hildegard um, die von solch schamlosem Benehmen einer Frau noch entsetzter sein musste als sie selbst, aber ihre Schwester starrte nur gebannt auf die Darbietung der Spielleute. Ein verträumtes Lächeln lag auf ihren Lippen, und ihre Augen leuchteten. Sie sah aus wie ein Kind, das die Wunder der Welt bestaunte.

Eine Weile ging es so weiter, ein Lied folgte auf das andere, und die Zuschauer klatschten begeistert in die Hände. Im Hintergrund erblickte Adelind einen kleinen grauen Mann in dunkler Kutte, der hier wohl der Pfarrer sein musste. Ein Weinbecher lag in seiner Hand, und er wippte mit beiden Füßen zur Melodie. Nach jeder Darbietung ging Simon mit einem Beutel herum, in dem die Münzen allmählich zu klimpern begannen. Adelind atmete erleichtert auf. Der Auftritt war ein solcher Erfolg, dass man sie selbst vermutlich nicht mehr brauchte. Als es bereits zu dämmern begann, hörte sie ihren Magen knurren und hoffte, die Zuschauer würden ihnen allen eine großzügige Mahlzeit gönnen.

Da wandte Peyres sich plötzlich um, ergriff seine Fiedel, um sie wegzuräumen, und zog auch Marcia zur Seite.

»Nun eine Sängerin, die nach unseren frivolen Scherzen den Segen Gottes über diesen Ort bringen kann, eine wahrhaft fromme Jungfer«, verkündete er. Adelinds Herz plumpste in ihre Magengegend. Eine vernichtendere Vorstellung hätte sie sich kaum ausmalen können, doch passte sie zu dem Nonnenschleier auf ihrem Kopf. Anders hätte Peyres ihre Erscheinung den Leuten kaum schmackhaft machen können.

Sie trat vor, während der Schweiß in Bächen über ihren Körper floss. Zahlreiche Augenpaare bohrten sich in ihren Körper, drohten sie zu erstechen. Sie würde jene Marienhymne singen, die im Kloster ihr allerliebstes Lied gewesen war, beschloss sie in diesem Augenblick. Vermutlich würde dies ihren Abschied von Peyres und seinen Leuten bedeuten, aber es sollte wenigstens ein eindrucksvoller Auftritt werden, mit dem sie versagte. Adelind schloss die Augen, damit sie die enttäuschten Gesichter der Zuschauer nicht würde sehen müssen. Sie sog Luft in ihre Lungen, und als sie vermeinte, ein Kichern zu hören, ballte sie ihre Hände zu trotzigen Fäusten.

Stabat mater dolorosa

Iuxta crucem lacrimosa,

Dum pendebat filius;

Cuius animam gementem,

Contristantem et dolentem

Pertransivit gladius.

Sobald sie sich durch die erste Strophe gekämpft hatte, wurde es leichter. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die richtige Atmung und Tonhöhe, wie sie es den Novizinnen im Kloster stets gepredigt hatte. Falls noch jemand über sie lachen sollte, musste sie ihn mit der Kraft ihrer Stimme übertönen.

O quam tristis et afflicta

Fuit ilia benedicta

Mater unigeniti!

Quae maerebat et dolebat,

Et tremebat, dum videbat

Nati poenas incliti.

Adelind ließ sich von der Melodie treiben, wurde von ihr emporgerissen, sodass alle Sorgen plötzlich nur noch Teil einer winzigen Welt zu ihren Füßen waren. Unter ihren geschlossenen Lidern sah sie Lichter, die das gütige Gesicht einer Mutter umschwebten, zu deren Ehren sie sang.

Dann war das Lied zu Ende. Sie trennte sich schweren Herzens von ihm, denn nun wurde sie wieder in die elende, erbarmungslose Wirklichkeit zurückgestoßen. Doch in ihrem Kopf schwangen noch einige Töne der Melodie, als wolle die schmerzensreiche Mutter ihr Trost zusprechen. Völlig ruhig öffnete Adelind ihre Augen. Die Fäuste hatten sich schon längst entspannt. Ganz gleich, was geschah, sie würde den göttlichen Willen annehmen.

Es war sehr still geworden. Die Leute starrten sie stumm an, dann hörte sie verhaltenes Gemurmel. Ratlos sah sie sich nach Peyres um, dessen dunkle Augen an ihr hingen. Marcias Lippen waren in ihrem Mund verschwunden, eine steile Falte lag zwischen ihren Brauen, doch blickte sie Adelind eher staunend denn missbilligend an.

»Um der heiligen Mutter willen, deren Größe wir in diesem Lied spüren konnten«, rief Peyres plötzlich und riss Simon den Beutel mit den Münzen aus der Hand, um noch einmal die Runde zu machen. Die Anwohner füllten ihn großzügig, selbst von dem Pfarrer kam eine milde Gabe.

»Ich habe es Euch doch gesagt«, verkündete Hildegard und legte ihren Arm um Adelinds Taille. »Sie singt wunderschön.«

Niemand widersprach. Der Pfarrer tuschelte eine Weile mit einem groß gewachsenen Mann in sauberer Kleidung, der an diesem Ort wohl das Amt des Schulzen ausübte. Nach der kurzen Unterhaltung trat er vor und räusperte sich zum Ausdruck seiner Wichtigkeit.

»Aus Dankbarkeit für diese unterhaltsame, aber auch erbauliche Darbietung laden wir euch zu einem gemeinsamen Mahl in der Weinschenke.«

Marcia gönnte beiden Männern ein zuckersüßes Lächeln. Das runde Gesicht des Pfarrers bekam plötzlich einen rosigen Farbton. Peyres musterte Adelind auf einmal so anerkennend, dass sie ihr Herz schlagen hörte und sich sicher war, ebenso zu erröten wie der arme Diener Gottes.

Es gab Hammelkeule und Schweinebraten, Bier, Met und Wein. Simon las ein paar Leuten aus der Hand und verkaufte Amulette, die angeblich aus dem Heiligen Land stammten. Marcia versammelte indessen eine Runde von Männern um sich, lachte, plauderte, ließ ihre schwarzen Augen und schneeweißen Zähne blitzen. Die missbilligenden Blicke etlicher Frauen übersah sie geflissentlich. Adelind saß kauend an Hildegards Seite. Sie hatte fast vergessen, wie wohl ein prall gefüllter Magen tat. Gott hatte es gut mit ihnen gemeint, da er sie in einen wohlhabenden Ort geführt hatte. Ihre Lider wurden schwer. Sie wollte noch einen Becher Wein trinken, dann in tiefen, befreienden Schlaf fallen. Drei Tage hatten sie bereits gut überstanden. Irgendwie würde es schon weitergehen.

Sie erahnte eine Bewegung an ihrer Seite. Hildegard rückte von ihr fort, denn eine hohe Gestalt schob sich dazwischen. Sie spürte die Nähe von Peyres, noch bevor sie ihn angesehen hatte, als ginge von seiner Gestalt eine Kraft aus, die sie auf unsichtbare Weise mit sich riss, doch flog sie nicht in so befreiende Höhen wie während des Gesangs. Stattdessen meinte sie, durch ein Dickicht zu irren, das sie immer weiter in seine Tiefen lockte.

»Du singst weitaus besser, als ich erwartet hatte«, sagte Peyres, während er seinen Bierkrug auf den Tisch stellte und sich ein Stück Brot abriss. Im Licht der Kienspäne, deren Rauch ihr in den Augen biss, konnte Adelind den roten Stein in seinem Ohrläppchen blitzen sehen. Sie fixierte ihren Blick auf diesen Farbtupfer, denn so gewann sie etwas an Ruhe.

»Vielen Dank«, entgegnete sie artig.

»Du kannst bei uns bleiben, wenn du möchtest. Aber für eine Frau mit solcher Begabung gibt es sicher noch andere Möglichkeiten«, fuhr Peyres fort. Adelinds Herz flatterte ziellos wie ein blinder Vogel und schlug gegen ihre Rippen.

»Ich weiß keine andere Möglichkeit und würde sehr gerne bleiben«, gestand sie, um dann gleich hinzuzufügen: »Gemeinsam mit meiner Schwester.«

Peyres nickte ohne Zögern und stieß seinen Krug gegen ihren Becher. Es blieb Adelind nun keine andere Wahl, als ihm ins Gesicht zu sehen, auch wenn ihr eben noch zufriedener Magen sich deshalb gequält verkrampfte. Die braunen, von dunkleren Farbtönen gesprenkelten Augen erinnerten an Bernstein. Es mochte an dem bereits geleerten Becher Wein liegen, dass sie plötzlich der Wunsch überkam, mit den Fingern über seine dichten Augenbrauen zu fahren, um deren Schwung nachzumalen. Der Farbton seiner Haut ließ sie an reife Kastanien denken und löste ein Gefühl von Wärme in ihrem Magen aus, das sich bald durch ihren ganzen Körper verbreitete.

»So dürfen wir euch also in eure Heimat begleiten«, stellte sie fest, um nicht nur stumm dazusitzen und ihn anzustarren. »Dort in diesem Dun, ich meine im Süden, sehen dort die meisten Menschen so dunkel aus?«

Sie hatte ihre Frage für harmlos gehalten, doch Peyres’ Gesicht verzog sich für einen Moment, als habe ihm jemand einen unsichtbaren Hieb versetzt.

»Es gibt mehr Menschen mit dunklem Haar als hierzulande, doch sie sehen eher aus wie Marcia«, erklärte er an seinen Bierkrug gewandt. »Mein Vater jedoch war ein Fremder, ein Heide. Meine Mutter begegnete ihm, als sie mit einer Gauklertruppe herumzog. Ich habe meinen Vater nie gesehen, und meine Mutter starb, als ich noch ein kleines Kind war, sodass ich nicht viel über ihn weiß.«

Adelind nippte verlegen an ihrem Wein. Wie großartig ihr diese harmlose Unterhaltung doch gelungen war! Gleich mit der ersten Frage hatte sie an einer noch offenen Wunde gekratzt.

»Und in diesem Dun, dort lebt also Eure Schwester«, redete sie weiter, nun in der Hoffnung, ihn durch Erinnerung an noch vorhandene Familie aufzuheitern.

»Ja, sie hat sich dort auf Dauer niedergelassen«, erwiderte Peyres sehr schnell, um dann energisch seinen Krug auf den Tisch zu stellen.

»Ab morgen werden wir an deinen Auftritten arbeiten«, erklärte er. »Du bist gut, aber du musst mehr auf die Zuschauer eingehen. Mit geschlossenen Augen und verkrampften Händen zu singen, das kommt nicht gut an. Du singst nicht für dich, sondern für Leute, die dir zuhören, und musst ihnen gefallen. Verstehst du, was ich meine?«

Adelind sackte ein klein wenig zusammen. Sie hatte sich so sicher und stolz gefühlt nach dem ersten Lob!

»Ich will versuchen, anders aufzutreten, aber ich kann nicht sein wie Marcia«, widersprach sie und fragte sich, ob Peyres sein Angebot nun zurücknehmen würde.

»Nein, das würde auch nicht zu deinen Liedern passen«, stimmte er unerwartet zu. »Du brauchst die Männer nicht so dreist zu reizen, aber gefallen musst du trotzdem. Ich sagte schon, wir arbeiten ab morgen daran.«

Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, stand er auf und gesellte sich wieder zu Antonius, der bereits mit schläfrigem Blick über der Tischkante hing, da er es aufgegeben hatte, Hildegards Aufmerksamkeit zu erlangen. Adelinds Schwester saß nur stumm da und musterte das Geschehen in der Weinschenke. Sie schien zum Glück nicht empört über Marcia, die gerade lachend die Hand des Schulzen von ihrer Schulter schubste, ihn aber gleichzeitig unter halb geschlossenen Lidern einladend ansah. Vielleicht war sie sogar erleichtert, überlegte Adelind, denn Marcias aufreizendes Benehmen verschonte sie selbst vor männlicher Aufmerksamkeit.

Als die Gesellschaft sich auflöste, war es draußen gänzlich finster geworden. Einige der Männer hatten Schwierigkeiten, beim Verlassen der Dorfschenke aufrecht zu gehen, und mussten von ihren Frauen gestützt werden, die recht froh schienen, dass der ausufernd gesellige Abend nun beendet war. Vielleicht hatten sie sich ohnehin nur daran beteiligt, um ihre Männer nicht unbeobachtet in Gegenwart der auffallend hübschen Gauklerin zu lassen, überlegte Adelind, während sie in den Wagen kroch. Dann fiel ihr auf, dass ebendiese Gauklerin nun fehlte. Hildegard stellte es ebenfalls beunruhigt fest, aber Peyres machte nur eine abwehrende Handbewegung.

»Sie ist noch beschäftigt. Bald kommt sie.«

Wieder legten sie sich Seite an Seite nieder. Decken wurden verteilt, und die unmittelbare Nähe anderer Körper schenkte zusätzliche Wärme. Adelinds Lider fielen zu, sobald sie auf den hölzernen Planken lag. Die letzten Tage waren aufregender gewesen als ihr ganzes bisheriges Leben.

»Wir können also bei diesen Leuten bleiben?«, drang Hildegards Stimme an ihr Ohr. Für einen Moment öffnete sie die Augen, doch sah sie nur Schwärze vor sich. Simon schnarchte bereits.

»Gefällt dir diese Vorstellung nicht?«, flüsterte sie ihrer Schwester zu. »Ich weiß, Gaukler führen kein gottgefälliges Leben. Aber ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben. So gesehen muss es doch Gottes Wille sein, dass wir hier aufgenommen wurden.«

Sie kicherte leise, erschrak dann, denn sie rechnete nicht damit, dass ihre Schwester diese Bemerkung erheiternd finden würde. Aber Hildegard drückte nur ihre Hand.

»Du hast uns durch deinen Gesang gerettet«, sagte sie so leise, wie sie gelernt hatten, im Schlafsaal des Klosters miteinander zu kommunizieren. »Und ich glaube, es gefiel dir sogar, vor all diesen Leuten zu singen. Ich bin froh für dich. Aber was ist, wenn sie meinen Zustand bemerken? Ich bin die Nutzlose hier und außerdem noch schwanger.«

Adelind versicherte ihrer Schwester, dass alles in Ordnung käme, doch huschten die Sorgen nun aufgeregt in ihrem Kopf herum wie lästiges Ungeziefer. Eine Weile ließ die Schwangerschaft sich vielleicht noch verbergen. Dann fiel ihr noch Peyres’ Geschichte über seine Mutter ein, die das Kind eines fremden Mannes auf die Welt gebracht hatte. Vielleicht konnten Gaukler mit diesem Umstand besser leben als andere Leute, was bedeuten würde, dass sie hier tatsächlich gut aufgehoben waren. Wieder kehrte kurz das Gefühl von Leichtigkeit zurück, so wie sie es beim Singen empfunden hatte. Morgen würde Peyres ihr zeigen, wie sie es besser machen konnte, dachte sie und fühlte sich wie ein junger Vogel, der bald lernen sollte, durch die Lüfte zu segeln.

Mit einem Knarren wurde die Klappe am Eingang in den Wagen heruntergezogen. Der Geruch von Kienspänen und von Heu stieg in Adelinds Nase, während sie Marcias Gestalt als Schatten hereinhuschen sah. Die schöne Gauklerin stieg achtlos über alle Schlafenden hinweg, um sich neben Peyres zu legen. Getuschel in einer fremden Sprache erklang, steigerte sich allmählich zu einem Gefecht zweier aufgebrachter Stimmen. Marcia schwang einen Beutel in der Luft, riss ihn immer wieder zurück, wenn Peyres danach greifen wollte. Schließlich richtete der dunkle Mann sich zu seiner vollen Größe auf.

»Wir müssen auf der Stelle aufbrechen«, sagte er auf Deutsch. »Marcia hat uns hier in Schwierigkeiten gebracht.«

Es folgten laute Rufe in der fremden Sprache. »Ich habe genug Geld besorgt, um uns bis Dun am Leben zu erhalten!«, schrie Marcia schließlich empört auf, ließ wiederum unverständliche Flüche folgen, bis Peyres sie mit einer Ohrfeige zum Schweigen brachte. Dann schlich er wortlos hinaus, um das Maultier wieder vor den Wagen zu spannen. Langsam rollten sie in das Dickicht des umliegenden Waldes, der sie wie eine schwarze Umarmung empfing. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie saßen mit laut klopfendem Herzen aufrecht da, musterten einander verwirrt, soweit das schwach eindringende Mondlicht es zuließ.

»Ich habe dem Schulzen seinen Beutel voller klimpernder Münzen vom Gürtel gerissen, als er gerade sehr unaufmerksam war«, erklärte Marcia schließlich mit einem Schulterzucken. »Deshalb müssen wir nun fort, bevor er es merkt.«

Niemand sagte etwas, nur Hildegard neigte ihren Kopf an Adelinds Schulter.

»Diese Leute waren so freundlich«, hauchten ihre Lippen. »Und dafür wurden sie bestohlen.«

»Was tuschelt ihr zwei denn da wieder?«, zischte Marcia. »Ich finde es unheimlich, wie ihr miteinander reden könnt, ohne dass es jemand mitbekommt. Es gefällt mir nicht.«

Adelind richtete sich auf.

»Manche Worte sind eben nicht für fremde Ohren bestimmt«, erwiderte sie, denn ihr schien, dass Marcia für genug Ärger gesorgt hatte. Die Augen der Gauklerin funkelten in der Finsternis wie zwei glühende Steine, die von hellen Kreisen umrahmt waren.

»Spar dir deine belehrenden Sprüche, Betschwester«, zischte sie. »Sonst werfe ich dich jetzt auf der Stelle aus dem Wagen.«

Adelind spürte, wie Hildegard an ihrer Seite zusammenzuckte, und packte entschlossen deren Hand. Die Schwester wäre wohl wieder einmal bereit, freiwillig in den finsteren Wald zu laufen.

»Ob wir gehen oder bleiben, darüber hast du nicht allein zu entscheiden«, hielt sie Marcia trotzig entgegen und lehnte sich an die hölzernen Planken des Wagens. Ein klammes Gefühl von Angst kribbelte durch ihre Gliedmaßen, während sie sich zwang, dem Blick der Gauklerin nicht auszuweichen.

»Du wirst gleich sehen, wie ich darüber entscheide!«, kreischte Marcia nun und stürzte sich auf Adelind, die den Hieben und Kratzern hilflos auszuweichen versuchte. In ihrem ganzen Leben war sie noch keinem körperlichen Angriff ausgesetzt gewesen. Ihre Arme hoben sich, um ihr Gesicht zu schützen, doch die Gewalt, mit der Marcia auf sie einschlug, schien gleichzeitig unbegreiflich und überwältigend. Andere Hände mischten sich ein. Sie hörte Simons und Antonius’ Stimmen, die zum Frieden mahnten. Schließlich wurde sie von Marcias wilder Nähe befreit. Die Gauklerin hing zappelnd im Griff der beiden Männer, ja sogar Hildegard hielt ihren rechten Arm umklammert, mit einer Kraft, die Adelind ihrer Schwester niemals zugetraut hätte.

Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und spürte Feuchtigkeit aus ihrer Nase fließen. Verlegen versuchte sie, mit dem Ärmel das Blut fortzuwischen.

Marcia kreischte weiter, nun wieder in ihrer unverständlichen Muttersprache. Die Plane vor dem Kutschbock wurde zur Seite geschoben. Peyres’ Gesicht war wegen seiner dunklen Haut noch schwerer zu erkennen als das der übrigen Anwesenden, doch leuchtete auch bei ihm das Weiß der Augen.

»Ruhe!«, sagte er nicht besonders laut, aber seine Stimme fuhr dennoch wie ein Messer in die aufgeheizte Stimmung. »Wenn hier weiter so geschrien wird, dann haben wir bald die Leute aus der Ortschaft auf den Fersen.«

Adelind atmete erleichtert auf, denn Peyres’ Gegenwart gab ihr immer wieder ein Gefühl von Sicherheit. Leider hatte er auf Marcia nicht dieselbe Wirkung, denn sie schleuderte ihm einen Schwall unverständlicher Worte entgegen. Er begann, dagegen anzubrüllen, was seinem Ratschlag vollkommen widersprach.

»Putana!«, schrie er schließlich und schlug Marcia nochmals ins Gesicht. Sie trat nach ihm. Hätten Simon und Antonius sie nicht weiter festgehalten, wäre Peyres wohl ebenso traktiert worden wie gerade eben Adelind. So spuckte sie ihn nur an und wurde erneut geohrfeigt. Adelind sprang auf die Beine. All diese Gewalt widerte sie an. Ohne weiter zu überlegen, legte sie ihre Hand auf Peyres* Arm, der sich zu einem weiteren Schlag gehoben hatte.

»Jetzt ist es genug«, sagte sie. »Wir sollten uns vielleicht alle schlafen legen und im Morgengrauen aufbrechen. Die Leute in der Ortschaft werden sicher eine Weile brauchen, bis sie ihren Rausch ausgeschlafen haben.«

Peyres ließ seinen Arm sinken. Er atmete heftig, doch lag kein Zorn in seinen Augen, als er Adelind ansah.

»Sie hat recht«, meinte er nur. »Ich werde jetzt das Maultier festbinden. Legt euch schon alle nieder.«

Der Anweisung wurde ohne Widerspruch gehorcht. Bald schon lag Adelind an Hildegards Seite. Ihre Nase schmerzte, und auch ein paar weitere Stellen ihres Körpers, die von Marcias Fäusten getroffen worden waren, brannten, aber sie war erleichtert, dass der Kampf erst einmal vorbei zu sein schien. Daran, wie es am nächsten Tag zwischen ihr und dieser Furie weitergehen sollte, wollte sie jetzt nicht denken, zitterte aber weiterhin vor Aufregung. Obwohl sie sich nach Schlaf sehnte, wusste sie, dass er sie in dieser Nacht wohl meiden würde. So beobachtete sie mit weit aufgerissenen Augen, wie Peyres über alle Schlafenden hinwegstieg, um sich an der Seite seiner Gauklerin auszustrecken, die ihn durchaus friedlich empfing. Bald darauf drang wieder ein sanftes Murmeln und Seufzen an Adelinds Ohr, das sich langsam zu heiserem Stöhnen steigerte. Sie spürte einen Stich in ihrer Brust, den sie sich nicht erklären konnte. Ein Murren drang aus ihrer Kehle, und sie wälzte sich herum, um das sündige Treiben nun genauer zu betrachten. Peyres lag auf Marcia, die sich an der Schnürung seiner Beinlinge zu schaffen machte. Adelind spürte eine unbekannte Wärme in ihrem Unterleib, die sicher sündhaft war, aber dennoch wohltat. Dann drehte Peyres kurz den Kopf zur Seite, und seine offenen Augen trafen auf die ihren. Rasch zuckte sein Gesicht zurück, als sei er geschlagen worden. Er flüsterte ein paar Worte in seiner fremden Sprache, während er von Marcias Körper rutschte. Die Gauklerin streckte wieder fordernde Hände nach ihm aus, wurde aber abgewehrt. Mit einem wütenden Zischen rollte sie sich schließlich zu einem Ball zusammen, wobei sie Peyres einen trotzigen Rücken zuwandte.

Adelind schloss die Augen, denn sie hatte Angst, Peyres’ Blick noch einmal zu begegnen. Widersprüchliche Empfindungen stritten in ihrem Gemüt. Sie war fast enttäuscht, nicht endlich gesehen zu haben, was Männer und Frauen miteinander trieben. Sie begriff Marcias Verhalten nicht, denn sie selbst hätte einem Mann, von dem sie dreimal geohrfeigt worden war, niemals eine derartige Gunst erwiesen. Übermächtig aber war das Gefühl von Triumph, denn sie wusste, dass sie soeben an Marcia Rache genommen hatte.

Die Ketzerin von Carcassonne

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