Читать книгу Die Ketzerin von Carcassonne - Tereza Vanek - Страница 9

4. Kapitel

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Sie brachen auf, sobald der Morgen graute. Zu Adelinds Erleichterung war es etwas wärmer geworden, und der Schnee schmolz zu schlammigen Pfützen. Nach einer Weile erreichten sie die Straße nach Köln, fügten sich in eine Kolonne aus Karren und gemächlich trottendem Fußvolk. Als das Tor der Stadtmauer vor ihnen auftauchte, schien bereits eine warme, gnädige Sonne.

Adelind zog ihre Schwester entschlossen durch das Getümmel. Niemals zuvor hatte sie derart viele Menschen auf so begrenztem Raum gesehen. Zwischen den Häusern, die enge Gassen säumten und deren obere Stockwerke über die unteren ragten, sodass sie den Himmel fast vollständig aussperrten, fürchtete sie, regelrecht erdrückt zu werden. Manchmal stockte ihr der Atem, und sie musste sich an eine der hölzernen Wände lehnen, um wieder Ruhe zu finden. Hildegards verängstigter Blick zwang sie zur Selbstbeherrschung, denn sie durfte ihre Schwester nicht im Stich lassen.

»Wenn wir all den Leuten hinterherlaufen, kommen wir vielleicht an einen größeren Platz. Irgendwo wollen die doch alle hin«, flüsterte Hildegard ihr schließlich zu. Adelind warf einen Blick auf die an ihnen vorbeirempelnden Mengen, von denen die meisten tatsächlich in dieselbe Richtung strömten. Wieder reihten sie sich in eine Kolonne ein, die nun aus Bauern mit Karren, berittenen Herren in pelzverbrämten Mänteln und auch einer Sänfte bestand, aus der kurz das mit einem hauchdünnen Schleier verzierte Goldhaar einer vornehmen Dame herausragte. Adelind erkannte die Stiftskirche von Sankt Kunibert, die sie vor vielen Jahren einmal mit Mutter Mechtildis besucht hatte, um dort dem Propst vorzusingen. Damals hatte sie die Stadt nicht als so beengend empfunden, vielleicht, weil sie in einem geschlossenen Karren gereist waren. Es ging immer weiter eine enge Straße entlang, einmal wurde nach rechts abgebogen, und als Adelind bereits meinte, dass eine Stadt nur aus unübersichtlichen Häuserschluchten bestand, da tat sich plötzlich Licht auf.

Sie sahen zahllose Hütten und Verkaufsstände, die eine weite Fläche fast vollständig bedeckten. Das Gebrüll war ohrenbetäubend. Einer der berittenen Herren nutzte nun seine Reitgerte, um vorwärtszukommen. Ein paar Fußgänger sprangen mit wütendem Heulen zur Seite und riefen ihm Flüche hinterher. Die Dame entstieg ihrer Sänfte, um gemeinsam mit ihrer Amme zu einem Verkaufsstand zu spazieren. Adelind bewunderte die leuchtenden Farben ihres Gewandes, dessen Schleppe über den Boden fegte. Eitelkeit war sündhaft, ermahnte sie sich, doch gleichzeitig hätte sie gern gewusst, ob sie in dieser Aufmachung eine ebenso elegante Erscheinung sein könnte. Hildegard, die selbst in ihrem schlichten Kittel bewundernde Blicke auf sich zog, schenkte dem Gewand erwartungsgemäß keinerlei Beachtung.

»Ich habe so schrecklichen Hunger«, murmelte sie nur. »Seit ich das Kloster verlassen habe, habe ich nichts mehr gegessen.«

Adelind wurde bewusst, dass ihr eigener Magen ebenfalls vor Leere schmerzte, obwohl Brigitta ihr gestern zum Abschied noch eine warme Brühe gebracht hatte.

»In der Hütte, gab es da gar nichts?«, fragte sie entsetzt.

»Ein paar trockene Brotrinden, aber für die musste man zahlen«, antwortete die Schwester.

Adelind fragte sich, ob die Bettler Hildegard einfach hätten verhungern lassen, nachdem sie ihr alles Geld abgenommen hatten. Was für eine Welt hatte Gott der Herr erschaffen?

»Wir essen jetzt etwas. Ich habe noch Geld«, meinte sie entschlossen. Hildegards Gesicht bekam ein wenig Farbe. Sie folgten dem verlockenden Bratengeruch, den sie in unmittelbarer Nähe wahrnahmen, und erwarben eine dicke Scheibe Schweinebraten für Adelind und eine Gemüsebrühe, die Hildegard so schnell aß, dass ihr der Sabber übers Kinn lief. Danach teilten sie sich einen Krug Bier. Es war erstaunlich, wie schnell ein voller Magen der Welt mehr Glanz und Schönheit verleihen konnte. Auf einmal wollte Adelind nicht mehr glauben, dass sie nur von Bosheit beherrscht wurde.

»Jetzt suchen wir den Schwager von Schwester Brigitta. Dort kommen wir wenigstens für ein paar Tage unter«, erklärte sie voller Tatendrang und fragte Hildegard nach dem Namen. Karl Torweger hieß er, weil sich sein Handelshaus in der Nähe des südlichen Stadttores befand. Sie irrten eine Weile durch das Treiben des Marktes, dann fragten sie einen zerlumpten Jungen, der so unauffällig wie möglich um die Verkaufsstände herumschlich. Sobald Adelind ihm das letzte Stück ihres Bratens überreicht hatte, lief er sogleich los.

Wieder ging es durch enge, vom Tageslicht nur schwach erhellte Gassen. Sie steckten bis zu den Knöcheln in Pfützen aus geschmolzenem Schnee und Schmutz, dessen Zusammensetzung Adelind besser nicht wissen wollte. Selbst der Hof des Klosters war sauberer gewesen.

»Gleich sind wir da, edle Frauen, denkt an Johann, der euch so schnell und sicher ans Ziel führte«, wandte der Junge sich erwartungsvoll zu ihr um. Adelind sah seine eingefallenen Wangen und staunte, wie alt die dunklen Schatten unter seinen Augen ihn wirken ließen, obwohl er kaum mehr als sieben Jahre zählen konnte. Nach kurzem Zögern griff sie in den Beutel unter ihrer Decke und zog einen Pfennig heraus.

»Da, nimm. Du hast uns einen großen Dienst erwiesen«, sagte sie und drückte ihm die Münze in die verdreckte Handfläche. Seine Augen blitzten freudig auf. Er zeigte mit dem Finger auf ein auffallend großes, blau gestrichenes Haus am Ende der Gasse.

»Dort wohnt Karl Torweger, der mit Tuch und Safran handelt.«

Adelind atmete erleichtert auf. Wenn dieser Mann nur einigermaßen Brigittas Beschreibung entsprach, dann waren sie erst einmal in Sicherheit.

In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür. Adelinds Herz blieb fast stehen, als sie zwei Männer in den dunklen Kutten einfacher Geistlicher erblickte. Sie versetzte Hildegard einen Schubs, um sie in einen Hauseingang zu schieben.

»Dreh dich um und tue so, als würdest du klopfen. Sieh denen bloß nicht ins Gesicht«, zischte sie. Hildegard gehorchte. Auch der kleine Johann schien sogleich zu begreifen, denn er verdrückte sich in eine dunkle Ecke. Adelind legte ihren Arm um Hildegards Schulter und versuchte, eine angeregte Unterhaltung vorzutäuschen. Im Geiste dankte sie Brigitta für die schäbig unscheinbare Kleidung, mit der auch Hildegard ausgestattet worden war. Nur die dunklen Schleier auf ihren Häuptern mochten an Nonnen erinnern, aber schlimmer wäre es gewesen, das kurze Stoppelhaar zu zeigen. In ihrem Rücken hörte sie die Füße der Geistlichen durch Schmutzpfützen planschen. Die Straße war nun recht leer, sodass auch Stimmengemurmel an ihre Ohren drang.

»Ich glaube nicht, dass sie dort ist, obwohl die Äbtissin sich fast sicher war. Er sah nicht aus wie ein Mann, der lügt, und wir haben ihm klargemacht, welche Schwierigkeiten er bekommen könnte.«

»Und wenn er sie dennoch versteckt? Sollte der Propst nicht das Haus durchsuchen lassen?«

»Das käme nicht gut an. Er ist ein angesehener, frommer Bürger, der unserem Orden regelmäßig Geld spendet, damit wir für die Seele seiner verstorbenen Frau beten. Für den Fall, dass die kleine Ausreißerin dennoch dort auftaucht, habe ich ein paar Dienern eine saftige Belohnung versprochen ...«

Adelind hörte ihren eigenen Herzschlag, während ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen schössen. Dieses Haus, in dem sie sich wenigstens für kurze Zeit Geborgenheit und Schutz erhofft hatte, wäre nichts weiter als eine Falle.

»Wir können dort nicht hin. Wir müssen weg«, zischte sie Hildegard zu und zerrte sie kurz in die entgegengesetzte Richtung, um dann in einer kleinen Seitengasse unterzutauchen. Johann, der Bettlerjunge, trabte stumm hinter ihnen her.

»Aber wohin gehen wir dann, Adelind? Hätten wir nicht besser gleich in der Hütte ...«

Adelind packte Hildegard an der Schulter und schüttelte sie.

»Du weißt doch, was sie dort früher oder später mit uns gemacht hätten.«

Hildegard blickte sie aus großen dunklen Augen an.

»Und du meinst, woanders macht man das nicht mit uns?«

Die Worte legten sich wie schwere Gewichte auf Adelinds Schultern. Manchmal vermochte ihre weltfremde Schwester die Wahrheit so viel schneller zu erfassen. Sie tat ein paar Atemzüge und dachte nach.

»Hör zu«, sagte sie erschöpft. »Vielleicht sollte ich freiwillig ins Kloster zurückgehen. Dann kannst du zu Brigittas Schwager, denn nach dir wird nicht gesucht.«

Es tat weh, als Hildegards Augen sich mit Tränen füllten.

»Dann gehe«, flüsterte sie. »Aber ich werde in die Hütte der Bettler zurückkehren. Dann bin ich in deiner Nähe, solange ich noch lebe.«

Adelind bekämpfte mühsam den Wunsch, dem zarten, lieblichen Gesicht ihrer Schwester eine Ohrfeige zu verpassen.

»Das tust du nicht, verdammt! Du darfst dich nicht immer so einfach ergeben wie bei Vater Severinus. Wenn du in dieser Welt zurechtkommen willst, dann musst du lernen, dich zu wehren und zu kämpfen.«

Hildegard lächelte sanft.

»Du weißt, dass ich es nicht kann. Gott der Herr hat mich so geschaffen, wie ich bin. Überlass mich meinem Schicksal, denn das ist sein Wille. Für dich bin ich nur eine Last.«

Adelind drückte den schmächtigen Körper mit einem Schluchzer an sich. Eine Weile standen sie stumm da und hielten einander nur fest, dann verspürte Adelind ein Zupfen an dem hinteren Zipfel ihrer Decke.

»Die Damen müssen sich verstecken, nicht wahr? Johann weiß, wo sie unterkommen können. Ein Ort, an den kein Pfaffe sich verirrt.«

Der Junge zeigte mit einem stolzen Lächeln ein paar Zahnstummel.

»Na gut, dann bring uns hin«, entgegnete Adelind. Vielleicht hatte Gott der Herr ihnen ebendiesen kleinen Bettler geschickt.

Hier wurden die Gassen nicht mehr von bunt bemalten Häusern, sondern von verfallenen Holzhütten eingesäumt. Der Schlamm war manchmal tief wie ein Bach, und er stank so erbärmlich, dass Adelind jeder Atemzug zur Qual wurde. Ausgemergelte Gestalten schleppten sich an ihnen vorbei, starrten ihnen mit unverhohlener Neugier ins Gesicht und brachen manchmal aus unerklärlichen Gründen in Gelächter aus. Einmal wurde Adelind gar am Ärmel gepackt und musste sich anzügliche Bemerkungen anhören. Sie erschrak, dass sie in der Lage war, einem am Boden liegenden Bettler Fußtritte zu versetzen, doch konnte sie sich nur dadurch aus seinem Griff befreien, der ihr den Strumpf hinunterziehen wollte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb der kleine Johann vor einem Haus stehen. Es ragte neben den elenden Hütten in dieser Gegend stolz in die Höhe, sah aber ansonsten wenig einladend aus, da die einzige Zierde der Fassade aus Schmutzflecken bestand. An zwei winzigen Fensteröffnungen hingen zerfetzte Tücher, die wohl kaum die Kälte aussperren konnten. Vor der Eingangstür lag ein Hundekadaver mit aufgerissenem Magen. Ratten hatten an ihm genagt, überlegte Adelind. Vielleicht nicht nur Ratten. Von dem Gestank wurde ihr speiübel.

»Dort sollen wir wohnen?«, wandte sie sich an den Jungen.

»Dort könnt ihr wohnen, wenn ihr euch die Miete verdient«, kam es sogleich zurück. Etwas blitzte in den müden Augen. Freude. Triumph. Auf einmal sah er nicht mehr demütig aus, sondern glich einem hinterhältigen Gnom. Dann pfiff er laut.

Drei Männer kamen wie aus dem Nichts herbeigerannt, um Adelind und Hildegard einzukreisen. Sie trugen ebenfalls Lumpen, doch wirkten ihre Körper wohlgenährt und stämmig. Narben entstellten verschmutzte Gesichter.

»Hier bringe ich zwei junge, frische Mädchen, die ihr sicher brauchen könnt«, rief Johann. Die Männer grinsten und kamen näher. Adelind hörte Hildegard wimmern. Sie ballte die Hände zu Fäusten und stellte sich schützend vor ihre Schwester, deren bezauberndes Äußeres sie besonders gefährdete.

»Wir sind Nonnen. Bräute Christi. Um Buße zu tun, sollen wir bis zum Osterfest die Kleidung gewöhnlicher Mägde tragen. Doch wer uns berührt, wird auf ewig in der Hölle schmoren«, schrie sie aus Leibeskräften.

Die Männer blieben zu ihrer Erleichterung tatsächlich stehen, dann begann der Größte von ihnen zu lachen.

»Selbst wenn diese Geschichte wahr ist, in der Hölle schmore ich auch so. Vorher will ich noch etwas Spaß im Leben haben.«

Er trat einen Schritt vor, und seine Kumpane folgten nach kurzem Zögern. Adelind sah sich ratlos nach einem Gegenstand um, mit dem sie sich verteidigen könnte, denn an ein Entkommen war nicht zu denken.

»Matthei, die sehen wirklich aus wie Nonnen. Sieh dir doch diese ernsten, frommen Gesichter an!«, rief plötzlich eine fremde Männerstimme im Hintergrund. »Lass sie besser laufen. Oder willst du Ärger mit den Pfaffen von Sankt Kunibert? Das sind diese zwei Krähen nicht wert, du hast doch genug Weiber.«

Adelind erblickte einen vierten Mann, der außerhalb des Kreises stand. Er trug eine Tunika aus rotem Tuch, doch auch ohne diese leuchtende Farbe wäre er aufgefallen. Sein Gesicht war erstaunlich dunkel, als sei es von der Sonne verbrannt worden, die doch seit Monaten nur noch schwach schien. Augen und Locken funkelten schwarz wie Obsidian. Als er grinste, bildeten seine Zähne einen erstaunlich weißen Kontrast.

»Weiber kann man nie genug haben. Das weißt du doch selbst am besten, Peyres«, entgegnete der größte der Angreifer, doch das gierige Funkeln in seinen Augen war einer gewissen Unsicherheit gewichen. Er unterzog Adelind und Hildegard einer sehr genauen Musterung.

»Die eine sieht aus wie eine Madonnenstatue, und die andere hat so einen komischen Blick, wie Pfaffen, die ihre Nase zu oft in Bücher stecken«, zischte er und spuckte aus. »Wo hast du die denn aufgesammelt, Johann? Willst du mir den Bischof persönlich auf den Hals hetzen?«

Der Bettlerjunge fuhr wie unter einem unsichtbaren Hieb zusammen.

»Das sind entlaufene Nonnen. Die Pfaffen suchen nach ihnen. Sie müssen sich verstecken«, rief er sogleich und erwiderte Adelinds vorwurfsvollen Blick mit einem Schulterzucken.

»Siehst du, Matthei«, redete der dunkle Mann unbeirrt weiter. »Wenn die Pfaffen sie hier finden, gibt es Ärger. Also jag sie weg, gleich auf der Stelle.«

»Aber wenn wir sie verstecken, dann finden die Pfaffen sie nicht«, protestierte Johann. Matthei sah trotz grimmiger Miene weiter ratlos drein, und Adelind kam nicht gegen den Eindruck an, dass ein rasches Erfassen einer ungewöhnlichen Lage nicht zu seinen starken Seiten gehörte.

Sie holte Luft und knickste. Sie musste versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.

»Wir sind in der Tat Nonnen. Wir besuchten das Stift von Sankt Kunibert, dann wollten wir uns noch ein wenig die Stadt ansehen und haben uns verirrt. Jetzt gehen wir einfach ins Kloster zurück und werden die Begegnung mit euch vergessen. Gott der Herr segne euch.«

Sie ergriff Hildegards Hand und schaffte es, an den zwei Kumpanen Mattheis vorbeizukommen. Hocherhobenen Hauptes versuchte sie, so ruhig wie möglich aus dem Blickfeld der Männer zu entschwinden.

»Sie hat Geld«, erklang plötzlich die Stimme des kleinen Johann. »Die Große, die immer den Mund aufmacht. Sie hat einen Beutel voller Geld am Gürtel.«

Adelind wurde schwindelig, als sie das Donnern von Schritten hinter sich hörte. Mit einem energischen Atemzug rannte sie los und zerrte Hildegard hinter sich her. Der Schlamm spritzte ihr ins Gesicht, als sie durch die Pfützen lief. Weiter und immer weiter. Warum war es nur ein so endloser Weg bis zur nächsten Seitenstraße? Sie hörte ein Rasseln in ihrer Brust. Das Herz würde ihr gleich vor Anstrengung zerspringen, denn sie war ein solches Rennen nicht gewöhnt.

Ein Griff riss sie zurück. Sie trat und biss, dann traf eine Ohrfeige ihre Wange. Sie schrie vor Schmerz und Zorn. Das dunkelhäutige Gesicht von diesem Peyres war nun so nahe, dass sie es hätte zerkratzen können, doch hatte er ihr die Hände auf den Rücken gezwängt. Seine Augen blitzten. Dunkle Augen. Teufelsaugen. Auf eine sehr fremde Art waren sie schön.

»Hör zu, Mädchen. Wenn dir deine Keuschheit auch nur einen Pfifferling wert ist, dann verzichte auf das Geld«, zischte er. Auch seine Sprache klang fremd, hart und gleichzeitig wie Gesang. »Der Beutel wird sie eine Weile ablenken, und du nimmst dein kleines Schwesterchen und rennst um dein Leben. Matthei ist wahrlich nicht der Hellste, aber irgendwann wird auch er kapieren, dass die Pfaffen euch bei ihm nie und nimmer finden. Denn wenn sie sich zu ihm verirren, dann reden sie nicht darüber.«

Er lachte. Adelind zappelte eine Weile in seinem Griff, dann drang der Sinn seiner Worte in ihren Verstand. Sie atmete tief durch, nickte und wurde losgelassen. Es tat weh, als sie den Beutel von ihrem Gürtel entfernte. Fast als würde ihr eine Hand abgehackt. Peyres packte ihn sogleich, um ihn in die Luft zu werfen.

»Seht her, davon können wir feiern, bis wir uns nicht einmal mehr an unsere Namen erinnern«, rief er. Adelind begriff, dass Matthei und seine Kumpane in Hörweite sein mussten.

»Ich habe ein Recht auf einen Anteil«, krächzte Johann. »Ich habe sie hierhergebracht.«

Er versuchte, Peyres den Beutel zu entwinden, wurde aber mit einem Tritt zur Seite gefegt. Dann erhielt auch Adelind einen Schubs, der sie fast umfallen ließ.

»Renn«, flüsterte Peyres. »Lauf endlich!«

Sie gehorchte. Es ging weiter ins Dickicht der Gassen dieser schmutzigen, verwahrlosten Gegend. Wo waren sie hergekommen? Und welcher Weg führte wieder hinaus? Adelind lief, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Dann trat einer ihrer Füße plötzlich ins Leere. Sie kippte vorwärts, rieb sich die Handflächen an einer rissigen Hauswand auf und landete mitten in dem stinkenden Braun der Straße. Eine Flamme aus Schmerz loderte in ihrem rechten Knöchel auf.

»Bist du verletzt?«, flüsterte Hildegard. Adelind schüttelte trotzig den Kopf und zwang sich wieder auf die Beine. Da ihre Kleider nass geworden waren, begann sie vor Kälte zu schlottern. Sie musste sich bewegen, um warm zu werden, doch schon als sie den ersten Schritt tun wollte, wurde das Brennen in ihrem Knöchel zu einem flammenden Inferno, das ihren ganzen Körper erfasste.

Sie begann zu schreien und schlug sich die Hände vors Gesicht, während die Beine unter ihr erneut nachgaben. Sie hatte versucht, in dieser unerwartet feindseligen Welt zu überleben, alles getan, was sie vermochte, aber bereits am ersten Tag hatten sie keine einzige Münze mehr, und zudem vermochte sie nicht einmal zu laufen. Bald schon hätten Matthei und seine Männer sie eingeholt, oder die anderen Elendsgestalten dieser Gegend würden sich auf sie stürzen. Selbst wenn sie bereit wäre, ins Kloster zurückzugehen, zu schaffen war es nun nicht mehr.

Ein Strom von Tränen überflutete Adelinds Wangen, während Hildegard ihr tröstend den Rücken streichelte.

»Es tut mir so schrecklich leid«, murmelte sie. »Aber bitte, versuch aufzustehen. Ich werde dich stützen.«

Mit gemeinsamer Kraft schafften sie es tatsächlich, sich beide wieder aufzurichten, doch war jeder Schritt für Adelind eine derartige Qual, dass sie nur sehr langsam vorwärtskamen. Es erstaunte sie nicht einmal, als sie im Hintergrund eine bereits bekannte Stimme vernahm.

»Da sind sie, los, kommt alle her!«

Müde wandte sie sich zu Johann um. Er wirkte so kindlich in seiner Verschlagenheit und gleichzeitig so elend, dass sie ihn nicht wirklich zu hassen vermochte.

»Lass uns doch einfach in Ruhe! Für dein Verhalten kannst du in die Hölle kommen«, mahnte sie nun durchaus ernsthaft. Er zog eine Grimasse.

»In der Hölle, edle Frau, da sehen wir uns eines Tages alle wieder.«

Fröhlich kichernd sprang er um Adelind und Hildegard herum. Wasser spritzte in die Höhe. Sie bemerkte mit Entsetzen, dass er weder über Schuhwerk noch über Stoffbinden an den Füßen verfügte. Frostbeulen entstellten seine Zehen, die nicht mehr vollständig waren. Am linken Fuß fehlten bereits drei.

Im Hintergrund planschten weitere Schritte. Adelind empfand seltsame Erleichterung, als sie die kräftig eingefärbte Tunika und das dunkelbraune Gesicht von Peyres erblickte. Ein roter Stein funkelte in seinem linken Ohrläppchen. Selbst seine Beinlinge, die in Lederstiefeln steckten, waren in erstaunlich gutem Zustand, hellbraun, nur mit ein paar frischen Schmutzflecken bedeckt und ohne sichtbare Risse. Sündhafte Eitelkeit, befand sie, doch gleichzeitig brachte er ein wenig Farbe in diese elende, schmutzige Welt.

»Na, weit sind die Damen ja nicht gekommen«, sagte er und zeigte wieder leuchtend weiße Zähne.

»Los, wir bringen sie zurück«, meldete Johann sich erneut und erhielt einen Klaps auf den Rücken.

»Lauf du wieder zu Matthei und sorge dafür, dass er dir wenigstens eine ordentliche Mahlzeit gibt, bevor er das ganze erbeutete Geld versoffen hat«, riet Peyres. »Ein paar Karaffen Wein machen ihn unglaublich großzügig, also nütze deine Gelegenheit.«

Johann verzog sich ohne Widerrede. Adelind holte Luft.

»Ich danke Euch für Eure Hilfe, mein Herr«, erklärte sie. Der Versuch, erneut zu knicksen, scheiterte an den Schmerzen, die jede Bewegung auslöste.

»Sie hat sich am Fuß verletzt«, fügte Hildegard hinzu. »Sie kann nicht mehr laufen.«

Peyres zog die rabenschwarzen Brauen hoch.

»So viele Prüfungen des Allmächtigen an einem einzigen Tag.«

Das Funkeln seiner Augen schien eher spöttisch denn mitfühlend.

»Welcher Fuß ist es denn?«

»Der rechte«, erwiderte Hildegard, bevor Adelind hatte selbst antworten können.

Peyres trat an Adelind heran, ging in die Hocke und griff zu ihrem Entsetzen unter ihren Rock, um sowohl den Holzschuh als auch den Strumpf von ihrem verletzten Fuß zu entfernen. Sie zuckte, vermochte sich aber nicht zu wehren. Rasch tasteten seine Finger über ihre Haut.

»Es wird noch ein paar Tage höllisch weh tun, aber mit der Zeit vergeht es von selbst. Die fromme Braut Christi sollte erst einmal sitzen oder auch knien, wenn Gott der Herr es verlangt, aber keinesfalls zu viel laufen. Das muss eine Nonne ja nicht unbedingt.«

Er richtete sich wieder auf.

»Ich kann Euch helfen, in Euer Kloster zu kommen«, schlug er vor. »Jedenfalls bringe ich Euch in die Nähe des Eingangstors. Drinnen mag man meinesgleichen nicht.«

»Das wäre sehr edelmütig von Euch. Wir werden für Euer Seelenheil beten«, stimmte Hildegard sogleich zu. Adelind versteifte sich.

»Wir können nicht zurück. Meine Schwester wurde aus dem Kloster verbannt. Ein gottloser Priester trägt die Schuld daran. Ich bin geflohen, um sie nicht alleinzulassen. Man sucht bereits nach mir.«

Nun, da es ausgesprochen war, wurde ihr leichter ums Herz. Peyres runzelte die Stirn. Mit seinem tadellosen Lederstiefel versetzte er der morschen Hauswand neben sich einen Tritt. Etwas Holz splitterte ab.

»Klingt reichlich verzwickt, Eure Geschichte. Aber zwei Unschuldslämmer kommen in dieser Welt nicht unbedingt besser zurecht als ein einziges.«

Sein Blick wanderte von Hildegard zu Adelind und dann wieder zurück.

»Ein Gesicht wie dieses«, meinte er mit einem Nicken in Hildegards Richtung, »kann ausreichen, um ein junges Mädchen am Leben zu erhalten. Nur brauchte sie ein schönes Kleid, in dem sie nicht wie eine billige Straßendirne aussieht, damit die Männer etwas mehr Geld für ihre Gunst springen lassen oder ein reicher Herr sie gar ganz für sich allein haben möchte. Ich könnte da vielleicht ein bisschen nachhelfen. Und was Euch betrifft ...«

Er sah mit ungewohntem Ernst in Adelinds Augen.

»Ihr habt Mut und Verstand, das habe ich bemerkt. Aber überlegt es Euch gut. Nach dem, was Ihr bereits von dieser Welt gesehen habt, wollt Ihr da nicht lieber zurück ins Kloster und reumütig Buße tun?«

Adelind stemmte sich entschlossen gegen die Hauswand.

»Ich wäre im Kloster geblieben, wenn es nicht um meine Schwester ginge. Zu dem Leben, das Ihr und auch viele andere Menschen ihr voraussagen, ist sie nicht geschaffen. Ich werde dafür sorgen, dass sie es nicht führen muss.«

Peyres neigte den Kopf zur Seite. Hildegards leise Worte des Protestes überhörte er, stattdessen legte sich sein Arm um Adelinds Taille.

»Meine Leute lagern vor dem Stadttor. Wir haben einen verdeckten Wagen und ein Lagerfeuer. Ihr könnt dort beide bleiben, bis wir weiterziehen, aber das wird schon diese Woche geschehen. Bis dahin solltet ihr euch überlegt haben, wie es weitergehen soll.«

Er setzte sich in Bewegung, und Adelind hüpfte tapfer neben ihm her. Hildegard folgte mit gesenktem Blick. Als Adelind keinen Hüpfer mehr tun konnte, da ihre Knie einsackten, warf Peyres sie schwungvoll über seine Schulter. Es war weder eine sonderlich bequeme, noch würdevolle Position, doch kamen sie so schneller aus der Stadt hinaus.

»Ihr scheint ein sehr edelmütiger, gutherziger Mensch«, erklärte Adelind, während ihre Wange an dem roten Leinenstoff auf Peyres Rücken klebte. »Wie kommt es, dass Ihr Menschen wie diesen Matthei kennt?«

Sie hörte ihn lachen und sah im Geist das Weiß seiner Zähne.

»Gott der Herr, zu dem Ihr jahrelang gebetet habt, hat diese Welt so erschaffen, wie sie ist. Und ebendiese Welt lässt Menschen so werden wie Matthei. Fragt ihn beim nächsten Gebet, was er sich dabei gedacht hat. Ich kenne übrigens sehr viele Leute.«

Hinter dem Stadttor tat sich eine glitzernde Schneelandschaft auf. Die Flocken fielen wieder, doch in der Enge des Elendsviertels waren sie Adelind kaum aufgefallen. Sie bemerkte, dass ihre Zähne inzwischen vor Kälte klapperten.

Vor einem brennenden Feuer blieb Peyres stehen, ließ Adelind sanft wieder zu Boden gleiten, sodass sie sich sehnsüchtig der Wärme entgegenstrecken konnte. Um sie herum fielen Schatten auf das eisige Weiß. Füße knirschten im Schnee. Eine dunkle Frauenstimme rief ein paar unverständliche Worte. Sie hörte Peyres antworten, doch vermochte sie auch ihn nicht zu verstehen. Es war eine fremde Sprache, hart und melodisch.

»Es ist sehr gütig von euch allen, uns aufzunehmen«, sagte Hildegard so leise, dass sie kaum zu hören war. Adelind blickte hoch. Über ihr schwebten drei fremde Gesichter. Ein alter, faltiger Mann, ein blasser Jüngling und schließlich eine Frau mit ebenso dunklem Haar wie Peyres, doch wesentlich hellerer Haut, deren ebenmäßige Glätte an Marmor erinnerte.

»Das sind meine Gefährten«, erklärte Peyres. »Simon, ein Wahrsager. Der Zahnkünstler Antonius. Und schließlich Marcia, die singt und tanzt. Dank ihr verdienen wir das meiste Geld. Wir sind fahrendes Volk.«

Im Hintergrund erblickte Adelind einen Wagen mit lederner Abdeckung, in dem sie bald darauf alle verschwanden, um sich vor dem Schneetreiben zu schützen. Zwei auf dem Lagerfeuer erhitzte Steine spendeten karge Wärme. Decken wurden über Schultern gelegt. Adelind teilte die ihre mit Hildegard und Peyres. Es tat erstaunlich wohl, den starken Körper des dunklen Mannes an ihrer Seite zu wissen.

»Wohin werdet ihr fahren, wenn ihr Köln verlassen habt?«, fragte sie.

»Gen Süden«, erwiderte Peyres. »Nach Dun am Fuße der Pyrenäen. Mein Zuhause und auch das von Marcia.«

Adelind fragte sich, wo dieser Ort wohl liegen mochte, denn sie hörte beide Namen zum ersten Mal in ihrem Leben.

»Hat fahrendes Volk denn ein Zuhause?«, meldete sich Hildegard plötzlich zu Wort. Peyres musterte sie nur kurz.

»Jeder Mensch ist irgendwo geboren.«

Hildegard nahm es hin. Adelind löffelte gierig die angebotene Suppe. Sie überlegte, wie froh ihre Schwester sein musste, dass die Nahrung des fahrenden Volkes kein Fleisch enthielt.

Bald darauf begann es zu dämmern, und sie legten sich nieder. Erleichtert, einen Unterschlupf für die nächste Nacht zu haben, kroch Adelind mit Hildegard unter eine Decke. Sie hörte den Wahrsager Simon husten. Antonius stieß rhythmische Schnarchgeräusche aus. Sie selbst fiel sehr schnell in einen bleiernen Schlaf, doch als ihre Augen sich öffneten, war es immer noch finstere Nacht. Der Schmerz pochte in ihrem Fuß, aber sie wusste, dass sie nicht allein davon aufgewacht war. Es musste die Zeit der Nokturn sein. Ihr Körper gehorchte selbst in völlig erschöpftem Zustand jahrelanger Gewohnheit.

Aus tiefstem Herzen dankbar, in dieser eisigen Kälte nicht aufstehen und beten zu müssen, schloss sie wieder die Augen. Sie hörte Geräusche, ein Flüstern, Kichern und Seufzen. Beunruhigt sah sie sich erneut um. Die Decke, unter der Peyres und Marcia neben ihr lagen, regte sich wie ein in seinem Schlaf gestörtes Waldtier. Ein nackter Fuß stieß daraus hervor, während die Geräusche lauter wurden. Marcia hatte zu wimmern begonnen, doch schwangen weder Schmerz noch Angst in diesen Lauten mit. Adelind wollte bereits nachfragen, was da vor sich ging, als die Erkenntnis sie wie eine Ohrfeige traf. Ihr Körper verkrampfte sich vor Widerwillen. Besorgt blickte sie zu Hildegard. Ihre Schwester atmete tief und ruhig, gnädiger Schlaf bewahrte sie davor, Zeugin der Sünde in ihrer unmittelbaren Nähe zu werden.

Ein langes Stöhnen von Peyres beendete das Schauspiel. Adelind atmete erleichtert auf, denn nun würde sie hoffentlich in Frieden bis zum Morgen schlafen können. Bilder tauchten unter ihren Lidern auf. Die feuchten, selbstgefälligen Lippen von Vater Severinus. Das geschwollene Stück Fleisch zwischen den Schenkeln des Bettlers in der Hütte. Es erstaunte sie, dass Marcia sich nicht weniger zufrieden angehört hatte als Peyres, denn die Fleischeslust schien eine widerwärtige Beschäftigung für Frauen.

Adelind wälzte sich herum. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie befallen. Es dauerte sehr lange, bis der Schmerz an ihrem Knöchel ihr erlaubte einzuschlafen.

Peyres war bereits im Morgengrauen verschwunden, bevor Marcia einen Laib Brot hervorgeholt hatte, den sie sich alle als Morgenmahl teilen sollten, doch schliefen die zwei anderen Männer noch ebenso wie Hildegard. Nur Adelind saß kauend neben ihr vor dem Lagerfeuer. Die Sonne wärmte endlich wieder.

»Du magst ihn, nicht wahr?«, fragte Marcia plötzlich. In ihrer Sprechweise lag ein fremder Klang, ebenso wie bei Peyres. Adelinds Wangen brannten.

»Er hat meiner Schwester und mir geholfen. Dafür bin ich natürlich dankbar.«

Marcia sah ihr auffordernd ins Gesicht. Adelind musterte die großen Augen mit den fein geschwungenen Brauen, pechschwarze Locken und die makellose, glatte Haut. Das Gesicht der Gauklerin lief am Kinn spitz zu und erinnerte an ein Wiesel, doch schien die Fremde ein liebliches wildes Tierchen. Bunte Steine glänzten in ihren Ohrläppchen. Ihr Kleid war farbenfroh, als seien verschiedene Stofffetzen zusammengenäht worden.

»Reine Dankbarkeit ist es nicht. Erzähl mir keine Märchen«, erwiderte Marcia. »Ich weiß, wie du ihn ansiehst.«

Adelind begann trotz der eisigen Kälte zu schwitzen.

»Du kannst ihn kriegen, wenn du dich geschickt anstellst«, sagte die dunkle Schöne. »Er lässt kein Weib aus, das ihn reizt. Aber ich bin es, die mit ihm weiterzieht. So wird es auch bleiben.«

»Ich will ein gottgefälliges Leben führen«, antwortete Adelind. Marcia stieß ein Kichern aus, führte das Gespräch aber nicht fort. Stattdessen reichte sie Adelind einen Becher Milch, der dankbar angenommen wurde.

Fahrendes Volk, überlegte Adelind, fuhr von Ort zu Ort. Bald schon würde es sich weit von Köln entfernt haben, wo Mutter Mechtildis nach ihr suchen ließ.

Die Ketzerin von Carcassonne

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