Читать книгу Die Ketzerin von Carcassonne - Tereza Vanek - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеDas Gespräch mit der Äbtissin fiel weitaus kürzer aus als erwartet. Mutter Mechtildis lauschte mit ernster, aber unbewegter Miene, dann forderte sie Adelind auf, wieder zu den anderen Schwestern zu gehen. Zwei Wochen vergingen, ohne dass sie von irgendeiner Entscheidung in Kenntnis gesetzt wurde. Der Alltag im Kloster verlief in seiner vertrauten Regelmäßigkeit, nur dass Hildegard weiterhin im Krankenzimmer blieb. Adelind besuchte sie stets nach der Vesper und stellte beruhigt fest, dass ihr Gesicht allmählich mehr Fülle und Farbe bekam. Schwester Brigitta war eine hervorragende Heilerin, doch wenn Adelind sich erkundigte, ob Hildegard bald schon zu den anderen Nonnen zurückkehren konnte, meinte sie nur knapp, dies sei von der Äbtissin nicht erwünscht. Adelind überlegte, ob ihre Schwester das Kind hier im Krankenzimmer heimlich zur Welt bringen sollte. Aber wollte man sie wirklich für die nächsten Monate einsperren? Sie mahnte sich zur Ruhe, denn sie wusste, dass ungeduldiges Nachfragen nur die Gewitterwolken des Missfallens der Äbtissin auf ihr Haupt ziehen würde. So wartete sie von einem Tag zum nächsten, während der Wind um die Mauern des Klosters pfiff und heftige Schneestürme durch die Ritzen der Fensterläden in die Räume bliesen.
Am Samstag wurden wie üblich nach der Vesper die Füße und Hände der Nonnen gewaschen, eine Aufgabe, die gemäß den alten Regeln der Äbtissin selbst zugefallen wäre, doch Mutter Mechtildis überließ es den Konversschwestern, überprüfte lediglich deren Arbeit. Adelind schlüpfte gehorsam aus ihren wollenen Socken, obwohl es im Kapitelsaal unangenehm frostig war, und ließ ihre Füße in den Bottich sinken. Das warme Wasser tat wohl. Als sämtliche Schwestern gesäubert waren, wartete sie mit knurrendem Magen auf das bevorstehende abendliche Mahl, doch Mutter Mechtildis stellte sich mit wichtiger Miene vor die versammelten Nonnen.
»Ich habe einige Neuigkeiten zu verkünden. Wie ihr alle wisst, ist unser Kloster noch sehr jung. Es wurde erst vor ungefähr zwanzig Jahren gegründet, und mir wurde die Ehre zuteil, seine zweite Äbtissin zu sein. Vor einigen Jahren hat Pater Oldrich uns verlassen. Nun wird auch Pater Severinus fortgehen, denn seine Dienste werden an einem anderen Ort benötigt. Der Propst von Sankt Kunibert wird uns bald schon einen anderen Priester schicken.«
Adelind fühlte eine schwere Last von ihren Schultern gleiten. Die Welt war ein viel angenehmerer Ort ohne Vater Severinus in der Nähe.
»Und außerdem«, fuhr Mutter Mechtildis auch schon fort, »wird Schwester Hildegard uns im Laufe der nächsten Woche verlassen. Da sie sich trotz ihres Gelübdes nicht dazu berufen fühlt, eine Braut Christi zu sein, habe ich beschlossen, sie ins weltliche Leben zurückkehren zu lassen. Der Propst ist mit meiner Entscheidung einverstanden.«
Staunendes Murmeln erklang. Die Äbtissin hob die Hand, um an die Schweigepflicht zu erinnern, von der nur sie allein sich enthoben fühlte. Adelind bekämpfte mit aller Kraft den Drang, aufzuspringen und ihre Fragen durch den Saal zu brüllen. All dies ergab keinen Sinn, denn Hildegard war diejenige von ihnen beiden, die niemals mit ihrem Schicksal als Nonne gehadert hatte. Es fiel schwer, sie sich in einem anderen Leben vorzustellen, so vergeistigt und weltabgewandt, wie sie war. Wollte man sie einfach nur heimlich in ein anderes Kloster schicken und neugierigen Fragen vorbeugen, indem man den anderen Nonnen die Wahrheit verschwieg? Sie versuchte, sich von dieser Erklärung zu überzeugen, obwohl sie zahlreiche Widersprüche aufwies. Das Atmen fiel ihr wieder leichter. Sie würde erst nach dem abendlichen Mahl eine Gelegenheit finden, mit Mutter Mechtildis zu reden, und bis dahin musste sie einen einigermaßen gefassten Eindruck machen. So zwängte sie Brot, Käsewürfel und Speckscheiben in ihren Magen, obwohl ihr jeglicher Appetit vergangen war. Indem sie alle Aufmerksamkeit auf das Essen richtete, konnte sie die Versuche der anderen Schwestern abwehren, ihr durch Gesten oder stumme Lippenbewegungen Fragen über Hildegard zu stellen.
Die Äbtissin beendete das Mahl nun früher als gewöhnlich, denn sie wollte sich bis zum Komplet in ihren eigenen Gemächern der Verwaltung des Klosters widmen. Adelind wartete ab, bis die anderen Schwestern sich auf Bibliothek, Skriptorium und Kapitelsaal verteilt hatten, um dann heimlich die schmale Wendeltreppe zu den Privaträumen der Äbtissin zu erklimmen. Sie klopfte zögernd. Sie wusste, ihr Verhalten war dreist, denn sie sollte warten, bis sie gerufen wurde. Mutter Mechtildis bat sie ohne Zögern herein. Sie sah nicht überrascht aus und glücklicherweise auch nicht verärgert.
»Bénédicte«, grüßte Adelind mit ehrfurchtsvoll gesenktem Haupt. »Dominus«, ergänzte Mechtildis die Grußformel. »Fassen wir es kurz, meine Tochter. Du möchtest wissen, was nun mit Hildegard geschehen soll.«
»So ist es, ehrwürdige Mutter«, entgegnete Adelind. Mutig hob sie den Kopf. Das Gemach der Äbtissin war klein, aber mit prächtigen Möbeln eingerichtet. Drei Kerzen flackerten auf dem Tisch, hinter dem Mutter Mechtildis thronte, und erhellten das große Kreuz an der Wand sowie zahlreiche Statuen, die, wie Adelind einfiel, durchaus gut in den Kapitelsaal oder die Kirche gepasst hätten.
»Nun«, begann die Äbtissin, »deine Schwester wird uns verlassen müssen, wie ich schon sagte. Ich habe einen Brief an euren Vater, den Herrn Ullrich von Hohenstein, geschrieben und ihn gebeten, die zum Leben in Keuschheit sichtlich ungeeignete Tochter wieder bei sich aufzunehmen. Seine Antwort kam sehr schnell.«
Sie holte eine Schriftrolle aus dem Regal hinter ihrem Stuhl, um sie Adelind entgegenzuhalten.
»Möchtest du selbst lesen, mein Kind? Oder soll ich es für dich tun?«
Adelind streckte ihre Hand aus. Mit schnell pochendem Herzen beugte sie sich vor, um im Licht der Kerzen besser sehen zu können. Als sie versuchte, das Pergament aufzurollen, entglitt es mehrfach fast ihren Fingern, deren Zittern sie nicht zu bändigen vermochte. Schließlich taten sich Buchstaben vor ihr auf. Der Text war auf Latein, ihr Vater musste über einen eigenen Schreiber verfügen, denn sie vermochte den riesigen, lärmenden Mann, der vage in ihrer Erinnerung schwebte, nicht mit Bildung in Einklang zu bringen.
Sie las. Die Worte schlugen wie Hammerschläge in ihr Bewusstsein, vermochten zunächst keinen klaren Zusammenhang zu ergeben, doch nach und nach begriff sie die wesentliche Botschaft: Die verderbte, sittenlose Tochter war auf der väterlichen Burg nicht mehr erwünscht, die ehrwürdige Äbtissin sollte mit ihr verfahren, wie sie es für richtig hielt.
Mit letzter Kraft hielt Adelind sich aufrecht, obwohl ihr war, als hätte sie einen heftigen Tritt in den Magen erhalten. All die Jahre hatte sie geglaubt, dass ihr stets abwesender Vater dennoch Gefühle für seine Töchter hegte, dass sie zu ihrem eigenen Wohl im Kloster untergebracht worden waren, da er nicht über die Mittel verfügte, ihnen eine angemessene Mitgift zu bezahlen. Die Aufnahme in einem Kloster war nicht ganz so teuer. Doch wie konnte er sein eigenes Kind derart verdammen, ohne ihm wenigstens eine Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben?
Er hatte zwei lästige Töchter loswerden wollen, nichts weiter.
»Wie du siehst, kann ich Hildegard nicht nach Hause schicken«, riss die Stimme der Äbtissin sie aus ihren Gedanken. »Aber hierbleiben kann sie auch nicht. Sie hat bereits genug Ärger gemacht. Vater Severinus ist ein gottesfürchtiger Mann, doch leider nicht ganz frei von den Schwächen seines Geschlechts. Es schmerzt mich, ihn fortzuschicken. Soll auch sein Nachfolger der Versuchung erliegen, die von der Schönheit einer sündigen Nonne ausgeht?«
Adelind streckte die Hand aus, um sich am Tisch festzuhalten. Wie hatte die Äbtissin ihren Bericht derart missverstehen können?
»Aber Hildegard trifft doch keine Schuld«, stammelte sie. »Sie hatte einfach Angst, sich zu wehren und gleich um Hilfe zu rufen, das ist alles.«
Mutter Mechtildis lächelte auf eine Art, die sie plötzlich sehr unangenehm fand.
»Ich verstehe, dass dir die Dinge so scheinen, meine Tochter. Du liebst deine Schwester. Aber vergiss nicht, dass nun auch die anderen Nonnen hier deine Schwestern sind. Unser Kloster ist noch sehr jung, das einzige allein von Frauen geführte Gotteshaus in der Nähe Kölns. Wir haben in den letzten Jahren viel neues Land von frommen Herren erhalten und müssen darauf achten, dass unser Haus nicht in Verruf gerät. Daher kann ich hier keine Nonne dulden, deren Lebenswandel nicht den Geboten des Ordens entspricht.«
Adelind schnappte nach Luft. Sie wusste, dass ihre Stimme nun unpassend laut werden würde, vermochte sich aber nicht zu beherrschen.
»Hildegards Lebenswandel entsprach den Geboten, bis ein Beichtvater erschien, dessen Lebenswandel ihnen nicht entsprach!«
Mutter Mechtildis richtete sich nun auf. Sie konnte imposant wirken in ihrer satten Rundlichkeit. Die eng zusammengepressten Kiefer ließen ihre Wangen breiter werden.
»Du hast eine scharfe Zunge, Adelind. Lerne sie zu mäßigen«, zischte sie. »Auch wenn du es selbst nicht wahrhaben willst, ist deine Schwester von sündhafter Schönheit und legte stets ein Verhalten an den Tag, das von der Sehnsucht nach Aufmerksamkeit zeugte. Ihre stete Weigerung, Fleisch zu essen ...«
»Sie mag es eben nicht!«, unterbrach Adelind. »Warum musste sie stets gezwungen werden, es zu essen, sodass jede Mahlzeit eine Qual für sie war? Es gibt so viele Bettler draußen vor dem Tor, die ...«
»Es reicht!«
Nun war die Stimme der Äbtissin laut geworden.
»Du hast kein Recht, meine Entscheidungen infrage zu stellen! Vor drei Jahren warst du noch Novizin. Bändige deinen Hochmut, er ist sündhaft.«
Adelind verkrampfte die Hände in ihrem Schoß. Ihr war klar, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatte. Auf diese Weise half sie Hildegard nicht.
»Ich bitte Euch, meine Unverschämtheit zu entschuldigen, ehrwürdige Mutter«, murmelte sie. »Doch Hildegard handelte niemals aus Sehnsucht nach Aufmerksamkeit. Sie ist auffallend schön, das weiß ich, aber sie selbst weiß es nicht, weil sie noch nie in einen Spiegel geblickt hat. Selbst wenn es ihr erlaubt wäre, würde sie es nicht tun, denn ihr Äußeres ist ihr völlig gleichgültig.«
Mutter Mechtildis wiegte den Kopf hin und her. Sie machte ein leises Schnalzgeräusch mit der Zunge. Ihr Gesicht hatte sich zum Glück ein wenig entspannt.
»So siehst du die Dinge, doch die Ereignisse erzählen eine andere Geschichte. Aber wie dem auch sei, Hildegard muss gehen. Ich habe bereits mit ihr gesprochen. Sie hat meine Entscheidung hingenommen, also tue du es bitte auch.«
Das Gemach begann sich um Adelind zu drehen. Ihr Atem stockte.
»Aber ... aber wo soll sie denn hin, wenn unser Vater sie nicht mehr will?«, stammelte sie.
Mutter Mechtildis sank mit einem Seufzer wieder auf ihren Stuhl.
»Wohin sie geht, das muss sie selbst entscheiden. Ich habe ihr etwas Geld gegeben, einen Teil dessen, was euer Vater einst dem Kloster zahlte, als es euch aufnahm. Das war sehr großmütig von mir. Und bedenke bitte, Adelind, dass es durchaus harte Strafen für Nonnen gibt, die ihr Gelübde brachen. Ich hatte Erbarmen mit deiner Schwester, indem ich keine von ihnen verhängte.«
Die Geschichte von der Nonne und dem Ritter stieg in Adelinds Erinnerung hoch. Sie stützte sich an dem Tisch ab, um nicht in die Knie zu sinken. Bisher hatte sie das Leben im Kloster als erträglich empfunden, obwohl sie manchmal von verbotenen Sehnsüchten heimgesucht wurde. Jetzt begann es sich in einen bösen Traum zu verwandeln.
»Ihr erspart ihr gnädig den Hungertod hinter Mauern«, flüsterte sie. »Doch sie ist dazu verdammt, allein im Freien zu erfrieren oder ebenfalls an Hunger zu sterben.«
»Na, na, Adelind, so schlimm muss es nicht kommen. Für eine so reizvolle Frau wie Hildegard gibt es stets Möglichkeiten zu überleben«, meinte die Äbtissin nun durchaus freundlich. »Mach dir keine Sorgen und vertraue auf Gott. Besinne dich auf deine Aufgaben hier im Kloster. Du hast bemerkenswerte Fähigkeiten, deine Gesangsstimme ist herausragend, und du bist geschickt im Unterricht mit den Novizinnen. Ich bin sehr froh, dich hier zu haben.«
Adelind schüttelte ungläubig den Kopf. Mutter Mechtildis hatte sie niemals zuvor derart gelobt. Sie schien vor etwas Angst zu haben, denn ihr Lächeln wirkte sehr gekünstelt.
»Und wenn ich nun mit ihr fortgehen will?«, sagte sie. Die Äbtissin beugte sich vor und legte beide Hände auf den Tisch.
»Du kannst nicht fort. Du hast ein Gelübde abgelegt. Im Fall deiner Schwester habe ich eine Ausnahme gemacht, und der Propst wird sie davon befreien, aber bei dir besteht hierzu kein Anlass, auch wenn dein Verhalten heute Abend durchaus Grund zu Tadel gibt. Hildegard hat das Kloster bereits verlassen. Finde dich damit ab und gehe jetzt. Wir werden gemeinsam das Komplet beten. Gott wird dir den rechten Weg weisen.«
Adelind war, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten, aber sie schluckte alle Worte des Zorns herunter, die auf ihrer Zunge lagen. Wenn sie sich jetzt aufsässig verhielt, würde die Äbtissin sie vielleicht einsperren lassen, und mehrere Tage konnten vergehen, bis sie eine Gelegenheit fand, nach Hildegard zu suchen. Sie musste tatsächlich auf Gott vertrauen. Er würde ihr einen Weg zeigen, ihre Schwester zu finden, die von der frommen Mutter Mechtildis in ein Leben voller Sünde geschickt worden war. Ein Leben, dem Hildegard niemals gewachsen wäre.
Am nächsten Morgen klagte Adelind über heftige Kopfschmerzen und bat um die Fürsorge Schwester Brigittas. Die Äbtissin gewährte es mit einem leichten Stirnrunzeln. Adelind wurde von der Infirmaria hinausgeführt, deren Kopf gesenkt war, als wolle sie Blickkontakt bewusst vermeiden.
»Bring mich bitte in das kleine Zimmer, wo Hildegard war. Nicht zu den anderen Kranken. Ich muss allein mit dir reden«, flüsterte Adelind ihr zu, als sie den Hof überquerten. Brigitta zeigte keinerlei Reaktion, aber sie erfüllte ihren Wunsch. Nachdem Adelind sich auf das Bett gesetzt hatte, erhielt sie eine Kräuterbrühe, und ein heißes Tuch wurde auf ihre Stirn gelegt.
»Das müsste helfen«, meinte Schwester Brigitta knapp. »Und jetzt sag, was du wissen willst. Ich habe nicht viel Zeit. Die anderen Kranken warten.«
»Seit wann ist Hildegard fort?«, begann Adelind sogleich. Die Infirmaria warf ihr einen missbilligenden Blick zu.
»Sie ging gestern kurz nach der Non. Sie nahm es hin. Ich glaube, sie machte dir keine Vorwürfe, falls dir das ein Trost ist.«
Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie selbst Adelind durchaus Vorwürfe machte.
»Ich weiß, ich hätte nicht mit der Äbtissin reden dürfen«, gab Adelind zu. »Dein Vorschlag mit den Kräutern war vernünftiger. Aber ich glaubte an Gerechtigkeit in einem Haus Gottes.«
Brigittas Brauen formten Bögen über ihren Augen.
»Du bist noch sehr jung. Lerne aus deinem Fehler. Für deine Schwester kannst du nichts mehr tun«, meinte sie ein klein wenig freundlicher.
Adelind entfernte das Tuch von ihrer Stirn, die völlig schmerzfrei war. »Bitte, du musst mir helfen. Ich will das Kloster verlassen. Ich muss zu Hildegard. Sie kommt allein da draußen niemals zurecht.«
Brigittas Gesicht bekam langsam wieder die vertrauten, weisen und nachsichtigen Züge.
»Wenn ihr gemeinsam zugrunde geht, ist keinem geholfen«, sagte sie.
»Wir werden nicht zugrunde gehen«, entgegnete Adelind sogleich, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie da draußen in einer unbekannten Welt würde überleben können. »Ich will an diesem Ort nicht bleiben.«
Die Infirmaria kommentierte dies nur mit einem kurzen Nicken. Sie schien keineswegs überrascht.
»Wie du möchtest, Adelind. Die Äbtissin wird mir vergeben, denn sie braucht meine Dienste. Warte, bis es dunkel wird, damit du nicht so leicht erkannt wirst. Ich habe noch Kleidung von weltlichen Frauen, die ich pflegte. Eine reiche Bürgerin aus Köln, die hier ein starkes Fieber auskurierte, wird heute Abend vor der Vesper von ihren Töchtern abgeholt. Schleiche dich unauffällig mit ihnen hinaus.«
»Ich danke dir.«
Adelind empfand Erleichterung, dass ihr Plan klare Gestalt anzunehmen begann, gleichzeitig kroch aber auch Angst in ihr hoch. Nun stand der endgültige Abschied von dem Kloster unmittelbar bevor, und sie hatte nicht einmal eine vage Vorstellung von dem Leben, das sie danach erwartete.
Schwester Brigitta hatte sich ihr gegenüber auf einem Stuhl niedergelassen, denn auf einmal schien sie willens, ein längeres Gespräch zu beginnen.
»Ich habe Hildegard den Namen meines einstigen Schwagers genannt, der in Köln ein Handelshaus besitzt. Er ist ein gutherziger Mann. Mir schenkte er damals Geld, damit ich nach dem Tod seines Bruders in dieses Kloster eintreten konnte, wie es mein Wunsch war. Ich gab ihr auch ein Schreiben für ihn mit. Ich bat ihn, sie einzustellen und vortäuschen zu lassen, dass sie eine schwangere Witwe ist. Ich glaube, das wird er tun.«
Adelind ergriff dankbar Brigittas Hand.
»Jemand, der so gütig ist wie du, sollte diesem Kloster vorstehen«, sagte sie. Brigitta lächelte.
»Dazu war es nicht genug Geld, das ich mitbrachte. Meine Herkunft ist auch nicht adelig wie die Mechtildis’. Aber darum geht es jetzt nicht, ich bin zufrieden. Doch du musst eine Sache bedenken, Adelind. Mechtildis mag dich, denn du bist geschickt und klug. Dass du deinen eigenen Willen hast, schätzt sie durchaus, obwohl sie dich dafür rügt. Sie ist ehrgeizig, was dieses Kloster betrifft, und weiß, dass Adler mehr Kraft haben als Tauben. Wenn du also fortläufst, dann kannst du nicht in Köln bleiben. Bald schon wird der Bischof wissen, dass eine Nonne vermisst wird. Du wärest nicht die Erste, die mit Gewalt wieder ins Kloster geschleppt wurde, obwohl sie bereits ein neues Leben begonnen hatte.«
Adelind, die bereits erste Hoffnungen gehegt hatte, ebenfalls im Hause von Brigittas Schwager Arbeit zu finden, begann zu frösteln. Es war alles so viel schwieriger als zunächst angenommen. Sollte sie Hildegard allein ihrem Schicksal überlassen, das vielleicht so hart nicht wäre? Wenn die Schwester in Köln eine bezahlte Anstellung fand, ja, dank ihrer wirklich liebreizenden Gestalt gar eines Tages einen Ehemann für sich gewinnen könnte, dann wäre ein Wiedersehen zwischen ihnen irgendwann möglich. Ein Bild von sanften, durchaus angenehmen Farben entstand in Adelinds Kopf. Nur leider passte Hildegard so ganz und gar nicht hinein.
»Meine Schwester ist handwerklich völlig ungeschickt, und zur Hausarbeit taugt sie auch nicht. Körperliche Anstrengung macht sie schnell krank«, sprach sie ihre Bedenken aus. »Welche Art von Anstellung kann dein Schwager ihr geben?«
Brigitta seufzte.
»Das weiß ich auch nicht. Mir fiel keine andere Möglichkeit ein, ihr zu helfen. Sie wird sich irgendwie durchbeißen müssen. In den meisten Menschen steckt mehr Kraft, als man zunächst annimmt.«
Adelind krallte ihre Finger in das bleiche Laken. Kurz hatte sie geglaubt, in ihrem gewohnten, sicheren Leben bleiben zu können, aber es gab keinen anderen Weg. Hildegard war ohne ihren Beistand völlig verloren.
Sie durfte in dem Krankenzimmer ausharren, bis es draußen zu dämmern begann. Dann brachte Brigitta ein Bündel herein, in dem sich ein Rock aus brauner Wolle, eine schmutzig graue Tunika und eine warme Decke befanden.
»Darin wirst du wie eine gewöhnliche Magd aussehen«, meinte sie nur. »Behalte den Schleier auf dem Kopf. Verheiratete Frauen tragen das auch, und niemand sollte dein kahlgeschorenes Haupt sehen. Die Wollstrümpfe wirst du bei dem Wetter auch brauchen.«
Adelind nickte. Dann sah sie, wie Brigitta ihr noch einen kleinen, klimpernden Beutel entgegenhielt.
»Das ist meine Entlohnung dafür, dass ich die Bürgersfrau gesund pflegte. Eigentlich sollte ich es der Klosterkasse übergeben, aber mir scheint, du brauchst es nötiger.«
Es war der Infirmaria peinlich, dass Adelind ihr nun um den Hals fiel, denn sie wich zurück.
»Die Töchter sind jetzt da, um ihre Mutter abzuholen. Zieh dich schnell um. Du kannst ihnen helfen, die Habseligkeiten der Frau zu tragen. Man wird dich für eine Bedienstete halten. So kommst du unbehelligt durchs Tor.«
Adelind schloss kurz die Augen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, doch sie begann entschlossen, die Kordel an ihrer Kukulle zu lösen. Seit zwölf Jahren hatte sie nichts anderes getragen als die dunklen Gewänder einer benediktinischen Nonne, sodass ihr war, als würde sie eine zweite Haut abstreifen.
»Vertraue auf Gott den Herrn«, sagte Brigitta, die schon in der Tür stand. »Und wenn es scheint, dass er dich verlassen hat, dann vertraue auf dich selbst.«
Die Bürgersfrau war rundlich und rotwangig. Sie hatte das Fieber sichtlich gut überstanden, denn sie redete ununterbrochen auf ihre zwei Töchter ein, bemängelte den unordentlichen Zustand ihrer Frisuren und drängte zur Eile, da der Haushalt auf sie wartete. Adelind wurde kaum wahrgenommen, als sie schweigend die neben dem Bett stehende Kiste ergriff. Man hielt sie tatsächlich für eine Bedienstete des Klosters und betrachtete es als Selbstverständlichkeit, dass sie mit den Habseligkeiten der Bürgersfrau hinterhereilte. Vor dem Tor wartete ein Karren, den Mutter und Töchter hastig bestiegen. Es war bereits dunkel und eisig kalt. Das Schneetreiben hatte aufgehört, doch der Wind schnitt weiter erbarmungslos in alle Gesichter. Adelind zog die Decke enger um ihre Schultern. Sie vermisste die weiten Ärmel der Kukulle, in denen sie ihre Hände hatte verstecken können. Handschuhe hatte sie in der Eile vergessen, und bald schon würde sie ihre Finger nicht mehr bewegen können.
Der Karren rollte los. Adelind stieß einen Ruf aus, der überhört wurde. Kurz erwog sie, hinterherzulaufen und um eine Mitnahme nach Köln zu bitten, denn hinter den Stadtmauern war es vielleicht ein klein wenig wärmer. Zudem brauchte sie dringend eine Herberge für die Nacht. Aber war Hildegard bereits in der Stadt? Adelind schlang die Arme um ihre Schultern und dachte angestrengt nach. Was hatte ihre Schwester getan? Es sähe ihr ähnlich, in der Nähe eines vertrauten Ortes bleiben zu wollen, solange es nur ging. Sie war vermutlich nicht in Köln, sondern irgendwo im Umland des Klosters, dessen Mauern noch als dunkler Schatten in Adelinds Rücken emporragten. Sie erinnerte sich an den erst kürzlich vollendeten Umbau einer uralten Kapelle zur großen, prächtigen Kirche, die gemeinsam mit ihr im Laufe der Jahre gewachsen war. Es tat erstaunlich weh, diesen Ort zu verlassen, obwohl sie ihn zu hassen geglaubt hatte.
Adelind begann zu gehen, denn dadurch hielt sie sich warm. Es gab eine breite Straße, die in Richtung Köln führte. Aufgrund des ungnädigen Wetters war sie kaum befahren. Adelind hörte nur das Pfeifen des Windes und das knirschende Geräusch ihrer Schritte im Schnee. Die vereisten Zweige der Bäume am Straßenrand schimmerten silbern im Mondlicht. Wie berauschend schön diese Nacht doch war, auch wenn der Wind wie ein Todeskuss über Adelinds Wangen fuhr. Sie ging immer weiter, denn sie wusste, dass sie sterben konnte, wenn sie aufhörte, sich zu bewegen.
»Erbarmen, edle Frau, Erbarmen«, hörte sie plötzlich eine heisere Stimme. Der Schreck ließ sie erstarren, als sei sie bereits zu einem Klumpen Eis gefroren.
»Was willst du?«
Zu ihren Füßen lag ein schmutziges Bündel Mensch, von dem ein unangenehmer Geruch ausging. Ein Bettler. Sie hatte manchmal Almosen an solche Gestalten verteilt. Aus diesem Grund hielten sie sich wohl gern in der Nähe des Klosters auf.
»Seid gnädig und gebt mir einen Pfennig! Gott der Herr wird es Euch danken, Ihr seid vornehm und edelmütig.«
»Jetzt bin ich ebenso arm wie du«, entgegnete Adelind. Es stimmte nicht ganz. Sie hatte den Beutel mit Brigittas Münzen, aber den brauchte sie und umklammerte ihn daher energisch.
»Welch hartherziges Weib Ihr seid! Eure Seele ist schwarz wie die Nacht, auf Ewigkeit werdet Ihr in der Hölle schmoren, wo glühende Zangen Eure Eingeweide zerfressen und Satans Fratze in Euer böses Gesicht lacht, während ein heißes Feuer Eure Haut verbrennt und ...«
Die heisere, schrille Stimme in der Finsternis jagte Adelind Schauer über den Rücken. Sie befreite ihren Fuß mit einem heftigen Ruck aus dem Griff, um rasch weiterzulaufen.
»Die erste Nonne war viel großmütiger«, kreischte der Bettler in ihrem Rücken.
»Ich bin keine Nonne mehr«, entgegnete Adelind und tat einen weiteren Schritt.
»Das sagte sie auch ... das sagte sie auch ... aber ihr Herz war mitfühlend. Das Eure ist aus Stein, seid verdammt in alle Ewigkeit«, krächzte der Bettler unbeirrt. Adelind erstarrte und wandte sich wieder um.
»Von wem redest du?«
Das Bündel robbte mit erstaunlicher Geschwindigkeit an sie heran, um nun beide ihrer Füße mit schmutzigen Klauen zu umschlingen.
»Von der Maid mit dem Gesicht der heiligen Jungfrau. Sie gab mir zwei Silberpfennige, doch sie wurden mir gestohlen.«
Adelind ging in die Hocke. Im Mondlicht erblickte sie ein ausgemergeltes Gesicht mit vereiterten Augen. Als der Mund sich öffnete, war er eine stinkende, zahnlose Höhle.
»Sie war so schön, die Maid. Rein wie die heilige Jungfrau, gesegnet sei sie. Ich träumte die ganze Nacht von ihr. Sie weinte, ich wusste nicht weshalb. Ihr Herz war groß. Sie gab mir so viel, doch die Welt ist schlecht... sie ist verdammt... Der Teufel hat gesiegt... Bald sterben wir alle ... Gott möge Erbarmen mit uns elenden Sündern haben ...«
»Wohin ging sie, deine schöne Maid?«, unterbrach Adelind und überwand ihren Widerwillen, da sie eine Hand auf die knochige Schulter des Bettlers legte.
»Wohin sie ging, weiß Gott der Herr ... Ich bin arm ... ich habe Hunger ...«
Adelind verstand. Sie griff in ihren Beutel und zog einen Silberpfennig heraus.
»Hier. Pass jetzt besser darauf auf. Und sag mir, wo ich die schöne Maid finde.«
Eine Klaue ergriff die Münze und ließ sie verschwinden. Übelriechender Atem umwehte Adelinds Gesicht.
»Ich zeigte ihr den Weg zur Hütte, wo ein Feuer brennt. Sie war so schön ... so gütig ...«
Der Bettler wies in eine Richtung, die von der breiten Straße wegführte. Adelind richtete sich auf. Vielleicht war es der Weg in ihr Verderben, aber sie hatte keine andere Möglichkeit, als dieser vagen Andeutung zu folgen.
Eine Weile lief sie durch bewaldete Finsternis, stolperte über Baumwurzeln und musste all ihre Kraft aufwenden, um sich aus der tödlichen Weichheit des Schnees zu befreien, in der sie immer wieder versank. Irgendwann schimmerte zwischen den Bäumen endlich ein Licht auf, das sie flackernd lockte. Vielleicht war es eine von Dämonen herbeigezauberte Falle für ahnungslose Sterbliche. Vielleicht eine Räuberhöhle, was wahrscheinlicher schien. Doch die Sehnsucht nach einem warmen, windgeschützten Ort trieb Adelind vorwärts. Wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fand, würde sie diese Nacht nicht überleben.
Strauchelnd sank Adelind in eine kleine Hütte, wo ein Feuer prasselte. Vom Licht geblendet eilte sie der Wärme entgegen, doch wurde sie erbarmungslos zurückgestoßen. Ungefähr ein Dutzend zerlumpte Gestalten kauerten bereits um die Flammen. Der Gestank von Schweiß und Unrat erschwerte das Atmen.
»Welch unerwarteter Besuch! Wie heißt das schöne Mädchen?«, krächzte eine raue Stimme. Lautes Grölen folgte.
»Nicht übel, die Kleine. Sie soll uns die lange Winternacht versüßen.«
Wieder legten sich Hände um ihre Beine. Adelind zappelte, aber diesmal schaffte sie es nicht, sich freizukämpfen. Man drückte sie zu Boden. Jemand griff unter ihren Rock. Sie warf sich zur Seite und wurde von anderen Fingern beschmutzt. Verzweifelt bäumte sie sich auf, um ihren Zorn in die Welt zu brüllen.
»Jetzt lasst den Unsinn! Sie soll sagen, wer sie ist und was sie hier will«, unterbrach ein tiefes Brummen ihr Protestgeschrei. Die Hände zogen sich langsam zurück. Adelind kam mühsam wieder auf die Beine.
Ein großer, dürrer Mann mit einem Rauschebart stand mitten im Raum. Er trug eine völlig zerschlissene Kutte, doch seine Haltung war die eines Königs.
»Was führt dich hierher?«, fragte er barsch.
Adelind knickste.
»Ich suche meine Schwester«, erklärte sie. Zahllose Augenpaare bohrten sich in ihren Körper. Und dann hörte sie die vertraute helle Stimme.
»Adelind! Was machst du hier?«
Hildegard kauerte in einer Ecke. Ihr Gesicht war so schmutzig, dass man sie nicht von den Bettlern unterscheiden konnte. Adelind wollte auf sie zueilen, doch zu viele Menschen versperrten ihr den Weg.
»Also noch eine«, knurrte der Bettlerkönig. »Wie viele von euch sollen wir denn in den nächsten Tagen erwarten? Eine große Familie?«
Das laute Gelächter schmerzte in Adelinds Ohren. Sie sehnte sich nach Schweigepflicht.
»Die Erste hat gezahlt, um hier zwei Nächte zu verbringen. Wir können nicht jedem Unterschlupf gewähren. Also, hast du Geld?«, fuhr der Mann fort.
Adelind dachte an den Beutel, der unter der Decke an ihrem Gürtel hing. Sie ahnte, dass sie ihn samt und sonders verlieren würde, sobald die Bettler von seiner Existenz erfuhren.
»Ich habe nichts. Ich flehe um Erbarmen. Da draußen in der Kälte überlebe ich diese Nacht nicht«, log sie verzweifelt.
»Wenn du kein Geld hast, musst du auf andere Weise zahlen«, kam es unerbittlich zurück. Das Grölen schwoll wieder an. Zu ihrem Entsetzen vernahm Adelind auch ein paar weibliche Stimmen, die in kreischendes Gelächter ausgebrochen waren. Vor ihren Augen zog ein Bettler seinen Kittel in die Höhe. Ein rotes Stück Fleisch tauchte zwischen seinen Beinen auf, das er rieb, um es wachsen zu lassen. Sie würgte.
»Jetzt benehmt euch nicht wie Tiere. Die erste Schwester zahlte genug für eine ganze Woche«, kam es plötzlich aus dem Hintergrund. Eine kleine Frau hatte sich neben den Bettlerkönig gestellt. Ein paar kümmerliche, verklebte Haarsträhnen wuchsen aus ihrem nackten Schädel. Die rechte Hälfte ihres Gesichts war von eitrigem Ausschlag entstellt, und sie vermochte nur eine Seite ihres Mundes zu bewegen. Adelind erinnerte sich dunkel, ihr einmal Almosen gegeben zu haben. Damals hatte sie diese Gestalt als erbarmungswürdig empfunden, doch nun ging eine Stärke von ihr aus, die ihr ein klein wenig Hoffnung gab.
Die Frau sah zum Bettlerkönig hoch, der sich mit den Fingern durch seinen schmutzig grauen Bart fuhr.
»Na gut«, meinte er nach einer Weile. »Heute Nacht könnt ihr beide bleiben. Morgen müsst ihr zusehen, dass ihr irgendwie Geld heranschafft, sonst zahlt ihr den anderen Preis oder bleibt draußen.«
Ein unzufriedenes Murren zog durch den Raum, doch der Mann vor Adelind hatte seinen Kittel bereits sinken lassen, und allmählich kehrte Ruhe ein. Der Bettlerkönig setzte sich zu seiner Gefährtin, die im Schein der Flammen Läuse aus seinem Haar zu nesteln begann. Adelind vermochte sich nun durch die Menge zu schieben, um endlich zu ihrer Schwester zu gelangen. Unterwegs kam sie kurz in die Nähe ihrer Retterin.
»Ich danke Euch, Ihr habt ein gütiges Herz«, flüsterte sie ihr zu. Die Frau stieß ein krächzendes Lachen aus.
»Den Teufel habe ich! Ein gütiges Herz können sich nur die feinen Nonnen dort in ihrem Kloster leisten. Hier bei uns, da muss jeder sehen, dass er selbst etwas zu fressen kriegt. Je schneller du das kapierst, desto besser für dich.«
Adelind nickte in Ermangelung einer passenden Antwort, dann gelangte sie endlich zu Hildegard, die sie mit weit aufgerissenen Augen anblickte.
»Warum bist du hier? Doch nicht wegen mir?«
»Aus welchem Grund denn sonst?«, antwortete Adelind und drückte Hildegards Finger, die sich kaum weniger eisig anfühlten als ihre eigenen. Sie wurden nicht sehr nahe an das Feuer herangelassen, doch sorgte die Nähe der anderen Menschen mit der Zeit dennoch für Wärme.
»Du bist meine Schwester, und ich lasse dich nicht im Stich«, versicherte Adelind und hob nur die Hand, als Hildegard zum Widerspruch ansetzte. »Es ist besser, wenn sie nicht mitbekommen, woher wir sind. Nach mir wird vielleicht schon gesucht. Ich bin mir sicher, dass viele hier uns für eine Scheibe Brot verraten würden. Lange können wir hier nicht bleiben, am besten, wir brechen morgen schon nach Köln auf.«
Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass die im Kloster erlernte geräuschlose Art der Kommunikation mit Hildegard ihr eines Tages an einem solchen Ort nützlich sein würde. Die Schwester schmiegte sich dankbar an ihren Körper.
»Wie du meinst«, bewegten sich ihre Lippen. In Adelinds Kopf tobten zahllose Gedanken. Köln, eine Herberge mit warmen Betten, und dann ... In Köln konnten sie auf Dauer nicht bleiben. Aber es musste auf dieser Welt auch andere Orte geben, die sich dem Einflussbereich von Mutter Mechtildis entzogen. Sie würden reisen müssen. Weit reisen. Eine Mischung aus Furcht und Sehnsucht erwachte in Adelind. So viele Jahre lang hatte sie geglaubt, bis zu ihrem letzten Atemzug auf dieser Welt im Kloster zu den heiligen Makkabäern zu bleiben. Nun taten sich neue Möglichkeiten auf, Gefahren und Hoffnungen, der Weg ins Unbekannte.
Sie musste Schritt für Schritt tun. Das Ziel war nur ein verschwommener Punkt am Ende des Himmels.
»Was ist mit dem Geld, das Mutter Mechtildis dir gab?«, fragte sie Hildegard. Die Schwester neigte den Kopf zur Seite.
»Es war nur ein kleiner Beutel. Fünf Silberpfennige, glaube ich.«
Adelind sog laut Luft ein.
»Unser Vater hat dem Kloster sicher um einiges mehr gegeben, damit es uns bis an unser Lebensende beherbergt.«
»Aber es ging ja nur um mich«, verteidigte Hildegard die Äbtissin. »Und sie zog die Jahre meiner Erziehung ab.«
Adelind ahnte, dass es trotzdem viel zu wenig gewesen war, sah aber keinen Sinn darin, sich deshalb aufzuregen.
»Du hast dem Bettler vor dem Klostertor etwas gegeben, damit er dich hierherschickte«, fasste sie ihr bisheriges Wissen zusammen. »Dann musstest du noch für zwei Nächte in dieser grauenhaften Hütte hier zahlen. Wie viel ist noch übrig?«
Hildegards Kinn senkte sich auf ihre Brust.
»Es tut mir so schrecklich leid, ich habe nichts mehr. Ich weiß, ich bin dumm und ungeschickt. Dem ersten Bettler gab ich freiwillig zwei Pfennige, denn er schien sie viel dringender zu brauchen. Hier in der Hütte, da zog ich den Beutel heraus, und er wurde mir gleich aus der Hand gerissen. Ich hatte solche Angst, dass sie mit mir machen ... was ... was sie mit dir machen wollten. Ich wagte nicht zu protestieren.«
Adelind unterdrückte einen Seufzer. Vermutlich hätte Hildegard ein entschlossener Protest auch nicht viel genützt. Sie lobte sich für ihre eigene Lüge, denn nun brauchten sie das Geld von Schwester Brigitta noch nötiger. Hätte sie den anderen Preis bezahlt, wenn er wirklich eingefordert worden wäre? Sie wusste es nicht. Doch schien Keuschheit auf einmal nicht nur eine Frage der eigenen Willenskraft, sondern ein Gut, das nicht alle Frauen sich erlauben konnten. War es eine Prüfung Gottes? Doch warum prüfte er manche Menschen strenger als andere?
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Körper schmerzte vor Kälte und Erschöpfung. Eng an Hildegard geschmiegt ließ sie sich langsam in den Schlaf fallen. Morgen ging es nach Köln. Und dann musste es irgendwie weitergehen.