Читать книгу Die Ketzerin von Carcassonne - Tereza Vanek - Страница 11

6. Kapitel

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Der nächste Tag begann ohne ein Morgenmahl und sogar ohne Wasser, denn aller Schnee war bereits geschmolzen. Peyres band rasch das Maultier vor den Wagen, dann rollten sie auch schon los, um möglichen Verfolgern aus der Ortschaft nicht in die Hände zu fallen. Adelind zog die lederne Plane des Wagens einen Spalt breit zur Seite, um eine endlose Strecke von Wald vorbeiziehen zu sehen, danach Wiesen, Felder und vereinzelte Dörfer. Ständig hoffte sie, Peyres würde den Wagen zum Stillstand bringen, damit es etwas zu essen gäbe, doch fuhr er erbarmungslos weiter. Antonius und Simon spielten gemeinsam ein Würfelspiel, Marcia flickte ein paar zerrissene Stellen an ihrem Kleid mit einer Hornnadel, packte dann aus einem Beutel weitere ähnlich bunte Gewänder, die sie geduldig im spärlichen Licht ausbesserte. Niemand verlor viele Worte, sei es aus Verlegenheit wegen des nächtlichen Streits oder weil es eben nichts zu sagen gab. Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, war der Hunger zu einem Loch in Adelinds Magen geworden, das sämtliche Lebensgeister in sich aufsaugte. Eine lederne Flasche mit Bier wurde herumgereicht, doch schenkte das Getränk kaum Linderung. Es musste bereits die Hora nona sein, überlegte sie gequält, während der Wagen endlich wieder inmitten einiger Häuser zum Stillstand kam. Alle kletterten rasch hinaus, sichtlich erfreut über die Möglichkeit, die Beine zu strecken, und angetrieben von der Aussicht auf Nahrung. Adelind fühlte sich so schwach, dass sie ihre Hand Hilfe suchend nach Hildegard ausstreckte, die das lange Fasten mit Fassung trug. Vielleicht lag es daran, dass ihre Schwester niemals besonders gern gegessen hatte, überlegte Adelind mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, da sie selbst so wehleidig war. Marcia spazierte sogleich entschlossen auf ein paar neugierig gaffende Bäuerinnen zu, um bald darauf mit einem Korb voller Brot, Eier und Speckfladen zurückzukommen. Ein großer Krug voller Bier wurde von Antonius getragen, den sie als Helfer mitgenommen hatte. Am Dorfrand wurde ein Lagerfeuer angezündet, denn im Laufe des Tages war wieder ein frischer Wind aufgezogen, und alle setzten sich im Kreis darum. Adelind schlang die ihr zugeteilte Nahrung gierig in sich hinein. Zunächst schien ihr Magen alles aufzusaugen, ohne dadurch auch nur ansatzweise gefüllt zu sein, doch plötzlich breitete sich ein Gefühl völliger Trägheit in ihr aus, sodass sie nur mit Mühe die Augen offen halten konnte.

»Wenn du derart schlingst, nachdem du eine Weile Hunger hattest, kannst du dich erbrechen, und das wäre schade um das Essen«, hörte sie Marcia schnippisch sagen. »Du hast keinen richtigen Grund dazu, anders als deine heilige Schwester, die für zwei essen muss.«

Adelind zuckte zusammen. Unter Marcias spöttischem Blick war sie schlagartig wieder hellwach geworden.

»Davon abgesehen solltet ihr mir dankbar sein. Hätte ich das Geld nicht gestohlen, dann gäbe es jetzt auch nichts zu essen«, fügte die Gaukler in hinzu.

Adelind senkte den Kopf.

»Nun gut, ich danke dir«, murmelte sie, denn ihr war die Lust auf weitere Kriege mit Marcia vergangen. »Treten wir heute Abend wieder auf?«

Marcia sah zu Peyres, der in die Runde blickte.

»Nein«, entschied er ohne Zögern. »Wir sind nicht weit genug von dem Schauplatz unseres letzten Auftritts entfernt, und man könnte unsere Spur verfolgen. Denn Marcia«, er machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause, »Marcia hat dem Schulzen einen Beutel mit Abgaben der Bauern und Handwerker gestohlen. Ich habe keine Ahnung, wie der arme Kerl seinem Landesherrn das erklären wird. Aber ganz gleich, auf jeden Fall werden wir verfolgt werden, und das vielleicht nicht nur für eine Weile. Je eher wir die Ländereien des Erzbischofs von Köln verlassen, desto wohler werde ich mich fühlen.«

Er hatte leise gesprochen, doch Adelind sah sich trotzdem um, ob nicht ein paar Anwohner der Ortschaft etwas von seinen Worten mitbekommen hatten. Glücklicherweise aber hielten sie Abstand von den Gauklern, obwohl immer wieder neugierig in ihre Richtung gespäht wurde.

»Ist hier vielleicht irgendjemand neidisch, weil ich auf andere Weise mehr Geld verdienen kann denn ihr alle zusammen mit euren Auftritten?«, hörte sie wieder Marcias spöttische Stimme und wünschte sich, der Frau ein mehrwöchiges Schweigegelübde als Buße auferlegen zu können.

»Wir können Gott danken, wenn du uns nicht an den Galgen bringst mit deiner Hurerei«, gab Peyres sogleich zurück, diesmal lauter als notwendig. Adelind wurde unruhig und spürte Hildegards besorgten Blick auf sich ruhen.

Marcia sprang lachend auf die Beine.

»Es ärgert dich, nicht wahr?«, rief sie und wiegte kurz ihre Hüften. »Glaub mir, er war gar nicht übel, der Schulze. In mancher Hinsicht besser als du.«

Adelind sog Luft in ihre Lungen. Sie sah, wie Simon und Antonius tuschelnd die Köpfe zusammensteckten, während Peyres sich zu seiner vollen Größe erhob. Mit drohend erhobener Hand machte er einen Schritt auf Marcia zu.

»Schweig endlich, Putana!«, schrie er. Im Hintergrund erklang das Trappeln von Schritten. Die Dorfbewohner versammelten sich zu der aufregenden und offenbar kostenfreien Darbietung. Adelind stand langsam auf. So ging es nicht weiter, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, und sie trat langsam auf Peyres zu.

»Genug jetzt«, sagte sie so selbstverständlich wie möglich. »Wenn wir an diesem Ort weder auftreten noch übernachten wollen, dann sollten wir aufbrechen, bevor es zu dämmern beginnt.«

Ein Seufzer entwich aus Peyres’ Brust, während er seine Hand wieder sinken ließ. Diesmal war der Blick, mit dem er Adelind ansah, fast freundschaftlich.

»Zur Abwechslung auch eine Frau mit Verstand in der Truppe zu haben hat seine Vorteile«, meinte er spöttisch zu Marcia, während er das Maultier wieder vor den Karren spannte. Adelind sammelte mit Hildegard die verbliebenen Essensreste ein, um sie im Wagen zu verstauen. Antonius und Simon saßen bereits drinnen. Marcia kroch als Letzte herein, raffte ihre Röcke und ließ sich diesmal in unmittelbarer Nähe von Adelind nieder, die leicht zu frösteln begann. Sie wusste, dass sie sich nun endgültig eine Feindin geschaffen hatte.

»Ich kann dir zeigen, wie man es macht«, flüsterte Marcia jedoch ganz vertraulich. »Wie du einen Mann verrückt genug machst, sodass er es gar nicht merkt, wenn du seinen Beutel vom Gürtel schneidest. Und deine Schwester erst. Mit ihrem Madonnengesicht könnte sie uns durch den nächsten Winter bringen, wenn sie sich nur drei oder vier Male gefällig zeigt.«

Adelind stieß einen leisen Seufzer aus. Warum kam nur immer wieder dieser Vorschlag?

»Weder meine Schwester noch ich haben ein Verlangen, deine Künste zu lernen«, entgegnete sie. Es klang eisiger, als klug war, doch konnte sie nicht anders. Marcia kicherte mit zusammengepressten Lippen.

»Ihr Betschwestern haltet euch wohl für etwas Besseres«, zischte sie. »Aber ihr werdet schon noch lernen, wie es auf der Welt zugeht. Deine Engelsstimme allein wird dir auf Dauer nicht den Magen füllen, und deine Schwester, die taugt ja zu gar nichts!«

Hildegard zuckte unter dem Hieb zusammen.

»Warte einfach ab, wozu wir noch taugen werden«, entgegnete Adelind wütend und unterdrückte nur mühsam den Wunsch, der Gauklerin nun selbst eine Ohrfeige zu verpassen. Sanft legte sie ihre tröstende Hand auf Hildegards Finger.

»In ungefähr ein oder zwei Wochen könnten wir Straßburg erreichen«, begann Antonius zu erzählen. »Wart Ihr jemals dort?«

Seine Frage war unmittelbar an Hildegard gerichtet, der er dabei aufmunternd zulächelte. Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist eine sehr schöne Stadt. Ich bin dort als Kind mehrfach mit meinem Vater gewesen. Wenn Ihr wollt, dann führe ich Euch ein wenig herum. Es wäre eine Freude für mich.«

Da Hildegard ihm nur ein müdes Lächeln gönnte, bedankte Adelind sich an ihrer Stelle für das Angebot und wünschte wieder einmal, dass ihre Schwester ein klein wenig geschickter wäre. In ihrer Lage konnten sie es sich nicht erlauben, weitere Mitglieder der Truppe zu verprellen.

Die Reise nach Straßburg verlief ohne weitere Gefühlsausbrüche, da Adelind sich sehr bemühte, Marcia nicht mehr zu provozieren. Hildegard verhielt sich ohnehin so still und unauffällig wie nur möglich. Der Vorwurf, völlig nutzlos zu sein, lastete auf ihrem Gemüt, obwohl sie nie darüber sprach, denn ihre Augen leuchteten nicht mehr so begeistert bei den Auftritten der Gaukler. Das Erbrechen setzte zum Glück nicht mehr ein, doch sah Adelind immer wieder, wie ihre Schwester sich mit der Hand über den Bauch fuhr, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Sie hätte gern gefragt, wie Hildegard ihre Schwangerschaft nun empfand, doch hatten sie kaum mehr Gelegenheit, allein miteinander zu reden. Auf die kleinen Gesten und stummen Lippenbewegungen wollte Adelind so weit wie möglich verzichten, um Marcias Misstrauen nicht unnötig zu reizen. Außerdem fehlte ihr schlichtweg die Zeit für längere Gespräche mit Hildegard, denn Peyres hatte seinen Vorschlag, an ihren Auftritten zu arbeiten, wahrgemacht.

Zunächst einmal wurde sie von dem gestohlenen Geld neu eingekleidet. Die Ausstattung für ihre Auftritte bestand aus einem weißen, eng geschnittenen Unterkleid und einem Übergewand aus grünem Leinen, das am Saum mit Fuchsfell verziert war. Dank der weiten Ärmel konnte sie ihre Hände darin verbergen wie einst in der Kukulle. Da ihr Haar immer noch zu kurz war, um zur Schau gestellt zu werden, erwarb Peyres einen weißen Schleier und einen leicht verbeulten Bronzereif bei einem Hausierer, dem sie auf der Straße begegneten. Es beschämte Adelind, wie viel Freude sie über ihr verändertes Erscheinungsbild empfand, doch kam sie nicht dagegen an. So oft wie möglich sah sie in Marcias zersprungenen Spiegel, um sich zu versichern, dass aus der Braut Christi wirklich eine weltliche Sängerin geworden war, deren Kopfputz an vornehme Damen erinnerte.

Doch trotz dieser Großzügigkeit erwies sich Peyres als strenger Lehrmeister. Ihre Haltung war zu steif, ihr Gebaren zu wenig gefällig, um die Blicke der Zuschauer zu fesseln, kritisierte er unerbittlich. Adelind begann zu begreifen, dass sie sich verkaufen musste wie Marcia, nur auf keine so offensichtliche Weise. Die Vorstellung missfiel ihr, doch fand sie sich damit ab. Sie lernte, in gaffende Gesichter zu sehen, während sie sang, und dadurch nicht abgelenkt zu werden. Ihr zunächst verkrampftes Lächeln entspannte sich allmählich. Irgendwann ließ die Angst nach, sie vermochte ihr Publikum anzusehen, ohne dass der Schweiß in Bächen über ihren Rücken lief, und der Applaus, der ihr regelmäßig vergönnt war, berauschte sie wie mehrere Becher guten Weins.

Ihre Stimme bemängelte Peyres kein einziges Mal, was ihr ein Gefühl der Sicherheit gab. In Straßburg sollten sie auf den großen Marktplatz vor dem Münster auftreten. Adelind ahnte, dass sie hier einem strengeren Maß unterzogen werden würde als in all den Dörfern, die sie bisher durchquert hatten, aber trotz aller Befürchtungen zu versagen freute ein Teil von ihr sich auf diesen Augenblick. Sie zweifelte nicht mehr an ihrer Begabung.

Es war ein anderer Umstand, der manchmal auf ihrem Gemüt lastete und sich nicht abschütteln ließ. Nach der Unterhaltung in der Schenke vermied Peyres alle persönlichen Gespräche mit ihr. Sie wagte nicht, ihn weiter nach seiner Herkunft und Familie zu fragen, doch selbst harmloses Gerede über das Wetter brachte er mit drei oder vier gebrummten Worten zum Erliegen. Sie hatte das Gefühl, für ihn nur als Sängerin von Bedeutung zu sein, ansonsten schenkte er ihr kaum mehr Beachtung als den Bäumen, an denen der Karren vorbeirollte. Zwar war sein Benehmen gegenüber Marcia nicht weniger kühl, doch entging es Adelind nicht, dass die beiden sich manchmal in stille Winkel verzogen, wenn alle anderen Leute der Truppe bereits schlafend im Wagen lagen. Die Nächte waren etwas milder geworden, daher erledigten sie ihr Treiben rasch im Freien, wo sie geschützter vor neugierigen Blicken waren.

Sie wusste, dass sie nicht an Marcias Stelle sein wollte, sich nicht nach einem Mann verzehrte, der sie anschrie, ohrfeigte, oft völlig übersah, um sie kurz vor dem Schlafengehen noch rasch wie eine Hure zu benutzen. Dennoch hallten die Worte der Gauklerin in ihrem Kopf wider, wenn sie des Nachts zur vertrauten Zeit der Nokturn erwachte und mit offenen Augen ins Dunkel starrte. Er lässt kein Weib aus, das ihm gefällt.

Es gab nur eine mögliche Erklärung für Peyres’ Verhalten, nämlich dass sie selbst ihm nicht gefiel. Sie sagte sich, dass es nicht verwunderlich war und dass es darauf nicht ankam. Im Gegenteil, hätte sie ihm gefallen, wären vielleicht anzügliche Forderungen gemacht worden, damit sie in der Truppe bleiben konnte. Es war am besten so, versuchte sie sich einzuschärfen, doch tief in ihr war eine Stelle, die sich dem Zugriff aller Vernunft entzog und hartnäckig schmerzte.

Es war ein angenehm milder Tag, an dem sie endlich das Stadttor von Straßburg durchquerten und die Stadt sich in all ihrer Schönheit und ihrem Schmutz, mit ihren prächtigen Bauten, kostbar gewandeten Einwohnern und stinkenden Bettlern vor ihnen auftat. Adelind spähte neugierig durch einen Spalt zwischen den Planen des Wagens. Seit sie Köln verlassen hatten, waren sie an keinem so unüberschaubaren Ort mehr gewesen. Peyres lenkte das Maultier zielstrebig auf das Münster zu, dessen Turm wie Gottes mahnend erhobener Finger aus dem Stadtbild Richtung Himmel ragte, und brachte es auf einem großen Platz zum Stehen. Nacheinander kletterten sie alle hinaus, um auf platt getretenem Schmutz zu landen, der durch frischen Regen aufgeweicht war. Adelind sorgte sich um ihr neues Gewand, auf das sie so stolz war, und zog es daher bis zu der Mitte ihrer Unterschenkel hoch. Hinter ihr stapfte Hildegard, der es völlig egal war, dass sie den Saum ihres Kittels beschmutzte.

»Bei allen Heiligen, so etwas habe ich noch nie gesehen«, flüsterte die Schwester und machte das Kreuzzeichen, während sie zu der Fassade des Münsters blickte. Adelind sah nun ebenfalls hin, folgte mit ihren Augen den Formen der Spitzbögen himmelwärts, bis ihr schwindelig zu werden begann. Dieser Bau erschlug den Betrachter mit seiner prachtvollen Größe. Versonnen musterte sie die Statuen und die kunstvoll verzierte Rosette oberhalb des Eingangstors.

»Das Münster ist vor ungefähr zehn Jahren teilweise abgebrannt und wird jetzt neu erbaut«, erzählte Antonius, während er auf ein paar Gerüste an den hinteren Teilen des Bauwerks wies. »Ich kann euch hineinführen, wenn wir mit unseren Auftritten fertig sind.«

»Aber ja, dieses Gotteshaus möchte ich sehen«, rief Hildegard nun mit leuchtenden Augen. Antonius’ fahle Haut bekam plötzlich einen zartrosa Farbton. Adelind atmete erleichtert auf, da die Schwester ihren Verehrer nicht schon wieder wie Luft behandelt hatte.

»Zunächst einmal erledigen wir unsere Arbeit, dann kann jeder tun, was er will«, mischte Peyres sich ins Gespräch. »In dieser riesigen Stadt können wir unbesorgt auftreten, da gibt es so viele Gaukler und Spielleute, dass wir wie die Nadel im Heuhaufen sind.«

Niemand widersetzte sich der Anweisung. Auf dem Platz vor dem Münster hatten einige Händler ihre Stände aufgestellt und boten laut rufend ihre Ware feil. Auch als Gaukler waren sie keineswegs allein, wie Adelind besorgt feststellte. In den Dörfern war ihnen die allgemeine Aufmerksamkeit sicher gewesen, doch hier schritten die Leute achtlos an ihnen vorbei, ja schubsten manchmal und zogen dann murrend weiter. Sie hörte, wie der Klang von Flöten, Fiedeln und Gesang sich mit dem Geschrei der Händler und ihrer feilschenden Kundschaft zu einem Gewebe von Lauten zusammenfügte. Ein Stück neben ihr sprangen Hunde durch einen Reifen, den ein bunt gekleideter Junge hochhielt. Etwas weiter entfernt scharte eine Gruppe von Männern, die bunt aus Edelleuten, Handwerkern und Tagelöhnern zusammengewürfelt schien, sich um eine große blonde Sängerin. Auch Marcia würde es hier nicht so einfach haben, befand Adelind mit einer Häme, für die sie sich ein wenig schämte.

»Morgen ist Sonntag. Du wirst nach der Messe auftreten, denn da sind die Leute in der richtigen Stimmung für jemanden wie dich«, wies Peyres sie nun an. »Jetzt können Marcia und ich die bessere Unterhaltung bieten.«

Adelind gehorchte mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Das Getümmel gefiel ihr, das konnte sie nicht leugnen. Sie gesellte sich mit Hildegard zu den Zuschauern, die der reizvollen, wenn manchmal auch derben Darbietung der blonden Spielfrau folgten. Mit ein paar Münzen, die Peyres ihnen großzügig überlassen hatte, erstanden sie einen Brotfladen und zwei Becher Gewürzwein an einem Stand.

»Sieh mal!«, rief Hildegard kauend. »Antonius hat nun auch Kundschaft.«

Tatsächlich gab es in einer großen Stadt wohl mehr Leute mit Zahnschmerzen. Auf dem Hocker, den Antonius vor sich aufgebaut hatte, saß nun ein glatzköpfiger Mann, dessen Bauch fast seinen Gürtel zu sprengen drohte. Seine linke Backe wölbte sich weitaus runder als die rechte, und er öffnete mit gepeinigtem Blick den Mund, damit seine Zähne befühlt werden konnten. Nach dieser Untersuchung nahm Antonius ein tönernes Gefäß und ein paar Kohlen aus seiner mitgebrachten Kiste. Simon besorgte ihm eine brennende Fackel, um die Kohlen zu erhitzen, sobald sie in dem Gefäß lagen. Anschließend wurden aus einem Sack Kräuter daraufgeschüttet. Sobald es dampfte, legte Antonius einen Deckel auf das Gefäß, der in einer spitzen Öffnung mündete.

»Bilsenkräuter verjagen Zahnwürmer«, erklärte er den Umstehenden und ließ den dicken Mann die Dämpfe einatmen. Danach befühlte er nochmals die Zähne des Mannes, dessen Augen in hoffnungsvoller Ergebenheit zu ihm aufblickten.

»Ein Zahn wackelt. Er muss gezogen werden, denn anders lassen die Würmer sich nicht mehr vertreiben«, verkündete er laut und sah seinem Kunden ernst ins Gesicht. Der Mann sprang auf, um wegzurennen, doch ein paar der Umstehenden schubsten ihn lachend zurück. Schließlich mischte eine kleine Frau mit sittsamem Schleier sich ein und redete dem Dicken gut zu, während sie ihn wieder auf den Schemel schob.

»Eine Weile werdet Ihr leiden, doch dann hat das Leiden ein Ende. Andernfalls wird die Qual immer schlimmer«, mahnte Antonius. Der Mann schloss die Augen, um nach einigem Zögern wieder den Mund zu öffnen. An seiner Seite begann die kleine Frau leise zu beten. Simon brachte einen großen Krug Wein, der dem Mann eingeflößt wurde. Dann stellte der alte Wahrsager sich hinter ihn und umklammerte seine Arme mit einem festen Griff. Antonius holte eine Zange aus seiner Kiste.

Adelinds Magen verkrampfte sich. Sie hasste es, Zeugin des Leids anderer Menschen zu werden, und hatte niemals den Drang verspürt, bei öffentlichen Hinrichtungen zuzusehen. Wäre Antonius nicht ein Mitglied der Truppe gewesen, wäre sie in das Getümmel geflüchtet, aber nun wollte sie mitbekommen, auf welche Weise er Geld verdiente.

Die Zange verschwand in der Mundöffnung. Auf dem schmächtigen Rücken des Zahnkünstlers bewegten sich Muskeln unter dem Leinenhemd. Er zerrte, während sein Kunde sich stöhnend aufbäumte. Simons Griff wurde stärker, und schließlich kamen ihm einige der Zuschauer zu Hilfe, die dem Dicken jede Hoffnung auf Flucht nahmen. Ein Schwall von dunkelrotem Blut schwappte aus seinem Mund, während Antonius weiter mit der Zange hantierte. Schließlich trommelte der Dicke verzweifelt mit den Füßen und schrie voller Qual, sodass er alles Treiben auf dem Marktplatz leise werden ließ. Adelind trat einen Schritt zurück. Der Fladen schmeckte ihr nicht mehr. Sie richtete ihren Blick auf die kleine Frau, die nun neben ihrem Gemahl kniete und mehrfach das Kreuzzeichen schlug. Wann war es endlich vorbei?

Sie spürte eine Bewegung an ihrer Seite. Hildegard war im Begriff, sich in das Geschehen zu mischen. Kurz erwog Adelind, sie zurückzuholen, denn welchen Sinn machte es, wenn die mitfühlende Schwester Antonius nun bei der Arbeit störte, doch tat Hildegard nichts dergleichen. Sie kniete sich nur neben den gepeinigten Dicken und legte ihre Finger auf seine Schulter, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ihre Lippen bewegten sich.

Dominus pascit me nihil mihi deerit

in pascuis herbarum adclinavit me

super aquas refectionis enutrivit me

animam meam refecit duxit me per semitas

iustitiae propter nomen suum ...

Adelind lauschte den vertrauten Worten des Psalms und begann aus Gewohnheit leise mitzubeten. Erstaunt sah sie, wie der Körper des gepeinigten Mannes sich entspannte, während seine Augen an Hildegard hingen, als bestünde seine Welt nur noch aus einem lieblichen Mädchengesicht. Das Stoßen der Füße ließ nach, und Simon konnte seinen Griff ein wenig lockern. Dieser Mann sah wie ein wohlhabender Handwerker oder Händler aus, dass er Latein verstand, war unwahrscheinlich. Dennoch hatte Hildegard ihm eben jene tröstende Nähe Gottes vermitteln können, die in dem Psalm besungen wurde. Ohne auf die Wirkung ihres Einmischens zu achten, redete die Schwester weiter:

Sed et si ambulavero in valle mortis non timebo malum quoniam tu mecum es virga tua et baculus tuus ipsa consolabuntur me pones coram me mensam ex adverso hostium meorum inpinguasti oleo caput meum calix meus inebrians

sed et benignitas et misericordia subsequetur me omnibus diebus vitae meae et habitabo in domo Domini in longitudine dierum

Auf einmal war es sehr still geworden. Der Dicke ergab sich widerstandslos seinem Schicksal, während er weiter in Hildegards graublaue Augen starrte. Nur ein letztes Röcheln erklang, dann hielt Antonius mit blutüberströmter Hand seine Zange hoch, in der ein gelblich brauner Zahn steckte. Adelind staunte, wie winzig die Ursache großer Pein sein konnte.

»Nun habe ich die Zahnwürmer endgültig besiegt«, verkündete Antonius. Begeistertes Klatschen erklang, während dem Dicken ein weiterer Krug Wein gebracht wurde, um seinen Mund auszuspülen. Die kleine Frau hatte sich aufgerichtet, musterte Hildegard mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Misstrauen, während sie ihrem Gemahl das Blut von der Wange wischte.

»Gott segne die Maid, welche einem Leidenden seine Liebe nahebrachte«, verkündete Antonius indessen und umklammerte Hildegards Hand, die sie ihm zunächst empört entziehen wollte. Erst das anerkennende Murren der Menge ließ sie schließlich stillhalten.

Ein Seufzer schlüpfte aus Adelinds Brust. Ganz so nutzlos schien Hildegard nicht zu sein. Der Dicke drückte ihr dankbar ein paar Münzen in die Hand, bevor er auf seine Frau gestützt davonschwankte. Antonius strahlte und weigerte sich, Hildegards Hand aus der seinen zu entlassen. In ihrem Rücken erahnte Adelind eine hohe, eindrucksvolle Gestalt, und als sie sich umwandte, war sie nicht überrascht, Peyres zu sehen. Seine schwarzen Augen strahlten.

»Das hat die kleine Heilige großartig gemacht«, murmelte er und zog Marcia herbei, deren Gesicht wie versteinert war. Adelind konnte nicht umhin, ihr einen triumphierenden Blick zuzuwerfen.

Diesmal konnten sie sich die Unterkunft in einer Herberge leisten, vor der Maultier und Wagen festgebunden wurden. Männer und Frauen verteilten sich in die Gemeinschaftsräume, sodass es Adelind fast wieder wie im Kloster schien, wo sie regelmäßig bei den Schnauf-, Schnarch- und Furzlauten anderer Frauen in den Schlaf gesunken war. Neu war jedoch das Glücksgefühl angesichts eines eigenen Lagers mit weicher Strohmatte, denn früher hatte sie nicht gewusst, wie es sich anfühlte, auf harten Holzplanken zu liegen. Dank der schlechten Beleuchtung sah sie das Ungeziefer nicht, doch am nächsten Tag wies ihre Haut kleine rote Bisswunden auf. Der Wagen hatte auch seine Vorteile, befand sie, denn Marcia hielt ihn erstaunlich sauber. Die Gauklerin wahrte Abstand von ihnen, erst als sie sich mit den Männern zum Morgenmahl trafen, wurde sie etwas gesprächiger und maulte über das harte, trockene Brot. Peyres beachtete sie nicht, denn er plante bereits Adelinds Auftritt vor dem Münster und unterzog ihre Kleidung einer strengen Musterung. Da er nichts sagte, ging sie davon aus, dass er zufrieden sein musste. Sobald er einen Becher Bier geleert hatte, rief er zum Aufbruch.

Sie empfand weitaus weniger Angst als zunächst befürchtet. Mit Bronzereif, Schleier und dem edlen, wenn auch leicht zerschlissenen Gewand ausstaffiert sang sie ihre Hymnen und ließ Simon Münzen einsammeln. Der prall gefüllte Beutel beruhigte sie. Ebenso wie Hildegard hatte sie ihren Platz in der Truppe gefunden.

Antonius führte Hildegard noch eine Weile durch die Stadt. Adelind schlug das Angebot ihrer Schwester, einfach mitzukommen, aus, denn sie ahnte, dass der Zahnkünstler mit Hildegard allein sein wollte. Marcia verschwand mit einem prächtig gewandeten Herrn, der sie vor dem Münster angesprochen hatte, sodass Adelind allein mit Simon und Peyres im Wagen sitzen blieb. Der Wahrsager fädelte bunte Steine zu Ketten, die er bald schon zum Verkauf anbieten wollte. Peyres machte sich an einer Kiste zu schaffen, in der er den Münzbeutel verstaute. Dann griff er tief in das hölzerne Innere, wühlte eine Weile herum und zog schließlich heraus, wonach er gesucht hatte. Staunend erkannte Adelind drei Schriftrollen in seinen kräftigen Händen, die er rasch in einem Beutel verstaute. Ihr wurde bewusst, dass sie keinen geschriebenen Text mehr hatte entziffern können, seit sie aus dem Kloster geflohen war.

»Was ist das?«, fragte sie aufgeregt. Ihr fiel ein, dass Peyres vermutlich nicht lesen konnte. Wie war er in den Besitz von Schriftrollen gekommen?

»Nichts«, erwiderte er barsch und warf ihr einen zornigen Blick zu. Adelind wusste, dass er sonst nur Marcia manchmal so ansah. Empört straffte sie die Schultern.

»Nach nichts sieht es mir nicht aus«, erwiderte sie schnippisch. »Das sind Schriftrollen. Sollen sie verkauft werden? Wenn ich einen Blick darauf werfen dürfte, so könnte ich vielleicht einschätzen, wie wertvoll sie sind.«

Sie hoffte, Peyres durch dieses Angebot zu besänftigen, aber er machte nur einen sehr lauten Schritt in ihre Richtung. Die Planken des Wagens erzitterten leicht. Adelind zuckte erschrocken zusammen, doch war sie bemüht, sich keine Furcht anmerken zu lassen. Wenn Peyres jemals seine Hand gegen sie erheben sollte, so würde sie die Truppe verlassen, beschloss sie in diesem Moment. Leider hatte sie keine Ahnung, wohin sie in dem Fall gehen könnte.

Doch er schlug sie nicht, musterte sie nur kurz aus funkelnden Augen.

»Ich weiß durchaus, dass die kluge Jungfer lesen kann«, sagte er mit leiser, aber schneidender Stimme. »Sie sollte sich jedoch nicht in Angelegenheiten mischen, die sie nichts angehen. So gerät sie auch nicht in Schwierigkeiten.«

Dann sprang er mit einem Satz vom Wagen, um in den Gassen der Stadt zu verschwinden. Adelind blieb fassungslos zurück. Ihr war, als hätte sie tatsächlich eine Ohrfeige erhalten.

»Er ist immer sehr reizbar, wenn es um diese Dinge geht«, hörte sie den alten Simon sagen, der sich weiterhin über seine Ketten beugte.

»Was für Dinge?«, bohrte sie nach. Der Alte zuckte nur mit den Schultern.

»Alles, was mit seiner Schwester zu tun hat. Er liebt seine Schwester, mehr als jeden anderen Menschen, glaube ich.«

»Und was hat seine Schwester mit diesen Schriftrollen zu tun? Hat sie diese selbst beschrieben?«, fragte Adelind, die sich über diese vagen Aussagen langsam zu ärgern begann. Der Wahrsager blickte endlich auf. Er rutschte auf den Planken näher an sie heran, um leise reden zu können.

»Ich denke nicht, dass sie schreiben kann«, erzählte er. »Aber diese Leute, mit denen sie zusammenlebt, können es teilweise. Sie schicken Botschaften an ihre Gesinnungsgenossen. Peyres hat sich bereit erklärt, sie zu überbringen. Ich glaube, allein aus diesem Grund sind wir zu dieser schrecklich kalten Jahreszeit nach Köln gefahren.«

»Aber was sind das denn für Leute?«

Unter Simons tadelndem Blick wurde Adelind bewusst, dass sie unnötig laut gesprochen hatte.

»Man nennt sie ›die guten Menschen‹«, erklärte der Alte nach einer kurzen Pause. »Sie sind sehr wohltätig, kümmern sich um Kranke und Waisen.«

»Daran ist doch nichts Schlimmes. Auch in Klöstern wird so gehandelt«, erwiderte Adelind. Simons faltiges Gesicht verzog sich zu nachsichtigem Spott.

»In manchen Klöstern vielleicht. Aber diesen Leuten ist es ernster mit der Frömmigkeit und Nächstenliebe.«

»Und warum wird daraus ein solches Geheimnis gemacht?«

Adelinds Herz pochte aufgeregt, wie jedes Mal, wenn sie etwas über Peyres in Erfahrung brachte.

»Weil es als notwendig gesehen wird«, entgegnete Simon. »Frage nicht so viel, es ist nicht gut. Du hast doch damit nichts zu schaffen.«

Adelind senkte den Blick. Bereits im Kloster war sie oft für allzu forsche Wissbegier gerügt worden.

»Es ist nur so«, erklärte sie leicht beschämt, »dass ich stets das Gefühl habe, Peyres mag mich nicht besonders. Er redet kaum mit mir, außer es geht um meine Auftritte. Und nun wollte ich wissen, warum ich ihn eben so verärgert habe.«

Ganz stimmig war die Erklärung nicht, aber sie traf den wesentlichen Kern des Problems. Simons Blick wurde etwas sanfter, während die Falten auf seiner Stirn sich vertieften.

»Er ist anders, seid ihr bei uns seid«, meinte er nach einer kurzen Pause. »Er treibt es nicht mehr mit Marcia im Wagen. Wenn Antonius und ich es mitbekamen, störte es ihn nicht. Aber euer Missfallen will er nicht erregen. Marcia hat es auch gemerkt, deshalb ist sie in letzter Zeit so schlechter Laune und versucht ständig, ihn zu ärgern.«

Adelind nahm seine Worte zwar zur Kenntnis, doch wurde sie nicht von ihnen überzeugt.

»Er schleicht sich mit Marcia eben ins Gebüsch«, entgegnete sie und erschrak, wie scharf ihre Stimme klang. Simon seufzte leise.

»Mädchen, Peyres ist ein kluger Kopf, aber seine Herkunft macht ihn zum Unrat dieser Welt. Niemals konnte er lesen und schreiben lernen. Er bewundert euch mit all den schönen lateinischen Sprüchen, die ihr aufsagen könnt. Doch er weiß auch, dass ihr nicht lange bei der Truppe bleiben werdet.«

Adelind stieß ein bitteres Lachen aus.

»Wohin sollten wir denn gehen?«

»Das wird sich finden. Ihr seid vornehm, das sieht man euch an.« Simon legte kurz seine Hand auf die ihre. Sie staunte, wie tröstlich diese Berührung war. »Vertraue auf Gott. Ihr gehört nicht zu uns, und Gott wird euch wieder von uns fortführen.«

Adelind bemerkte, dass diese Worte sie wehmütig stimmten. Bevor sie darüber nachzudenken begann, woran dies lag, wurde die Plane am Eingang zur Seite geschoben. Hildegards Gesicht erschien, leicht gerötet und mit leuchtenden Augen.

»Du glaubst nicht, wie herrlich dieses Münster ist«, rief sie ihrer Schwester entgegen. »Man spürt Gottes Allmacht, sobald man durch das Eingangstor getreten ist.«

Nach ihr kletterte Antonius herein. Sie ergriff sogleich seine Hand, um ihn in jene Ecke zu ziehen, wo die Kiste mit den Utensilien des Zahnkünstlers lag.

»Du wolltest mir alles erklären«, drängte sie. »Ich möchte lernen, wie ich dieses Bilsenkraut erhitze, damit der Dampf Zahnwürmer verjagt.«

Bald schon hockten beide vor der geöffneten Kiste. Antonius redete mehr, als er in den ganzen letzten Wochen gesprochen hatte. Sein Blick hing wie gewohnt an Hildegard, die ihrerseits neugierig Zangen, Gefäße und Kräuter musterte. Beide Gesichter strahlten aufgeregt.

Adelind konnte sich auf einmal vorstellen, dass auch ihre Schwester die Truppe vielleicht nicht mit leichtem Herzen verlassen würde, sollte Simons Prophezeiung jemals wahr werden.

Die Ketzerin von Carcassonne

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