Читать книгу Das Mädchen aus Prag - Tereza Vanek - Страница 10

5. Kapitel Prag, 15. September 1997

Оглавление

„Wie wohl das tschechische Schulsystem aussieht?“, fragte der etwa fünfzehnjährige Junge seinen Sitznachbarn. Marina hoffte, die beiden wären durch diese Unterhaltung abgelenkt. Während der Zugfahrt hatten sie die meiste Zeit herumgezappelt und dabei ständig gegen den Vordersitz getreten, auf dem sie unglücklicherweise saß.

„Glaubst du, die haben so was da drüben? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.“

Gekicher erklang, während sie eine weitere Tüte Chips aufrissen.

Marina verspürte ein unklares Gefühl von Ärger und hätte den beiden gern einen Vortrag gehalten, dass Tschechien einige bedeutende Literaten und Wissenschaftler hervorgebracht hatte. Sie fürchtete allerdings, sich lächerlich zu machen. Die Jungs waren mit dem Rest ihrer Klasse unterwegs, um möglichst viel Bier zu trinken und bis zum Morgengrauen Party zu feiern. Prag galt als Ort, an dem das für wenig Geld möglich war.

Offenbar hatte dies zur Folge, dass ein ganzes Land nicht wirklich ernst genommen wurde.

Sie selbst vertraute auf ein funktionierendes tschechisches Schulsystem, aus dem ihre zukünftigen Schüler hervorgegangen waren. Die Aussicht auf ihre neue Aufgabe erfüllte sie mit Nervosität, aber auch mit Stolz. Alle Jobangebote, die von ihrem Vater oder Klaus gekommen waren, hatte sie als Möglichkeit gesehen, sich finanziell über Wasser zu halten. Aber Lehrerin wollte sie sein, weil es ihrem Wesen entsprach.

Zwar befand sie sich auf einer Reise ins Ungewisse, aber sie ging davon aus, die Herausforderungen meistern zu können. Wenigstens tat sie es in diesem Augenblick. Wenn sie nachts manchmal aufwachte, fühlte sie sich vor Angst regelrecht gelähmt und sie hatte mehrfach erwogen, die ganze geplante Reise wieder abzusagen. Aber nun war sie schon fast am Ziel.

Der Zug schlängelte sich ratternd und holpernd durch diverse Ortschaften. Die einzig größere Stadt nach der Grenze war Pilsen gewesen. Marina musterte viele graue Gebäude, die halb verfallen und erdrückend trist wirkten. Manchmal tauchten aber auch Bauten von fast betörender Schönheit auf, mit verspielten Fassaden und kunstvollen Türmchen. Sie erzählten von der vergangenen Größe dieses Landes, doch auch sie hatten eine unschöne Schicht aus Zerfall und Tristesse abbekommen. Marina verspürte Unbehagen, konnte aber nicht leugnen, dass diese ramponierten Zeichen einstiger Pracht ihren Reiz hatten. Dieses Land lud dazu ein, Geschichten zu erzählen.

Die Aussicht auf Erfolg und Wohlstand hingegen versprach es nicht. Sie glaubte, wieder Klaus’ skeptische Miene vor sich zu sehen. Ihr Vater wäre optimistischer eingestellt, ahnte sie. Vielleicht begriff man mit einem gewissen Alter, dass nichts endgültig sein musste.

Schließlich verkündete ein Schild Praha hlavní nádraží und der Zug rollte in die Endstation. Um Marina herum erwachten die anderen Reisegäste aus der durch eine mehrstündige Zugfahrt entstandenen Lethargie. Koffer wurden aus den Netzen über den Sitzen auf den Boden gehievt, drohten dabei manchmal, aus den zupackenden Händen zu gleiten und auf schutzlose Köpfe zu fallen. Ungeduldig rempelte man sich gegenseitig an und begann laut zu debattieren. Die tschechische Familie neben Marina packte den Rest an belegten Broten ein, mit denen sie fast die ganze Reise lang beschäftigt gewesen war. Der Geruch von billiger Wurst würde Marina vielleicht bis an den Rest ihres Lebens an diese Zugfahrt erinnern.

Sie drückte ihre Nase gegen die verschmutzte Fensterscheibe. Zunächst würde sie alle anderen Leute aussteigen lassen, damit die ganze Hektik vorbei war. Leider wirkte auch der Bahnhof der Hauptstadt grau und heruntergekommen. Die meisten dort versammelten Gestalten trugen Kleidung wie aus einem Trödelladen. Ihre breiten Gesichter schienen irgendwie gemütlich, was Marinas Laune etwas anhob. Sie stand entschlossen auf und schulterte ihren Rucksack. Bisher hatte sie nur das Allernötigste mitgenommen, denn an Weihnachten würde sie daheim Urlaub machen. Mit etwas Glück hätte sie bis dahin in Prag eine eigene Wohnung, wo sie ihre Habseligkeiten unterbringen könnte.

Sie sprang die hohen Stufen am Zugausgang hinab und landete auf dem Bahnsteig. Es wehte ein frischer Wind, aber der Tag war sonnig. Hoffentlich würde diese Stadt dadurch auch ein wenig Farbe bekommen. Marina zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und sah sich um.

Lucie Bílá hieß die Frau, von der sie abgeholt werden sollte. Sie musste etwa im Alter ihres Vaters sein und hatte angeblich ein Foto ihrer zukünftigen Untermieterin erhalten, während Marina selbst nach einer Unbekannten suchte. Ratlos blieb sie auf dem Bahnsteig stehen. Was wäre, wenn niemand kam? Sie fühlte sich plötzlich völlig fehl am Platz und überflüssig. Die Schulklasse, die sie fast die ganze Zugfahrt lang genervt hatte, wurde indessen von einem erschöpften Lehrer zusammengetrieben und eine breite Treppe hinuntergelotst. Überall begrüßten Leute sich lautstark, fielen einander sogar in die Arme und plapperten fröhlich. Nur sie stand hier herum wie ein vergessenes Gepäckstück.

Ein paar Sekunden lang fürchtete sie in Tränen auszubrechen, da kam plötzlich eine Frau auf sie zugeeilt. Ihr weiches Puppengesicht wurde schon von ein paar Falten durchzogen, dennoch konnte Marina den Blick kaum abwenden. Auf blondierten Locken saß eine blaue Baskenmütze, die zu dem ebenfalls blauen Blazer passte. Ein weiter Rock umspielte wohlgeformte Beine.

„Fräulein Friedrich? Sind Sie das?“

Die Frau ließ jedes R genüsslich auf ihrer Zunge rollen. Ansonsten sprach sie den deutschen Namen mühelos aus. Marinas Vater hatte erzählt, dass Lucie als ehemalige Studentin der Germanistik keine Sprachprobleme hätte.

„Ja. Das bin ich.“

Marina streckte die Hand aus. Vor dieser überaus adretten Erscheinung kam sie sich in Jeans und Anorak plötzlich schäbig vor. Falls Lucie ebenfalls in Trödelläden einkaufte, wusste sie dort wahre Schätze zu finden.

„Willkommen in Prag. Ich bin froh, Sie kennenzulernen.“

Lucies Händedruck war damenhaft zart, doch sie lotste Marina zielstrebig durch die Menschenmenge. Es ging hinab in ein Untergeschoss, wo Händler Billigware feilboten und die Luft nach Imbissbuden stank. Danach traten sie ins Freie und steuerten auf Lucies verbeulten Skoda zu. Marina sank erleichtert auf den Beifahrersitz, denn nun konnte nichts mehr schiefgehen.

Die Stadt war ähnlich laut und schmuddelig wie der Bahnhof. Gleichzeitig tauchten an zahlreichen Ecken immer wieder die Zeichen vergangener Größe auf, Jugendstilfassaden und verspielte Erker, barocke Kirchen mit prächtigen Kuppeln. Auch die recht häufigen Graffitis zeugten manchmal vom Kunstverständnis ihrer Schöpfer. Daneben leuchtete grelle Reklame als Hinweis, dass kommunistische Tristesse inzwischen von kapitalistischer Geschmacklosigkeit abgelöst worden war. Marina wünschte sich plötzlich, ihre Kamera nicht im Koffer verstaut zu haben. Irgendwann wären solche Bilder Zeugnisse von Zeitgeschichte, die sie potenziellen Enkelkindern zeigen könnte.

„Ich hoffe, es gefällt Ihnen in Prag“, plauderte Lucie, während sie durch die Stadt kurvte. Die Straßen konnten nicht besonders gut sein, denn das Auto hüpfte immer wieder durch Schlaglöcher.

„Ja. Ich finde die Stadt sehr eindrucksvoll“, erwiderte Marina brav. Mehr fiel ihr nicht ein. Sie wusste nicht, ob „gefallen“ das richtige Verb war, um ihren Gefühlszustand zu beschreiben. Sie fand es auf jeden Fall reizvoll, die ungewohnte Umgebung zu betrachten. Ein wenig vermisste sie deutsche Ordnung und Sauberkeit. Auch das pittoreske südeuropäische Chaos, das sie aus Urlaubsreisen nach Italien und Spanien kannte, war hier nicht wirklich zu entdecken. Sie hatte das Gefühl, völliges Neuland zu betreten.

„Wir wohnen am Stadtrand. Aber haben Sie keine Angst. Kein panelák, also es ist ein älteres Haus.“

Marina ging davon aus, dass der ihr unbekannte Begriff Plattenbau bedeutete. Auch Lucies Deutschkenntnisse waren nicht unbegrenzt. Dabei hätte sie gegen einen Plattenbau nichts einzuwenden gehabt. Die ultimative Osterfahrung hätte Ulrike einen solchen Wohnort genannt.

Das Haus, vor dem der Skoda schließlich zum Stillstand kam, hatte etwa fünf Stockwerke und eine grün gestrichene, bröckelige Fassade. Der Flur war unangenehm düster, die Wände wiesen Flecken auf. Marina dachte an ihre Reise nach Berlin vor zwei Jahren gemeinsam mit Ulrike. Im Ostteil der Stadt hatten viele Häuser ähnlich ausgesehen. Ulrike hatte das reizvoll gefunden und sie beschloss, es nun selbst auch so zu sehen.

„Licht kaputt, aber es wird bald repariert“, kommentierte Lucie die wenig gemütliche Atmosphäre. Marina folgte ihr die hölzernen Stufen hoch. Schließlich sperrte Lucie im dritten Stock eine Tür auf. Marina trat neugierig hinter ihr in jene Wohnung, die fürs Erste ihr neues Zuhause sein sollte.

Zunächst einmal schien wieder alles dunkel. Es gab kein Fenster im Korridor, aber sehr viele Möbel aus schwerem Mahagoni. In Deutschland würden Antiquitätenhändler sich die Finger danach lecken, dachte Marina, während Lucie in entschuldigendem Tonfall erklärte, diese Möbel hätten noch ihrer Großmutter gehört.

Aus der angrenzenden Küche trat ein großer, grauhaariger Mann und streckte Marina seine Hand entgegen.

„Karel. Mein Mann“, erklärte Lucie und ließ ein paar tschechische Worte folgen. Karel lächelte Marina an. Er hatte leicht schiefe Zähne und eine grauenhaft altmodisch eckige Brille, strahlte aber eine gelassene Intelligenz aus, die sie spontan sympathisch fand.

Sie begrüßte ihn auf Deutsch, erhielt jedoch keine Antwort. Offenbar hatte er nicht Germanistik studiert.

„Das ist meine Tochter Terezka“, stellte Lucie nun ein blasses, pickeliges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren vor. Zu Marinas Schulzeiten wäre dieses Geschöpf vom ersten Moment an als langweilige Streberin abgestempelt worden. Terezka vermochte ein paar deutsche Worte zu sagen, doch ihre Stimme klang heiser und hoffnungslos schüchtern. Marina verspürte Mitgefühl, gleichzeitig Erleichterung. Sie wusste, wie unausstehlich Teenagermädchen sein konnten. Dieses verhuschte Exemplar drohte wenigstens keine Schwierigkeiten zu machen, wenn sie gemeinsam unter einem Dach lebten.

Gleich darauf erschien eine weitere Tochter und Marina merkte, dass sie sich zu früh gefreut hatte.

„Magda. Karels Tochter“, erklärte Lucie. Ihre Stimme schien um ein paar Grade kühler geworden zu sein. Marina registrierte einen unausgesprochenen Konflikt, der in der Luft lag. Magda musste aus der ersten Ehe von Lucies Mann stammen und war aus irgendwelchen Gründen bei seiner neuen Familie mit eingezogen. In Deutschland hätte ein Mädchen in diesem Alter wahrscheinlich schon eine eigene Wohnung gehabt, denn Magda musste etwa zweiundzwanzig sein. Ihr hellblondes Haar fiel in makelloser Glätte über ihre Schultern, die enge Jeans betonte schmale, aber reizvoll geschwungene Hüften. Der Ausschnitt des weißen T-Shirts war mit Hilfe einer Schere vertieft worden. Dieses Mädchen brauchte keine teure Kleidung, um Blicke auf sich zu ziehen. Das wusste Magda auch sehr genau. Ihren hochmütigen, leicht gelangweilten Blick kannte Marina bereits von früheren Schulkameradinnen, die sie nicht besonders gemocht hatte.

„Die Deutsche also?“, fragte Magda ihre Stiefmutter. Ohne lange überlegen zu müssen begriff Marina, dass diese Worte auf Deutsch gesagt worden waren, damit sie alles verstand.

„Ja, unsere Untermieterin“, erwiderte Lucie mit einem sehr künstlichen Lächeln. „Sie kann dir vielleicht bei den Hausaufgaben helfen. Terezka braucht das ja nicht.“

Auf welch subtile Weise Frauen doch gemein sein konnten! Marina begriff, dass Magda sicher viele Verehrer, dafür aber schlechte Noten hatte. Ihre Halbschwester hingegen konnte gut Klassenbeste sein. Lucie war stolz darauf. Wäre Magda ihr Kind gewesen, hätte sie vielleicht deren Vorzüge höher bewertet.

„Ich wüsste nicht, wozu ich noch eine Deutschlehrerin brauche“, kam es auch schon von Magda. Sie hatte sogar recht. Marina musste zugeben, dass ihr Deutsch nicht schlecht war.

„Manche Leute haben Deutsch studiert und verdienen jetzt auch nicht besonders viel“, fuhr Magda fort und sah dabei ihre Stiefmutter an. Rotzgöre, dachte Marina. Dieser spöttische Kommentar konnte durchaus auch auf sie bezogen werden.

Lucies Wangen bekamen rote Flecken und tschechische Worte kamen wie Munition aus ihrem Mund. Magda hielt dem Angriff recht gelassen stand, ja ein Blitzen ihrer Augen verriet, dass sie es genoss, die Stiefmutter aus der Fassung gebracht zu haben. Schließlich mischte Karel sich ein. Er glich einem gemütlichen Bären, der ganz unerwartet seine Kraft zeigen konnte.

Die Frauen verstummten tatsächlich und Marina war froh darum.

„Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer“, sagte Lucie gleich darauf.

Marina nickte. Sie ahnte, dass ihre Gastgeberin nur auf eine Gelegenheit wartete, der unangenehmen Stieftochter zu entkommen.

„Dort hinten. Gleich hinter dem Bad, da werden Sie wohnen.“

Lucie öffnete die Tür. Marina erschrak, wie klein der Raum war. Hatte man sie in einer ehemaligen Abstellkammer untergebracht? Immerhin passte ein Bett hinein. Gleich daneben stand ein Schrank, der mit Bildern von Popstars beklebt war. Michael Jackson, Madonna, dann noch ein paar unbekannte Gesichter.

„Wohnt hier nicht Ihre Tochter?“, fragte sie verwirrt.

„Es war Magdas Zimmer“, gab Lucie zu. „Aber jetzt wohnt Magda mit Terezka in einem Zimmer. Beides Mädchen, das geht doch.“

Wieder klang ihr Lachen sehr gezwungen. Marina kam sich plötzlich vor wie ein Eindringling. Zwei Mädchen, die einander wohl nicht besonders mochten, weil sie sehr verschieden waren, hatte man ihretwegen zu einem anstrengenden Zusammenleben verdammt. Wahrscheinlich brauchte die Familie dringend Geld.

Hier bleibe ich nicht lange, beschloss sie, stellte ihren Rucksack aber in einer Ecke des kleinen Raumes ab. Es gab nur ein winziges Fenster, das gekippt worden war. Unmittelbar dahinter befand sich eine Mauer, sodass sie auf grauen Stein blickte. Es musste sich um eine Art Schacht zwischen mehreren Häusern handeln, denn unten lagen seltsame Gegenstände wie Zeitungspapier, Holzkisten und sogar ein Föhn. Ob er wohl versehentlich aus dem Fenster geworfen worden war?, überlegte Marina.

„Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“

Lucies Stimme klang so bemüht gastfreundlich, dass Marina beschloss, doch nicht schon am nächsten Tag auszuziehen. Sie war aber erleichtert, als die Tür hinter ihr zufiel, und sank auf den einzigen Stuhl. Von draußen drangen tschechische Worte an ihr Ohr. Sie erkannte die melodische Stimme von Lucie und Magdas leicht arroganten Tonfall. So also konnte das Zusammenleben von Familien aussehen, von dem einige Anhänger traditioneller Werte an der Uni geschwärmt hatten, dachte sie spöttisch. Man bekriegte sich tagtäglich, weil kein Ausweichen möglich war.

Langsam packte sie ihre Habseligkeiten aus. Das Gefühl von Enge schnürte ihr die Kehle zu, obwohl sie sich hinter einer geschlossenen Tür befand. Auf einmal schien ihre winzige Wohnung in Regensburg ihr geradezu luxuriös, weil sie dort in ihrer Privatsphäre völlig ungestört gewesen war. Hier drohte sie anderen Menschen über den Weg laufen, sobald sie zur Toilette wollte. Völlig still wäre es wahrscheinlich nur, wenn alle schliefen oder außer Haus waren.

Aber fürs Erste würde es gehen müssen.

Zwei Tage später bestieg Marina die Trambahn, um sich an ihrem Arbeitsplatz vorzustellen. Lucie hatte ihr genau aufgeschrieben, wo sie aussteigen musste, und ihr auch einen Stadtplan in die Hand gedrückt. Marina zockelte an grauen Häuserfassaden vorbei. Es gab erstaunlich viele schlecht gelaunte ältere Leute in der Stadt, die alle jugendlich aussehenden Mitfahrgäste skeptisch musterten. Tschechen um die zwanzig hingegen gaben sich recht locker, plauderten lautstark und hatten auch kein Problem damit, in öffentlichen Verkehrsmitteln herumzuknutschen. Als die Trambahn sich der Innenstadt näherte, häuften sich Mitreisende aus aller Welt. Eine Gruppe von Italienern wedelte mit ihren Stadtplänen herum, während alle versuchten, sich auf eine Route zu einigen. Drei deutsche Schülerinnen mit norddeutschem Zungenschlag ließen sich über den Technoklub aus, in dem sie gestern gewesen waren, und diskutierten anschließend, ob es cool wäre, hier auch eine Opernaufführung anzusehen.

Marina kam sich wie eine Außenseiterin von. Sie gehörte nicht zu den Tschechen, aber im Gegensatz zu den anderen Leuten aus westeuropäischen Ländern war sie nicht nur hier, um Urlaub zu machen.

Die Schule befand sich in dem obersten Stockwerk eines Plattenbaus. Marina hatte trotz Stadtplan recht lange gebraucht, den richtigen Ort zu finden. Zum Glück gab es einen funktionierenden Aufzug. Nachdem sie oben geklingelt hatte, machte ihr eine Frau mit künstlich blondiertem Haar und herzlichem Lächeln auf.

„Sie sind die Lehrerin aus Deutschland?“

Marina fragte sich, ob sie einen einschlägigen Stempel auf der Stirn trug. Obwohl Tschechen ebenso mitteleuropäisch aussahen wie Deutsche, musste der Unterschied doch deutlich sichtbar sein. Vermutlich lag es an der Kleidung, denn die Frauen hier mochten es verspielter und weiblicher. Das Auftreten könnte ein weiterer Grund sein.

„Ja“, antwortete sie. „Ich fürchte, ich bin ein bisschen spät. Es tut mir sehr leid.“

„Ach, kein Problem. Ausländer haben es immer schwer, uns hier zu finden.“ Die Blondine lachte unverkrampft.

Von so viel gelassener Freundlichkeit hätten die Empfangsdamen in Klaus’ Firma sich eine Scheibe abschneiden können.

„Also Herr Prokop, der Eigentümer der Schule, wird Sie gleich empfangen. Er freut sich sehr darauf, Sie kennenzulernen. Kaffee?“

Marina nickte dankbar. Bei ihrer Gastfamilie gab es morgens nur Tee und sie musste feststellen, dass der Koffeinmangel sie müde machte.

„Wir haben nur Turek. Also türkischen Kaffee. Dabei habe ich keine Ahnung, wie Türken wirklich Kaffee trinken. Ich war nie dort.“

Wieder eine herzliche Lachsalve.

„Ich habe als Kind einmal mit meinem Vater Istanbul besucht“, erzählte Marina, um nicht unkommunikativ zu sein. „Also türkischer Kaffee wird in kleinen Tassen serviert und ist ziemlich bitter.“

„Ja, Deutsche sind reiselustig, ich weiß.“

Die Sekretärin hantierte hinter ihr an einer Kochplatte herum. Marina fragte sich, ob sie sich den vorwurfsvollen Tonfall nur eingebildet hatte. Ihre ganze Kindheit lang hatte sie jährliche Urlaubsreisen ins Ausland als selbstverständlich empfunden, jetzt wurde ihr klar, dass sie es für Leute aus benachbarten Ländern nicht unbedingt waren.

„Hier. Der tschechische türkische Kaffee“, meinte Sekretärin lächelnd und stellte ein Glas vor ihr ab, in dem ein braunes dickflüssiges Gebräu schwamm. Heißes Wasser war auf Kaffeepulver gegossen worden, bemerkte Marina. Sie bedankte sich höflich. Der Geschmack des Heißgetränks begeisterte sie zwar nicht unbedingt, aber immerhin bekam sie den lang ersehnten Koffeinschub.

Herr Prokop ließ sie zu sich rufen, nachdem sie die Hälfte des Glases geleert hatte. Er war ein hochgewachsener Mann mit Brille und schütterem Haar, der sie an ihren früheren Geschichtslehrer erinnerte. Auch er beherrschte die deutsche Sprache fließend, und ganz nebenbei erfuhr Marina, dass die Turek kochende, vermeintliche Sekretärin in Wahrheit seine Ehefrau war. Sie hatten sich beide an der Universität beim Germanistikstudium kennengelernt und vorher als Lehrer im Staatsdienst gearbeitet, bevor sie beschlossen, sich mit einer Privatschule selbstständig zu machen. Marinas Mitarbeit sah er offenbar als sehr erfreulich an. Es sei nicht einfach, deutsche Muttersprachler aus dem Nachbarland zu bekommen, gab er zu. Für Englisch hingegen gäbe es weitaus mehr Bewerber. Nach einer kurzen Unterhaltung wurde Marina ihren zukünftigen Schülern vorgestellt. Es waren allesamt junge Leute von etwa neunzehn Jahren, die ihre Maturita, also das Abitur, abgelegt hatten und nun eine intensive Sprachausbildung machen wollten, bevor sie sich für die Universität oder eine Arbeitsstelle bewarben. Insgesamt sahen sie nicht wesentlich anders aus als deutsche Abiturienten. Es gab langhaarige Alternative, brave Gestalten in unauffälliger Kleidung und sogar zwei Träger sichtlich teurer Markenklamotten. Die Stimmung schien recht entspannt. Sie stellte sich kurz auf Deutsch vor, beantwortete ein paar Fragen und ließ die jungen Leute etwas über sich selbst erzählen. Sie wirkten alle umgänglich, was einen unkomplizierten Unterricht versprach. Nachdem sie auch die Lehrbücher hatte ansehen dürfen, führte Herr Prokop sie ins Lehrerzimmer, wo sie ihre Kollegen kennenlernen sollte.

Den Hinweis auf die Verfügbarkeit englischer Muttersprachler hatte sie kaum beachtet, da zu viel neue Eindrücke auf sie einstürzten. Nun war sie erstaunt, vor allem englische Worte zu hören. Drei Leute saßen an einem runden Tisch zusammen und debattierten, ob das tschechische Leitungswasser trinkbar wäre. Herr Prokop äußerte sich nicht zu der Frage, sondern schob Marina herein und stellte sie als deutsche Kollegin vor. Die Köpfe wandten sich ihr zu. Marina erblickte zwei junge Männer und eine etwas ältere Frau mit leicht ergrautem Haarschopf. Sie hielten ebenfalls Gläser mit Turek in der Hand. Wie sie gleich darauf erfuhr, handelte es sich um einen Kanadier, einen Schotten und eine Amerikanerin.

„Und hier ist noch Jana, die zweite Deutschlehrerin“, meinte Herr Prokop.

Jana hatte etwas weiter entfernt auf einem Sofa gesessen und in einer Zeitung geblättert. Nun stand sie auf. Sie hatte hennarot gefärbtes Haar, das bis zu ihrer Taille hinabhing, und trug ein wallendes, grünes Samtkleid. An ihren Handgelenken klapperten silberne Armreifen. Lächelnd streckte sie Marina die Hand entgegen und grüßte auf sympathisch unverkrampfte Weise.

„Dann bin ich abgesehen von den Chefs wohl die einzige Tschechin hier“, sagte sie schulterzuckend.

„Haben Sie … hast du auch Germanistik studiert?“, fragte Marina.

Jana nickte. „Es war eine sehr gute Idee. Jetzt kann ich mir meinen Arbeitsplatz aussuchen.“

„Da bist du besser dran als Germanisten in Deutschland“, erwiderte Marina lachend. Jana schien erstaunt, lauschte aber interessiert den Beschreibungen von Marinas erfolgloser Jobsuche in Regensburg. Indessen waren die englischen Muttersprachler beim Thema Bars und Diskotheken der Stadt angelangt. Jana mischte sich rasch ein. Ihr Englisch war ebenfalls gut und sie schlug ein paar Klubs am Ufer der Moldau vor. Noch bevor es Zeit zum Mittagessen war, hatte Marina eine Verabredung, am nächsten Wochenende mit all ihren neuen Kollegen auszugehen.

Das Leben in Prag würde vielleicht doch ganz angenehm anlaufen.

Die nächsten Tage erwiesen sich als anstrengend. Sie lernte, dass sie Lucie im Bad den Vortritt lassen sollte, da die Familienmutter das Frühstück vorbereitete. Zwar waren tschechische Frauen fast alle Vollzeit berufstätig, hielten es aber für völlig normal, dass ihre Männer nicht im Haushalt mithalfen. Als Marina einmal fragte, ob Lucies Ehemann wenigstens ab und an den Müll herunterbrachte, erntete sie nur ein herzhaftes Lachen. Es wäre einfacher, es selbst zu tun, als ihn dazu zu überreden. Sie störte sich zwar daran, wie gelassen Lucie diese Dinge hinnahm, verzichtete um des Friedens willen aber auf eine Diskussion. Ihr genügten die Konflikte, die sie mit Magda auszutragen hatte. Ging sie vor der hochnäsigen Tochter duschen, hörte sie bald darauf ein ungeduldiges Klopfen an der Tür. Als sie am nächsten Tag dem Mädchen großzügig den Vortritt ließ, musste sie so lange warten, dass sie fast zu spät in ihre Schule gekommen wäre. Terezka hingegen huschte herum wie ein Geist, bemüht, sich weitgehend unsichtbar zu machen. Die meiste Zeit saß sie über Schulbüchern, bei den gemeinsamen Mahlzeiten redete sie nur das Allernötigste. Als Marina einmal versuchte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, kamen die Antworten mit leiser, heiserer Stimme, als würden sie unter Qualen herausgepresst. Marina beschloss, das Mädchen besser in Frieden zu lassen. Es war nur zu hoffen, dass Terezka ihre extreme Schüchternheit mit der Zeit überwinden würde, denn sonst wäre ihr ganzes zukünftiges Leben davon belastet.

„Im Westen gibt es viele unverheiratete Frauen, oder?“, meinte Magda kurz darauf, als sie Marina im Gang traf.

„Ja … ich glaube schon.“ Marina stellte fest, dass sie darüber nie wirklich nachgedacht hatte.

„Bei uns nicht“, erwiderte Magda schulterzuckend. „Mein Großvater meinte immer, dass in diesem Land jede anständige Frau verheiratet ist.“ Sie lachte kurz auf.

Marina verzog das Gesicht, war sich aber fast sicher, dass auch deutsche Großväter ähnliche Ansichten hatten.

„Aber das wird sich jetzt vielleicht ändern“, fuhr Magda fort. „Ein Glück für meine Schwester. Die kleine Streberin bekommt nie einen Mann, so, wie sie sich anstellt.“

Bevor Marina ihr eine empörte Antwort geben konnte, war Magda in dem Zimmer der zwei Mädchen verschwunden. Marina überlegte, dass es durchaus Vorteile gehabt hatte, als Einzelkind aufzuwachsen. Ob sie nicht schon um Terezkas Willen ausziehen sollte? Mit einer solchen Giftschlange wie Magda in einem Raum zu wohnen, konnte man niemandem zumuten.

Dafür lief ihr Unterricht recht gut an. Die Schüler schienen sehr interessiert, als sie von Deutschland erzählte, und hörten mit sichtlichem Erstaunen, dass es in Marinas Leben keineswegs immer geordnet und diszipliniert zugegangen war. Die Vorstellung, welche hierzulande über ihre Heimat herrschte, erstaunte wiederum Marina. Der Austausch erwies sich spannender als erwartet und sie bekam endgültig das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Als Bürohilfe in irgendeinem deutschen Unternehmen hätte sie zwar deutlich besser verdient, aber keine so aufregenden Erfahrungen gemacht.

Gleichzeitig lernte sie die anderen Lehrer etwas besser kennen. Joss, der Kanadier, las gerne Science-Fiction-Romane und machte einen recht introvertierten Eindruck. Ganz anders war der Schotte Graham, denn er hatte bereits mehrere Verehrerinnen unter seinen Schülerinnen und flirtete unverhohlen mit ihnen, wenn sie vor dem Lehrerzimmer auf ihn warteten. Marina ahnte, dass ein solches Verhalten an einer deutschen Schule Anstoß erregt hätte, doch hier nahm man es mit einem Schulterzucken hin.

Barbara Grey, die vierzigjährige Amerikanerin aus Boston, hatte nach einer anstrengenden Scheidung ihren ungeliebten Job gekündigt, um in Europa neu anzufangen. Sie wirkte erstaunlich gelassen, als ginge sie davon aus, dass kein Schicksalsschlag sie noch in die Knie zwingen konnte. Das Zusammensein mit deutlich jüngeren Menschen bereitete ihr offensichtlich Freude.

Am interessantesten aber erschien Marina Jana, die Tschechin mit den langen roten Haaren und einer Vorliebe für Hippiekleider. Sie vermochte sich ihre Zigarette so lässig sexy zwischen die Lippen zu klemmen, wie Marina es bisher nur bei Französinnen gesehen hatte. Völlig ungeniert plauderte sie über ihr chaotisches, daher abwechslungsreiches Liebesleben und war fast jeden Abend irgendwo verabredet. An dem bevorstehenden Wochenende wollte sie ihren Kollegen offenbar einen Gefallen erweisen, indem sie sich Zeit für sie nahm.

Marina verspürte Aufregung, als sie sich am Freitag nach Feierabend zurechtmachte, und wählte ihr Outfit mit Sorgfalt aus. Sie ahnte inzwischen, dass Prag ein recht reges Nachtleben hatte, und hatte viele fantasievoll und ausgefallen gekleidete junge Frauen auf den Straßen gesehen. Sie wollte nicht in deren Schatten stehen, obwohl sie ahnte, dass sie zu einer so ungezwungenen erotischen Ausstrahlung, wie Jana sie besaß, nicht fähig wäre. Schließlich entschied sie sich für einen kurzen Jeansrock und einen geringelten Hippiepullover, denn trotz aller Eitelkeit wollte sie nicht frieren. In Plateauschuhen und einem Anorak machte sie sich auf den Weg zur U-Bahn.

Sie trafen sich alle an der Haltestelle Staroměstská und liefen von dort aus zum Moldauufer. Trotz der frischen Temperaturen waren etliche Leute unterwegs und Marina war sich sicher, so ziemlich alle Sprachen der Welt wenigstens kurz gehört zu haben, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Über dem Klub namens Lávka, der sich in einem weiß getünchten Gebäude am Ufer der Moldau befand, thronte malerisch die Silhouette der Prager Burg. Auf dem Fluss schwammen Schiffe, deren Lichter sich auf dem Wasser spiegelten. Kurz fühlte Marina sich ergriffen von der Pracht uralter Bauten, die wie die Kulisse zu einem Märchenfilm wirkten. Sightseeing war für den nächsten Sonntag eingeplant, sie hatte bereits eine Verabredung mit Barbara und ihre Vermieterin Lucie hatte sich bereit erklärt, sie herumzuführen. Im Augenblick war schlichte Unterhaltung angesagt, so wie zu ihrer Studienzeit in Regensburg, wo sie abends auch gern ausgegangen war. Lateinamerikanische Musik drang aus dem Klub, vor dem Eingang hatte sich schon eine Schlange gebildet und Leute plauderten rauchend miteinander, während sie auf Einlass warteten.

In München hatte Marina einmal die Allmacht von Türstehern zu spüren bekommen, die Gäste beliebig abweisen konnten. Hier hatte dieses Vorgehen sich zum Glück noch nicht durchgesetzt, denn sie wurden problemlos hereingewunken, nachdem sie Eintritt bezahlt hatten.

Drinnen wurde bei Dämmerlicht Salsa getanzt. Diese Musik passte nicht wirklich zum klassisch europäischen Prag, aber Marina entdeckte ein paar dunkelhäutige Gesichter unter den Gästen. Ihre ganze Gruppe fand gleich einen freien Tisch, doch bevor sie sich setzen konnte, wurde sie von Joss zum Tanz aufgefordert. Sie nahm an, um nicht unhöflich zu sein. An Grahams Seite war bereits ein sehr junges Mädchen aufgetaucht, eine Schülerin vermutlich, die er hierher eingeladen hatte. Barbara zündete sich eine Zigarette an und unterhielt sich kurz mit Jana, bevor diese mit einem der Afrikaner auf der Tanzfläche verschwand.

Eng umschlungen mit Joss zu tanzen gefiel Marina nicht unbedingt, aber sie war zu rücksichtsvoll, um ihn wegzuschieben. Er hielt sie verkrampft fest, als sei sie ein Gegenstand, den er nicht fallen lassen wollte. Während er sich recht steif zur Musik bewegte, redete er über die verschiedenen Figuren in Interview mit einem Vampir. Offensichtlich hatte er sämtliche Bände der Reihe von Anne Rice gelesen, die laut dem Urteil von Marinas Lehrern eindeutig der Trivialliteratur zuzuordnen war. Joss schien das gleich, er träumte davon, selbst eines Tages einen Vampirroman zu schreiben, wie er Marina anvertraute. Das Gespräch musste aufgrund der lauten Musik im Schreiton stattfinden, was Marina nicht weiter störte. Nur drängte Joss sich allmählich unnötig eng an sie heran und manchmal streifte seine Spucke ihre Wangen. Sie war froh, als der Song beendet war, und hastete zu den zwei anderen Frauen zurück.

„Magst du die Musik?“, fragte Jana, als Marina neben ihr Platz genommen und sich eine Zigarette angezündet hatte. Klaus hatte sie ermutigt, mit dem Rauchen aufzuhören, aber hier, wo fast jeder rauchte, konnte sie nicht umhin, rückfällig zu werden.

„Sie ist nicht übel“, erwiderte Marina höflich. „Aber ehrlich gesagt, stehe ich mehr auf alternative Sachen wie Rock oder Indie.“

Jana grinste. „Das dachte ich mir. Graham mag das auch. Ich habe mehr an Barbara und Joss gedacht, als ich euch hierherführte. Wenn du willst, gehen wir nachher noch woanders hin.“

„Am besten in einen Klub, wo man sich beim Tanzen nicht umarmt“, sagte Marina seufzend und Jana brach in herzliches Gelächter aus.

„Ich wusste gleich, dass Joss auf dich steht. Aber keine Sorge, den wirst du wieder los.“

Sie winkte die Bedienung heran, um weitere Drinks zu bestellen. Auf ihr Anraten hin nahm Marina eine Mischung aus Tonic und Becherovka, tschechischem Kräuterschnaps. Nach bereits drei Schlucken war sie endgültig in Partylaune. Joss hatte sich neben sie gesetzt, aber er versuchte glücklicherweise nicht mehr, die Unterhaltung fortzuführen.

Nachdem alle ihren Drink geleert hatten, ging es wieder in die Altstadt zurück. Jana führte sie durch enge, dunkle Gassen, wo aber sehr viele Leute unterwegs waren. Im Vergleich zu Prag hatte Regensburg auch an den Wochenenden bemerkenswert ruhig gewirkt. Der Klub, den sie nun besuchen sollten, befand sich in keinem so edlen Gebäude wie der erste, sondern glich eher einem Kellerloch. Sie stiegen Stufen hinab, um in einen verrauchten, lauten Raum zu gelangen. Die Wände waren mit durchaus kunstvollen Graffiti verziert, ein paar Lampen flackerten, ohne wirklich für Helligkeit zu sorgen, und rockige Rhythmen hämmerten sofort in Marinas Ohren. Es brauchte eine Weile, bis ihre Augen sich an die schlechte Beleuchtung gewöhnt hatten. Hier schien das Publikum ganz anders als in der Lávka. Sie konnte Rastalocken, Beanie-Mützen und viel schwarze Kleidung erkennen. Insgesamt war das Lokal sehr gut besucht, denn sie mussten sich durch Menschentrauben zur Bar durchkämpfen, um den nächsten Drink zu ergattern. Marina hielt sich an Jana und Barbara. Sie wollte nicht weiter von Joss in Beschlag genommen werden, auch wenn es ihr missfiel, ihn dadurch zu kränken. Er schien unbeholfen im Umgang mit Frauen, hatte wahrscheinlich bisher nicht viele Gelegenheiten gehabt, einschlägige Erfahrungen zu sammeln. All das musste kein Grund sein, einen Mann zurückzuweisen. Dennoch war Marina im Moment nicht bereit, ihm eine Chance zu geben. Zwar sah sie sich nicht mehr als Klaus’ feste Freundin, doch sie wollte sich nicht gleich in das nächste Abenteuer stürzen.

„Tanzen wir?“, brüllte Jana ihr ins Ohr. Marina nickte, stellte ihren Drink auf dem kleinen Tischchen ab, das ihre Gruppe ergattert hatte, und schubste sich mit der Tschechin Richtung Tanzfläche. Die anderen blieben alle stehen; Graham flirtete weiter angeregt mit seiner Schülerin und sonst mochte wohl keiner die Musik so richtig.

„I’m a loser, baby. So why don’t you kill me?“, sang eine junge Männerstimme. Marina grinste. Zu der Zeit, da regelmäßig Absagen im Briefkasten auf sie gewartet hatten, hatte sie diese Single immer wieder aufgelegt und war dazu durch die Wohnung getobt, um ihren Frust abzubauen. Jetzt hatte sie wenigstens eine Arbeit, wenn auch eine schlecht bezahlte. Klaus hatte das Lied als dumm und wehleidig bezeichnet. Er hätte sicher auch diesen Klub furchtbar gefunden, zu laut, zu eng und viel zu verraucht.

Sie merkte plötzlich, dass sie in vieler Hinsicht erleichtert war, Klaus in Regensburg zurückgelassen zu haben. Ihr jeweiliger Blick auf die Welt war zu unterschiedlich gewesen, um eine gemeinsame Zukunft zu versprechen.

Jana bewegte sich ausgelassen zu den Rhythmen. Sie hatte ihre weiten Kleider nun gegen ein eng sitzendes, kurzes schwarzes Kleid eingetauscht, in dem sie schnell die Blicke der umstehenden Jungs auf sich zog. Marina kam sich im Vergleich zu der Tschechin meist steif und unbeholfen vor, aber dank des bereits getrunkenen Becherovka vermochte sie alle Unsicherheit abzuschütteln. Es machte einfach nur Spaß, hier zu der Musik zu tanzen und sich als Teil dieses Völkergemisches zu fühlen, das nach Prag gekommen war, um ausgelassen zu feiern.

Jana wurde von zwei Jungs mit Baseballkappen angeflirtet, die ihr englische Worte in die Ohren plärrten. Sie reagierte mit gelassenem Desinteresse. Ihr aktueller Liebhaber war Algerier, wie Marina wusste. Ein Bürgerkriegsflüchtling, traumatisiert und voller Heimweh. Er ging nicht gern aus und schien nichts dagegen zu haben, dass sie allein loszog. Manchmal hatte Marina den Eindruck, dass Jana unter dem Verhalten dieses Mannes litt, obwohl sie es durch ihre gelassene Art zu verbergen versuchte. Von Fremden bewundert zu werden, tröstete sie ein wenig, weil sie von ihm nicht bekam, wonach sie sich sehnte. Marina selbst war froh, dass die Amerikaner sie in Ruhe ließen, obwohl diese Nichtbeachtung als Kränkung aufgefasst werden konnte. Sie war nie eine Frau gewesen, die überall Männerblicke auf sich zog. Zu Beginn ihres Studiums hatte es sie erleichtert, mit Klaus endlich einen festen Freund vorzuweisen. Erstmals hatte sie das Gefühl gehabt, den begehrten Mädchen das Wasser reichen zu können. Nun war es eine Befreiung zu spüren, wie ihr all dies im Augenblick völlig egal war.

Es folgte ein Hit von Nirvana. Teen Spirit. Marina tanzte mit noch mehr Schwung, denn ein wenig kam dieser Aufenthalt in Prag ihr vor wie eine Verlängerung ihrer Jugend, eine Verweigerung, sich dem Ernst des Lebens zu stellen. Der Zustand gefiel ihr, auch wenn er unvernünftig war.

Sie hatte ungefähr eine Stunde ununterbrochen getanzt, als Jana eine Pause vorschlug, um sich einen weiteren Drink zu holen. Marina folgte, denn sie begann sich langsam erschöpft zu fühlen. Ob man in diesem Klub auch einen Kaffee bekommen konnte? Und wie käme sie überhaupt von hier wieder nach Hause? Lucie hatte ihr erklärt, dass es Nachttrambahnen gab. Aber sie konnte sich im Moment nicht erinnern, von welcher Haltestelle aus die ihre fuhr. Ein Taxi wäre die einfachste Lösung, nur war sie gewarnt worden, dass von Ausländern häufig horrende Preise verlangt wurden. Mit ihrem miesen Gehalt konnte sie sich diesen Luxus kaum leisten.

Ihre bisher blendende Laune drohte gerade unter existenziellen Sorgen begraben zu werden, da wurde sie plötzlich heftig angeschubst, schwankte ein paar Schritte zur Seite und schlug in dem Versuch, wieder Halt zu finden, einem Unbekannten sein Bierglas aus der Hand. Die Flüssigkeit ergoss sich vor allem über ihren Pulli, was sie davor bewahrte, sich allzu schuldig zu fühlen. Sie würde wohl jemandem ein neues Bier spendieren müssen, aber wenigstens hatte sie niemandem die Kleidung schmutzig gemacht.

„Tut mir leid … äh … sorry …“, stammelte sie. Wie zum Teufel sagte man das eigentlich auf Tschechisch? Sie würde sich nach einem günstigen Sprachkurs umhören müssen, um für solche Situationen besser gewappnet zu sein.

„No problem. Shit happens“, erwiderte eine sanfte, warme Männerstimme. Es klang amerikanisch. Marina war erleichtert, mit dem Unbekannten kommunizieren zu können. Sie blickte auf, denn seine Art zu reden hatte ihr gefallen.

Der Mann, dessen Bier sie verschüttet hatte, war etwa einen Kopf größer als sie und hatte dunkle Locken, die auf seinem Kopf fast drahtig in die Höhe wuchsen. Sein Gesicht war schmal und machte einen klugen Eindruck. Am besten gefielen Marina die großen braunen Augen, bei deren Anblick sie an Samt denken musste. Sie vermutete, dass er südländische Vorfahren hatte.

Ihr Angebot, ihm ein neues Bier zu kaufen, lehnte er entschlossen ab, grinste schief und stupste sie kurz an.

„Have a good time. Take care.“

Dann war er wieder weg. Marina verspürte ein erstaunlich tiefes Gefühl von Enttäuschung. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergeeilt, um etwas mehr über ihn zu erfahren, aber sie hatte Angst, sich zum Narren zu machen. So machte sie sich stattdessen auf die Suche nach dem Tisch, wo ihre Kollegen versammelt waren. Jana unterhielt sich bereits mit einem großen Kerl mit schulterlangem Haar und Holzfällerhemd. Graham musste mit seiner anhänglichen Schülerin irgendwohin verschwunden sein. Zurück blieb Margaret, die Joss’ Gerede geduldig ertrug. Marina gesellte sich hilfsbereit hinzu. Ihr Drink, den sie nur zur Hälfte geleert hatte, stand immer noch da. Sie griff danach, sah sich kurz um und entdeckte auf einmal den dunklen Lockenkopf wieder. Er lehnte nur ein paar Meter entfernt an der Wand und redete angeregt mit einem etwas älteren, blonden Mann. Als er kurz zu Marina hinübersah, lächelte sie rasch, senkte dann den Blick. Die ganze Situation machte sie aus unerfindlichen Gründen nervös. Mit Klaus in einer festen Beziehung gewesen zu sein, hatte auch seine Vorteile gehabt.

„Der gefällt dir, nicht wahr?“

Janas Frage war wie ein Überfall gewesen. Marina war froh über die schlechte Beleuchtung, denn so konnte es niemand merken, wenn sie rot anlief.

„Ich … ich habe sein Bier verschüttet. Er wirkte nett.“

Jana lachte auf. „Auch eine Art, einen Mann kennenzulernen. Meine Schwester ist einem Kerl mit ihrem Fahrrad ins Auto gefahren. Frontalunfall. Jetzt sind sie verheiratet.“

„Dann hat es sich für sie ja gelohnt, sich das Fahrrad demolieren zu lassen“, erwiderte Marina grinsend. Janas unverkrampfte Art ließ alle Dinge machbar wirken.

„Vielleicht lohnt sich in deinem Fall ein zerbrochenes Bierglas“, gab die Tschechin sogleich zurück.

Marina seufzte. „Er schien nicht wirklich interessiert, länger mit mir zu reden. Er ist gleich wieder weggegangen.“

Jana zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist er schüchtern. Du meinst den großen, dünnen Kerl mit dem Lockenkopf, oder? Ich glaube, ich kenne seinen Freund, mit dem er gerade redet. Warte einen Moment!“

Bevor Marina etwas hatte sagen können, war Jana losgelaufen. Sie gesellte sich zu den zwei Amerikanern und fing mit dem kleineren, blonden eine Unterhaltung an. Die Art, wie sie völlig selbstverständlich Kontakte herstellen konnte, war fast schon bewundernswert. Gleich darauf winkte sie Marina zu sich.

„Das ist Adam“, stellte sie den Blonden vor. „Meine Cousine war mal mit jemandem liiert, der mit ihm in einer WG lebte. Dort habe ich ihn auf einer Party kennengelernt.“

Adam musste etwa in Margarets Alter sein, ein kleiner, freundlicher Herr mit Falten unter den Augen.

„Zach. My friend“, stellte er endlich den Mann vor, dessen Bier auf Marinas Pulli klebte.

Dieser erklärte mit einem spöttischen Funkeln in den Augen, dass sie sich bereits begegnet wären. „Sie hat mich ein Bier gekostet. Ich hole mir jetzt ein neues. Willst du auch eines?“

Die Frage war an Marina gerichtet gewesen und ihr Herz machte einen Sprung. Sie nickte, obwohl sie normalerweise nicht gern Bier trank. Ohne einen Moment zu zögern folgte sie Zach zur Bar.

„Eigentlich sollte ich ja zahlen.“

„Unsinn! Auch Amerikaner können Manieren haben, obwohl man es uns in Europa nicht zutraut.“ Wieder grinste er schief.

Marina fühlte sich aus irgendeinem Grund schuldig. Hatte sie nicht auch genug Freunde in Regensburg, die stets behaupteten, Amerika hätte keine Kultur?

„Ich bin nicht der Meinung, dass Männer Frauen stets einladen müssen“, beharrte sie.

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Eine Feministin also? Das sind die meisten jungen Amerikanerinnen auch. Aber sie lassen sich trotzdem gern einladen.“

Sie hatten nun die Bar erreicht und Zach drängte sich an den Tresen.

„Bier?“

„Ich mag lieber … einen Becherovka mit Tonic.“

Viel zu spät fiel ihr ein, dass dieser Drink womöglich teurer wäre. Zach überreichte ihr das Glas ohne jeden Protest und lotste sie in eine Ecke des Klubs, wo ein klein wenig Platz war und ein Gespräch ohne Brüllen stattfinden konnte.

„Gefällt dir die Musik hier?“

Marina war sich nicht sicher, ob Zach nur Konversation machte oder es wirklich wissen wollte. Auf jeden Fall musste sie nun antworten.

„Ja. Eigentlich schon. Trotz der Lautstärke. Das, was gerade läuft, ist doch Velvet Underground.“

Instinktiv spürte sie, dass er beeindruckt sein würde, wenn eine Frau sich mit alternativem Rock auskannte.

„Ja, klar. Lou Reed.“

Er kannte sich also aus. Sie hatte nichts anderes erwartet.

„Normalerweise höre ich gern klassische Musik“, redete er weiter.

Marina fühlte sich plötzlich dumm, denn davon hatte sie überhaupt keine Ahnung.

„Woher kommst du eigentlich?“, fragte sie, um unauffällig das Thema zu wechseln.

„Aus New York. Jedenfalls habe ich dort studiert. Meine Eltern leben in einer Kleinstadt, aber von dort wollte ich immer weg.“

Eine Weile später wusste Marina, dass Zach Philosophie studiert hatte. Das gefiel ihr, denn sie mochte Menschen mit brotlosen Passionen. Seine ältere Schwester war Physikerin und somit der Stolz der Familie, weil sie im Gegensatz zu ihm gute Aussichten auf eine Karriere hatte. Es erleichterte Marina zu hören, dass es in anderen Ländern auch nicht anders war als in Deutschland.

„Was hat dich nach Prag verschlagen?“, fragte sie, als ihr Glas bereits halb leer war. Eine Stimme in ihrem Kopf flehte darum, dass er nicht nur ein paar Tage Urlaub hier machte.

„Ich habe eine Arbeit in einer Werbeagentur gefunden. Da hätte ich daheim nur schwer den Fuß reingekriegt, mit meiner Ausbildung“, erwiderte Zach zu ihrer Erleichterung. „Meinen Eltern gefällt es leider gar nicht, dass ich hier bin.“

„Warum? Wegen dem schlechten Verdienst?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie machen sich Sorgen, wie es für Leute wie uns in Europa ist. Sie sind sehr ängstlich und neigen zur Hysterie.“

Marina begriff zunächst nicht, was er damit meinte. Dann fiel ihr ein, dass sein Nachnahme Cohen lautete. Jedenfalls hatte sie das verstanden. Ihr Verstand zählte ein paar Fakten zusammen.

„Du … du bist also …“

Ihre Zunge war plötzlich gelähmt. Sie hatte das Gefühl, über eine spiegelglatte Eisfläche zu laufen, die bei einem unbedachten Schritt unter ihr einbrechen konnte.

„Meine Eltern sind beide jüdisch. Ich bin Atheist“, erwiderte er völlig gelassen.

Marina spürte, wie Schweiß über ihren Rücken perlte. War allein der Geschichtsunterricht auf ihrem Gymnasium schuld an dieser Aufregung? Plötzlich fürchtete sie, mit jedem Wort, das sie äußerte, einen möglichen Fehler zu begehen.

„Ich bin … also ich komme aus Regensburg.“

„Du bist Deutsche. Das habe ich bereits an deinem Akzent gehört.“

Er schien sich nicht daran zu stören, wirkte eher amüsiert über ihre Verlegenheit. Marina nahm noch einen tiefen Schluck von ihrem Schnapsgemisch.

„Am Sonntag gehe ich mit meinen Freunden die Prager Burg besichtigen. Willst du mitkommen? Ich meine, also wenn du noch nicht dort warst … Es soll sich wirklich lohnen.“

Sie hatte zunehmend den Eindruck, Unsinn zu reden. Wer käme schon auf die Idee, dass sich ein Besuch der Prager Burg nicht lohnte? Falls Zach länger hier lebte, war er sicher schon dort gewesen. Und außerdem erwies sie sich im Moment gerade als unerhört aufdringlich. Männer waren im Grunde ihres Herzens meist erzkonservativ, hatte Ulrike immer erzählt. Das Patriarchat hatte ihnen zu viele Vorteile gegönnt, auf die sie nicht einfach verzichten wollten. Folglich kamen Frauen, die ihnen zu offen Avancen machten, gar nicht gut an, weil sie sich nicht an die üblichen Spielregeln hielten.

„Klar. Ich komme mit“, stimmte Zach sogleich zu.

Marina fiel fast ihr Glas aus der Hand. Zach lächelte sie an und sie hatte das Gefühl, er sei überaus erfreut über diese Einladung. Stimmte am Ende gar Janas Version von dem schüchternen jungen Mann, der erleichtert war, einmal nicht den ersten Schritt machen zu müssen?

„Okay. Wir sehen uns am Sonntag.“

Marina hob ihren Drink, um mit ihm anzustoßen. Sie hatte auf einmal den Wunsch, seine Augen zu berühren, die so dunkel und warm waren. Ihr war nie bewusst gewesen, dass eine kurze Begegnung mit einem Mann so aufwühlend sein konnte. Es war, als hätte sie einen Ort erreicht, nach dem sie immer gesucht hatte, ohne es zu wissen.

„Sollen wir tanzen?“, schlug Zach vor. Sie nickte. Auf einmal wünschte sie sich, es wäre einer der lateinamerikanischen Tänze, bei denen man sich gegenseitig umarmte. Stattdessen sprangen sie zu wilden rockigen Rhythmen herum. Aber das machte nichts, denn Marina fühlte sich leicht und frei und glücklich. Fast, als ginge in diesem Moment ein neues Leben los.

Als sie in den frühen Morgenstunden in einer schmutzigen Nachttrambahn heimwärts fuhr, schien Prag bereits ihr neues Zuhause zu sein.

Das Mädchen aus Prag

Подняться наверх