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3. Kapitel Regensburg, 1997

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„Und wie viel wirst du dort verdienen?“

Marina ließ den Löffel sinken. Bisher hatte ihr Vater recht gelassen reagiert. In seiner Firma galt es als Plus, ein paar Auslandsaufenthalte vorweisen zu können, und die Bereitschaft seiner Tochter zu einem solchen Abenteuer gefiel ihm. Er hatte stets befürchtet, sie könnte sich zu einem so weltfremden Wesen entwickeln, wie es ihre Mutter gewesen war. Doch vor dieser Frage hatte sie von Anfang an Angst gehabt.

„Also, umgerechnet wären es etwa vierhundert Mark im Monat“, sagte sie kleinlaut.

„Ist das ein Witz?“

„Nein, ich fürchte, es ist eher ein tschechisches Durchschnittsgehalt“, antwortete sie und drehte ein paar Spaghetti auf ihrer Gabel. Bei ihrem Vater gab es sie mit echter Tomatensoße und Parmesan, was der italienischstämmigen Haushälterin zu verdanken war.

„Wahrscheinlich sind die Lebenshaltungskosten dort auch viel geringer als in Deutschland“, fügte sie dann hoffnungsvoll hinzu.

„Und was machst du, wenn es nicht so ist? Von dem Geld kannst du doch unmöglich leben!“

Sie holte Luft, denn eigentlich hatte sie bereits geahnt, dass er sich an diesem Problem festbeißen würde. Mit so viel Überzeugung wie möglich gab sie das Ergebnis längerer Überlegungen zum Besten:

„Also irgendwie muss man davon leben können, denn ich bin sicher nicht die einzige Sprachenlehrerin in Prag. Ich werde mir bei Kollegen Rat holen, vielleicht kann ich noch irgendeine andere Arbeit machen. Ich sehe diese Stelle als einen Anfang, nicht als etwas Endgültiges.“

Ihr Vater schenkte ihr ein Glas Rotwein ein. Er schmeckte viel würziger als bei Ulrike, hatte sicher auch wesentlich mehr gekostet. Aber Ulrike hatte ihren Entschluss, in die östliche Fremde aufzubrechen, als mutig und richtig begrüßt, ohne irgendwelche Bedenken zu äußern. Daher war der letzte Abend bei ihr viel entspannter verlaufen.

„Und was soll nach dem Anfang kommen? Hast du auch etwas längerfristige Pläne?“

Ihr Vater sprach gelassen, denn er verlor selten seine Ruhe. Sein eindringlicher Blick machte das Gespräch dennoch sehr anstrengend.

„Ich komme mit Berufserfahrung zurück“, erwiderte sie triumphierend, denn auch diese Antwort hatte sie sich vorher zurechtgelegt. „Man kann mich nicht schon beim ersten Telefonat abwimmeln, wenn ich mich irgendwo bewerbe. Außerdem lerne ich sicher etwas Tschechisch.“

„Na ja, Osteuropa ist in der Tat ein neuer Markt“, gab ihr Vater nach kurzem Überlegen zu. „Aber du könntest auch hier einfach Kurse besuchen. Wenn du wirklich Schwierigkeiten hast, eine Arbeit zu finden, so könnte ich mich in meiner Firma umhören.“

„Danke“, sagte Marina und meinte es diesmal völlig ehrlich. „Aber ich habe Germanistik studiert. Ich denke, da passe ich in kein Wirtschaftsunternehmen. Jedenfalls reizt mich das nicht.“

Er nahm ihre Dickköpfigkeit viel gelassener hin als Klaus und ersparte ihr alle Vorträge über Einsicht in Notwendigkeiten.

„Ein Kollege von mir ist mit einer Tschechin verheiratet“, sagte er nur. „Sie hat Familie in Prag, soviel ich weiß. Ich werde ihn wegen einer günstigen Unterkunft für dich fragen.“

Marina bedankte sich ein weiteres Mal. Ihrem Vater die bevorstehende Abreise mitzuteilen, war erstaunlich einfach gewesen, aber sie hatte auch keine echte Angst vor einer aufgebrachten Reaktion gehabt. Die Liebe ihres Vaters war nie besitzergreifend gewesen und sie wussten beide, dass auch eine längere Trennung sie einander nicht entfremden würde. Es war das Gespräch mit Klaus, vor dem es ihr am meisten graute und das sie schon seit Tagen vor sich herschob.

„Hast du eigentlich schon Oma Inge von deinen Plänen erzählt?“, fragte ihr Vater nun und lud sich nochmals Nudeln auf.

„Nein. Ich sehe sie nächstes Wochenende. Ich glaube, ich werde es ihr schon irgendwie erklären können.“

Oma Inge war die Mutter ihrer Mutter, eine sehr bodenständige, pragmatische Frau.

„Ich hoffe es“, sagte der Vater und rieb sich die Nase. „Sie ist nämlich in Tschechien aufgewachsen, wurde aber von dort als junge Frau verjagt. Nach dem Krieg.“

Marina riss die Augen auf.

„Das hat sie mir nie erzählt.“

„Sie redet nicht gern davon. Ich erfuhr es nur von deiner Mutter, die auch nicht viel darüber wusste. Oma Inge war Sudetendeutsche. Sie wurde in Brünn geboren und hat dort geheiratet. Im Krieg hat sie ihren Mann verloren.“

Marina ließ ihren Blick zu dem Foto auf der Kommode neben dem Esstisch wandern, das ihre Mutter zeigte, als sie etwa in ihrem Alter gewesen war. Auf dem Bild trug sie ein wallendes, mittelalterlich anmutendes Kleid, zahlreiche Silberketten und einen breitkrempigen Hut. Dunkle Locken umspielten ihr elfenhaftes Gesicht, und Marina fragte sich wieder einmal, wie eine derart bildschöne Frau ein recht unauffälliges Wesen wie sie selbst hatte auf die Welt bringen können. Trotz der Vorliebe für Hippiekleidung war ihre Mutter nie eine politische Rebellin gewesen, die sich an Demonstrationen beteiligte. Stattdessen hatte sie sich den spirituellen Gruppen angeschlossen, die in den Siebzigerjahren so beliebt gewesen waren, Göttinnenkulte zelebriert und Texte indischer Gurus gelesen. Marina konnte sich an die spärlichen, aber sehr emotionalen Aussagen ihrer Mutter über diese Zeit erinnern, an die Enttäuschung einer Frau, die mehr gesucht hatte, als sie finden konnte. Hauptsächlich hatte sie mit Scharlatanen und Wichtigtuern zu tun gehabt, die sie nur beeindrucken wollten, weil sie ihnen unwiderstehlich schien. Schließlich war ihr Vater gekommen, ein völlig normaler, nüchterner Betriebswirt, der das ziellos durchs Leben treibende, wunderschöne Blumenkind auffing. Aber trotz ihres Übertritts in eine sichere, bürgerliche Existenz war ihre Mutter stets sehr eigen geblieben, verträumt und in sich gekehrt.

„Ich kann die Aura von Menschen spüren“, hatte sie Marina einmal anvertraut. „Manchmal sehe ich sie sogar als eine farbige Wolke, die Leute umgibt.“

Marina hatte sie als zarten Schmetterling in Erinnerung, der nur manchmal versehentlich den Boden der Wirklichkeit berührte und irgendwann einfach verschwunden war. Krebs war ein zu hässliches Wort, um es in Zusammenhang mit einem derart zauberhaften Wesen zu bringen.

„Deine Mutter wuchs allein mit deiner Oma in Regensburg auf“, stellte ihr Vater fest. „Sie konnte sich überhaupt nicht an Brünn und an ihre Familie dort erinnern. Sie wusste nur, wie sehr deine Oma unter dem Verlust litt, und hatte stets das Gefühl, kein angemessener Ersatz zu sein.“

„Aber sie musste doch niemanden ersetzen!“

Im Grunde wusste Marina, weshalb ihre Mutter so empfunden hatte. Sie war zu anders gewesen, kein Mensch, in dem die bodenständige, stets zupackende Inge sich spiegeln konnte. Vielleicht hatte der unbekannte, früh verstorbene Großvater ihr das träumerische Naturell vererbt.

„Diese Dinge sind doch schon so lange her!“, sagte sie schließlich. „Es geht jetzt um mich und meine Zukunft. Ich habe gute Gründe, warum ich nach Prag gehen will. Das wird Oma Inge sicher verstehen.“

Sie wusste, dass sie der alten Frau immer nähergestanden hatte als ihre Mutter, da sie praktischer veranlagt und weniger verschlossen war. Oma Inge würde ihren Entschluss gutheißen, daran hegte sie keinerlei Zweifel.

„Auf dein bevorstehendes Abenteuer!“, meinte der Vater und hob sein Weinglas, um mit ihr anzustoßen.

Zwei Tage später stand Marina mit einer Pralinenschachtel vor dem Haus von Oma Inge. Der Besuch als solcher war nicht ungewöhnlich, denn sie war während ihrer Studienzeit regelmäßig in dem kleinen Reihenhaus erschienen. Oma Inge versorgte sie mit selbst gebackenen Kuchen, in Alufolie gewickelten Schnitzeln und bis zum Rand gefüllter Tupperware, als fürchte sie, eine Enkelin ohne geregeltes Einkommen könnte andernfalls den Hungertod sterben. Marinas Besuche waren also nicht ganz selbstlos gewesen, aber sie freute sich auch immer, die alte Frau wiederzusehen. Selbst vor dem Tod ihrer Mutter hatte sie die Oma als stärkere Präsenz in ihrem Leben erfahren.

Doch nun zog ein unbestimmtes Gefühl der Nervosität ihren Magen zusammen. Auf einmal fühlte sie sich unwohl in diesem adretten Kleid, das auch Klaus gefiel. Unter normalen Umständen hätte sie sich nicht derart herausgeputzt, aber sie wollte Oma Inge in gute Stimmung versetzen, bevor sie ihr die Neuigkeit eröffnete. Als die Tür sich öffnete und sie das freudige Strahlen auf dem Gesicht ihrer Großmutter erblickte, begriff sie, dass dieser Plan aufgegangen war.

„Du siehst richtig hübsch aus heute!“

Marina ließ sich herzlich umarmen, dann drückte sie Oma Inge die Pralinenschachtel in die Hand. Sie war ein Sonderangebot im Supermarkt gewesen, denn Marina musste weiterhin sparen, und sollte eine eher symbolische Geste darstellen, denn wer so viel buk wie ihre Großmutter, brauchte keine gekauften Süßigkeiten.

„Schön, dass du an mich gedacht hast“, meinte Oma Inge auch schon und schob ihr Geschenk in ein Regal, wo es vermutlich mit der Zeit verstauben würde. Aber ihre Augen leuchteten immer noch freudig, als sie Marina musterten.

„Setz dich schon mal ins Wohnzimmer. Ich koche uns Kaffee.“

Marina tat wie ihr geheißen. Die rosa bezogenen Plüschsessel weckten Kindheitserinnerungen an mit bunten Engeln geschmückte Weihnachtsbäume und den Duft von frischen Lebkuchen. Familienfeste waren immer bei Oma Inge abgehalten worden, als hätte diese ein besonderes Recht darauf, da das Schicksal ihr nicht mehr gegönnt hatte als eine Tochter und eine Enkelin. Nur wusste Marina jetzt, dass früher einmal auch andere Menschen im Leben dieser Frau wichtig gewesen waren.

Ihre Großmutter erschien mit einem Tablett in der Hand, auf dem sie einen mit Schokolade überbackenen Marmorkuchen balancierte. Marina lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Höflich bot sie sich an, das Besteck aus der Küche zu holen. Ihre Großmutter legte indessen eine LP auf den altmodischen Plattenspieler. Marina musste ungewollt lächeln. Sie selbst hatte Leute mit CD-Player noch vor wenigen Jahren als Aufschneider bezeichnet. Inzwischen besaß sie natürlich selbst einen. Ob sie sich irgendwann auch ein Handy zulegen würde, so wie Klaus?

„Wie geht es dir denn, jetzt, da du endlich mit der Schule fertig bist?“, fragte Oma Inge, als sie einander gegenübersaßen und Mireille Matthieu im Hintergrund vom süßen Leben in Frankreich erzählte.

Marina verzichtete auf den Hinweis, dass sie diese Schule bereits vor längerer Zeit abgeschlossen hatte.

„Ich habe eine Arbeit gefunden“, verkündete sie stolz.

Das Gesicht ihrer Oma erhellte sich. „Das ist schön. Es hat ja auch recht lange gedauert. Arbeitest du jetzt in einem Verlag, wie du es immer wolltest?“

Das unbeirrte Lächeln machte Marina klar, dass Oma Inge ihr die lange Zeit der Arbeitssuche nicht zum Vorwurf machte.

„Nein. Ich werde Deutsch unterrichten.“

Sie hoffte, dass ihre Großmutter nicht gleich genauer nachfragen würde, denn aus ihr selbst nicht ganz klaren Gründen wäre ihr unwohl dabei gewesen, die ganze Wahrheit erzählen zu müssen.

„Lehrerin ist ein schöner Beruf, außerdem sicher und gut bezahlt“, schwärmte die alte Frau stattdessen. „Damals, als deine Mutter in deinem Alter war, wie sehr habe ich mir da gewünscht, dass sie ebenso vernünftig wäre.“

Sie seufzte leise. Marina machte sich auf einen Vortrag über das verantwortungslose Leben ihrer Mutter gefasst, die zum Kunststudium nach München aufgebrochen war, nur um sich dort in irgendwelchen Kommunen herumzutreiben, anstatt einen Abschluss zu machen. Seit diese Tochter ohne klares Ziel im Leben unerwartet jung verstorben war, hatten die Vorwürfe nachgelassen. Aber nun bot sich das Thema geradezu an.

„Es war eine andere Zeit als heute“, versuchte sie ihrer Großmutter zu erklären. „Die jungen Leute damals glaubten, dass ihnen die Welt offensteht, und hatten andere Sorgen, als ihre Zukunft abzusichern.“

Sie verspürte einen Stich von Neid. Die Konsequenz, mit der ihre Mutter sich trotz ihres zurückhaltenden Naturells über die Regeln von Vernunft und Vorsicht hinweggesetzt hatte, konnte auch als bewundernswerter Freiheitsdrang interpretiert werden. Nun war sie erstmals im Begriff, einen Schritt in ihre Fußstapfen zu tun, was Oma Inge wohl nicht gefallen würde.

„Na ja, ich habe sie damals einfach nicht verstanden und tue es auch heute nicht wirklich“, erwiderte ihre Großmutter auch schon. „Ich denke, ich bin einfach eine andere Generation.“

Eine weitverbreitete Erklärung für merkwürdige Verhaltensweisen der eigenen Kinder oder auch Eltern, befand Marina. Aber lag es wirklich allein daran, dass Menschen zwanzig oder dreißig Jahre später völlig anders dachten? Sie kannte Mädchen ihrer Generation, die nicht weniger versponnen wirkten als ihre Mutter. War das zu Zeiten von Oma Inge wirklich anders gewesen?

„Auf jeden Fall wirst du jetzt endlich dein eigenes Geld verdienen“, redete ihre Großmutter weiter. „Das wird deinen Klaus sicher auch freuen, denn ich glaube, er hat große Pläne für euch zwei.“ Ihr Lächeln wurde breiter.

Marina drückte sich in den rosa Plüsch des Sofas. Ihr letztes Gespräch mit Klaus war alles andere als angenehm verlaufen. Wie sehr Oma Inge den aufstrebenden Ingenieur ins Herz geschlossen hatte, hatte sie auf dem Weg zu ihr erfolgreich verdrängt.

„Ja, Klaus war natürlich froh, dass ich endlich irgendwo untergekommen bin“, beschönigte sie sogleich die Tatsachen, denn noch war nicht der richtige Moment gekommen, um ihrer Großmutter reinen Wein einzuschenken. „Aber sag mal, Papa hat kürzlich irgendetwas erzählt … hast du nicht in deiner Jugend in Tschechien gelebt?“

Nun war es heraus. Ein direkter Angriff, um von einem heiklen Thema abzulenken. Sie beugte leicht verlegen den Kopf, sah ihre Großmutter aber unter halb geschlossenen Lidern eindringlich an. Warum war ihr all das immer verschwiegen worden?

„Ja, das habe ich.“

Die Antwort war sehr schnell gekommen. Oma Inge verkrampfte ihre faltigen Finger so kräftig ineinander, dass die Adern blau hervortraten.

„Warum hast du mir nie davon erzählt?“, bohrte Marina weiter nach.

„Es ist doch schon so lange her. Es schien mir nicht wichtig.“

„Aber meine Mutter, die wurde dort geboren, oder? Darüber hast du nie gesprochen. Ich finde das merkwürdig.“

Oma Inge stellte die Kaffeetasse mit einem Klirren auf den Tisch zurück. „Es war eine andere Zeit damals nach dem Krieg“, wiederholte sie Marinas Worte. „Wer wirklich wo geboren war, das hielt man nicht für wichtig. Deine Mutter hat sich auch nie dafür interessiert.“

„Aber mich interessiert es jetzt. Erfuhr meine Mutter überhaupt jemals etwas von ihrem wirklichen Geburtsort? Sie muss ja noch sehr klein gewesen sein, als sie von dort weggebracht wurde.“

„Nein. Und es wäre ihr auch egal gewesen. Deine Mutter galt als zartes, empfindsames Wesen, aber in Wahrheit, da dachte sie ihr Leben lang nur an sich selbst!“

Marina zuckte zusammen, denn trotz all der ihr bekannten Vorwürfe hatte sie Oma Inge noch niemals so vernichtend über ihre Mutter sprechen hören. Gleichzeitig erkannte sie die Wahrheit dieser Aussage, als sei ein Schleier vor ihren Augen weggerissen worden. Die schöne Elfe auf dem Foto im Haus ihres Vaters war immer zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um für einen anderen Menschen da sein zu können. Zwar spürte sie das Fehlen ihrer Mutter weiterhin jeden Tag wie ein klaffendes Loch in ihrer Welt, doch war ihr in den letzten Jahren auch zunehmend klargeworden, wie wenig sie eigentlich von dieser Frau wusste, die so früh aus ihrem Leben verschwunden war. Lag es daran, dass sie in Wahrheit einen Menschen verloren hatte, der nie wirklich da gewesen war?

„Trotzdem verstehe ich nicht, warum all diese Dinge so lange verschwiegen wurden“, drängte Marina ihre Großmutter weiter. „Ich finde es spannend. Wo hast du denn dort gewohnt? Und wie alt warst du, als ihr fortgegangen seid?“

Als sie sah, wie das fröhliche Lächeln endgültig vom Gesicht ihrer Großmutter rutschte, wurde ihr klar, dass sie zu schnell vorgeprescht war. Oma Inges Falten schienen plötzlich tiefer geworden zu sein.

„Ich war Sudetendeutsche. Meine Familie lebte seit Generationen in einem kleinen Dorf nahe der Grenze. Später kauften sie ein Haus in Brünn, wo mein Vater einen Laden aufmachte. Dort lernte ich deinen Großvater kennen. Dann kam der Krieg. Ich verlor meinen Mann. Schließlich musste ich um mein Leben rennen, weil meine einstigen Nachbarn plötzlich zu Todfeinden geworden waren.“

Ihre Stimme war sehr leise gewesen, doch hatte jedes Wort sich deutlich in Marinas Bewusstsein gebohrt. Anstatt ein paar nette Familiengeschichten zu erfahren, hatte sie ohne jede Vorsicht die Tür zu einem finsteren Keller aufgerissen. Sie stand auf und eilte auf ihre Großmutter zu, um sie in die Arme zu schließen.

„Du hast doch nicht alles verloren“, versuchte sie die alte Frau aufzumuntern. „Meine Mutter, die hast du damals mitnehmen können. Und jetzt hast du mich.“

„Ja. Ja. Das stimmt natürlich.“

Oma Inge schob sie sanft von sich und lächelte wieder. Marina erinnerte sich, wie sehr ihre Großmutter Gefühlsausbrüche hasste.

„Es ist ja auch schon alles so lange her“, sagte die alte Frau und rückte ihre Gesichtszüge endgültig wieder zurecht. Marina verstand die unausgesprochene Aufforderung, sich wieder auf ihren Platz zu setzen. Sie atmete dreimal tief ein und aus. Es musste heraus, besser jetzt als später.

„Die Arbeitsstelle, die ich gefunden habe, ist in Prag. Ist das nicht ein verrückter Zufall?“

Sie konnte selbst hören, wie gekünstelt ihr fröhlicher Tonfall war. Oma Inge starrte lange stumm auf ihr Gesicht, als hoffe sie inständig, die Aussage ihrer Enkelin könne bald schon als dummer Scherz enttarnt werden. Als dies nicht geschah, räusperte sie sich.

„Ich verstehe nicht ganz … das ist doch ein kommunistisches Land. Wenn du dort einmal drin bist, kommst du nie wieder raus.“

Diese Aussage war so rührend lächerlich, dass Marina sich entspannte. Sie unterdrückte ein Grinsen.

„Oma, das ist schon seit neun Jahren anders. Inzwischen ist Tschechien eine Demokratie mit einem Dichter als Präsidenten. Man kann aus- und einreisen, wie man möchte.“

„Neun Jahre“, murmelte die alte Frau so leise, als würde sie mit sich selbst sprechen. „Das ist nicht lang genug, damit sich wirklich etwas ändert. Wer einmal Macht hat, gibt sie nicht so einfach wieder her.“

„Natürlich nicht. Aber sie kann ihm trotzdem weggenommen werden, weil er sie missbraucht hat“, erklärte Marina. Sie hatte nie darauf geachtet, ob ihre Großmutter Zeitungen las. Offenbar tat sie es sehr selten, was ihre verschrobenen politischen Ansichten erklärte.

„Du brauchst dir um mich jedenfalls keine Sorgen zu machen“, sagte sie fröhlich. „Ich fahre erst einmal nur für ein Jahr hin und dann komme ich garantiert wieder, kein Grund für falsche Hoffnungen. Und an Weihnachten bin ich natürlich auch hier, da bekomme ich nämlich frei.“

Sie lächelte so strahlend, wie nur konnte, aber das Gesicht ihrer Großmutter blieb abweisend. Sie schien völlig in sich selbst versunken, verstört wie ein Mensch, der eine schockierende Neuigkeit erfahren hatte. Marina suchte ratlos nach einem Grund. Vermutlich lag es daran, dass sie nicht mehr regelmäßig würde zu Besuch kommen können, um durchgefüttert zu werden.

„Es tut mir sehr leid, aber ich muss mein eigenes Leben führen“, versuchte sie sich kleinlaut zu entschuldigen. „Ich werde dir schreiben. Und dich regelmäßig anrufen. Ein Jahr geht schneller vorbei, als man glaubt.“

Die alte Frau nickte mehrfach, aber ihr Gesicht erhellte sich nicht.

„Schon gut. Ich habe Verständnis. Du musst tun, was du für richtig hältst.“

Es klang wie eine Kapitulation. Marina verspürte Ärger angesichts all der Schuldgefühle, die ihr aufgebürdet wurden.

„Geh jetzt erst einmal. Ich muss ein bisschen nachdenken“, fügte ihre Großmutter hinzu.

Nun schien es Marina, als würde sie hinausgeworfen. Sie staunte, wie weh diese Erfahrung tat.

„Na gut. Ich melde mich wieder“, sagte sie um Gelassenheit bemüht und stand auf.

Oma Inge lächelte. „Mach dir um mich keine Gedanken. Aber was ist mit deinem Klaus? Er ist so ein netter junger Mann!“

Auf einmal war Marina froh, aufbrechen zu können. Ihre Großmutter hatte recht. Sie war die verantwortungslose, böse Enkelin, die am Traumschwiegersohn vorbeiging. Aber sie konnte nicht anders. Etwas passte nicht zwischen ihr und Klaus, das hatte sie von Anfang an gespürt.

„Ich werde bald mit ihm reden“, versprach sie, bevor sie sich verabschiedete. Sie erwähnte nicht, wie unangenehm ihr die Aussicht auf dieses Gespräch war.

Sie hatte bereits den tschechischen Arbeitsvertrag unterschrieben zurückgeschickt und sich nach günstigen Reisemöglichkeiten erkundigt, als ihr immer klarer wurde, dass sie das Gespräch mit Klaus nicht weiter hinausschieben konnte. Es war, als führe sie eine Art Doppelleben oder hätte eine Affäre, die sie vor ihm verheimlichte. Sie ahnte, dass es unangenehm werden würde. Daher schlug sie ihm einen gemeinsamen Abend in seiner Lieblingsbar vor. Ihre Beziehung war die letzten Wochen recht distanziert gewesen, denn er arbeitete bis zum späten Abend und übernachtete dann in seiner eigenen Wohnung. Marina verbrachte die meiste Zeit mit Freundinnen, die ihren geplanten Aufbruch nach Prag auf sehr unterschiedliche Weise aufnahmen. Ulrike fand es gut, weil sie alles gut fand, das ungewöhnlich und wagemutig war. Andere mokierten sich über das lächerlich geringe Gehalt und fragten, wie sie davon überhaupt eine Wohnung finanzieren wollte. Das hatte allerdings Marinas Vater bereits organisiert. Die Verwandten der Ehefrau seines Arbeitskollegen würden Marina zunächst ein Zimmer vermieten, und er bot sich an, die Miete zu bezahlen. Es war Marina zwar unangenehm, aber sie nahm sein Angebot erleichtert an. Allmählich begann die Aussicht auf eine Arbeit in einem fremden Land ihr weniger Angst einzuflößen und sie empfand vor allem Neugier auf das, was sie dort erwarten würde.

So gelang es ihr auch, Klaus ihren Plan mit schlichten, klaren Worten mitzuteilen. Sie wusste, dass es nicht richtig war, ihn einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen. Erst in diesem Augenblick aber begriff sie, dass es nur dazu hatte kommen können, weil mit ihrer ganzen Beziehung etwas nicht mehr stimmte. Der Gedanke war in gewisser Hinsicht erleichternd. Sie fand den Mut, Klaus gefasst ins Gesicht zu sehen.

„Weggehen? Ins Ausland?“

Er stellte sein Bierglas auf den kleinen runden Tisch und starrte sie ungläubig an.

„Warum denn?“, fragte er schließlich.

Sie musste zugeben, dass die Frage berechtigt war. Wenn man die Welt so pragmatisch betrachtete wie Klaus, bedurfte jedes Abweichen vom vorgegebenen Pfad einer Erklärung.

Sie gab ihre üblichen Erklärungen von sich. Berufserfahrung. Erweiterung ihrer Sprachkenntnisse. Sie ahnte, dass sich mehr dahinter verbarg, doch konnte sie diese vage Ahnung nicht einmal in klare Gedanken, geschweige denn in Worte fassen.

„Wer in aller Welt möchte denn ausgerechnet Tschechisch lernen? Tschechien ist doch ein winziges, unbedeutendes Land!“, sagte Klaus.

Mit seinem bereits schütteren, hellblonden Haar und der runden Brille sah er plötzlich sehr langweilig aus.

„Es hat eine bedeutende Geschichte und gehört zu Mitteleuropa!“ Sie wusste, dass sie sich wie eine Schullehrerin anhörte, die empört war, weil ein frecher Schüler den Wert ihres Faches infrage stellte.

„Das mag ja sein, aber wen interessiert das heute?“, meinte Klaus auch schon.

„Mich. Mich interessieren Prag und Tschechien und ganz Osteuropa. Diese Länder liegen gleich neben Deutschland, aber mir kommen sie so fremd vor wie ein anderer Kontinent. Ich war in Rom, London und Paris, aber noch niemals im Osten.“

Klaus seufzte. „Dann könnten wir hinfahren. Für einen kurzen Urlaub in einem schönen Hotel. Es besteht kein Anlass, dort für einen Hungerlohn zu arbeiten.“

Marina gab es endgültig auf, ihm ihre Entscheidung verständlich machen zu wollen.

„Ich habe eben beschlossen, dort ein Jahr lang zu arbeiten. Das ist jetzt einfach so“, sagte sie.

Ein weiterer, noch tieferer Seufzer folgte. Klaus schüttelte den Kopf. „Manchmal benimmst du dich wie ein Kind. Ist es so schwer, erwachsen zu werden?“

„Und du redest jetzt wie ein selbstgerechter Vater“, gab Marina wütend zurück.

Sie war erleichtert, als Klaus nicht auf ihre Provokation einging, sondern ihre Hand ergriff.

„Ich verstehe einfach nicht, was du dort willst. Die Lebensbedingungen sind schlechter, die Bezahlung ist unterirdisch, das ganze Land ist wahrscheinlich hoffnungslos rückständig nach fünfzig Jahren Kommunismus.“

Der sanfte, aber auch herablassende Tonfall ließ Marina wieder wütend auffahren.

„Ach ja, und woher weißt du das so genau? Du fährst doch bestenfalls mal zum Gardasee, wo es mehr Deutsche gibt als Italiener.“

Die Kellnerin kam, um wegen des Schichtwechsels zu kassieren. Marina hatte den Eindruck, dass die kleine, südländisch aussehende Frau ihr merkwürdige Blicke zuwarf. Wahrscheinlich hatte sie unnötig laut gesprochen.

„Wenn du einen Abenteuerurlaub willst, dann flieg doch mal nach Thailand mit deiner Ulrike“, schlug Klaus weiterhin völlig ruhig vor. „Dort ist es wenigstens wirklich exotisch. Osteuropa stelle ich mir einfach nur schäbig und grau vor.“

Im Grunde hatte Marina ähnliche Befürchtungen. Aber ihre Entscheidung war gefallen.

„Ich glaube einfach, dass es im Moment das Beste für mich ist. Ich möchte nicht gleich irgendwo als Sekretärin arbeiten. Später vielleicht einmal. Aber im Moment will ich etwas Ungewöhnliches tun und meinen eigenen Interessen folgen.“

Sie nahm einen letzten Schluck Wein. Klaus sah müde aus.

„Ich habe nicht rechtzeitig gemerkt, wie ähnlich du deiner Mutter eigentlich bist“, sagte er nur. „Ständig auf dem Selbstfindungstrip. Ich weiß nicht, ob ich warten kann, bis du endlich zur Vernunft gekommen bist.“

Es fühlte sich an wie ein Tritt in den Magen. Sie hatte gewusst, dass ihre Beziehung nicht zum Besten stand. Aber mit einem so plötzlichen Ende hatte sie nicht gerechnet.

„Es tut mir leid“, erwiderte sie leise. „Wir könnten uns regelmäßig sehen, wenn du möchtest. So weit weg ist Prag doch nicht.“

Er schwieg eine Weile, räusperte sich und warf einen ärgerlichen Blick auf den Nebentisch, weil sich dort jemand eine Zigarette angezündet hatte.

„Ein Jahr ist eine lange Zeit“, sagte er schließlich. „Ich habe gehofft, dass du bald eine vernünftige Arbeit findest und auch etwas verdienst. Dann hätten wir zusammenziehen können. Wir sind beide Mitte zwanzig, keine Teenager mehr. Ich denke, in unserem Alter sollte man langsam seine Zukunft planen.“

Marina lehnte sich zurück. Sie spürte plötzlich mit aller Klarheit, dass ihrer beider Ziele nicht vereinbar waren. Jedenfalls nicht im Augenblick.

„Ich finde, fünfundzwanzig ist noch nicht so furchtbar alt. Ich brauche noch etwas Zeit, um herauszufinden, was ich wirklich will.“

Eine Weile blieb es still. Vom Nebentisch wehte weiter Zigarettenrauch in ihre Richtung, doch diesmal schien Klaus es nicht wahrzunehmen. Er hatte die Stirn gerunzelt.

„Ich weiß nicht, ob ich dir wirklich versprechen kann, auf deine Rückkehr zu warten“, sagte er schließlich.

Marina schluckte, verspürte aber nicht so viel Schmerz wie erwartet. Ihre Beziehung schien wie ein fade schmeckendes Gericht, für das man die noch vom Vortag übrigen Reste zusammengewürfelt hatte. Aber manchmal waren solche Speisen nahrhafter als ein Essen im teuren Restaurant.

„Ich verstehe dich“, teilte sie Klaus mit. „Aber ich hoffe, dass ich dich nicht verliere. Wenn ich aus Prag zurückkomme, können wir noch mal über unsere Beziehung reden.“

Er nickte, warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich muss jetzt los. Morgen habe ich einen wichtigen Termin.“

Marina nahm es hin. Es war nicht, wie es sein sollte. Aber als sie Klaus zum Abschied umarmte, wünschte sie sich, er wäre nach ihrer Rückkehr noch für sie da. Er versprach keinerlei Aufregung, kein Abenteuer, dafür Sicherheit. Oft konnte dies das Wichtigste im Leben sein.

Sobald er sie vor ihrer Haustür abgeliefert und mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet hatte, schossen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Sie überlegte kurz, ihn in ihre Wohnung einzuladen. Zu Beginn ihrer Beziehung waren sie beide im Prüfungsstress gewesen, aber das hatte sie nicht daran gehindert, jede Nacht miteinander zu verbringen. Irgendwann hatte der Hunger nach Sex nachgelassen und war allmählich zu jenem gemäßigten Appetit geworden, mit dem man bei Familienfeiern die Erwartungen der Verwandtschaft erfüllte. In letzter Zeit waren sie auf Diät gewesen, ohne darunter zu leiden. Doch nun fürchtete sie sich plötzlich vor Einsamkeit, Hunger und Kälte.

Sie fiel Klaus um den Hals und drückte ihn an sich. Er streichelte ihren Rücken, zunächst verlegen, dann immer liebevoller.

„Ich wünsche dir Glück, Marina“, sagte er schließlich. Sie begriff, dass es an der Zeit war, aus dem Auto zu steigen.

Sie sah den Scheinwerfern hinterher, die an der nächsten Straßenkreuzung ihrem Blickfeld entschwanden. Klaus hatte kein weiteres Treffen vor ihrer Abreise vorgeschlagen.

Trauer schnürte ihr die Kehle zu und ließ sie weinen, während sie im Aufzug zu ihrer kleinen Wohnung hochfuhr. Sie wusch sich das Make-up vom Gesicht und zog ihr Kleid aus. Obwohl sie sich immer noch verloren fühlte, fiel sie recht bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Das Mädchen aus Prag

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