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1. Kapitel Regensburg, 1997
Оглавление„Sekretärin für juristischen Fachbuchverlag gesucht, Abitur Bedingung, gute Englischkenntnisse erwünscht.“
Marina warf die Zeitung auf ihren Schreibtisch und rieb sich nachdenklich die Nase. Immerhin wäre es ein Verlag, auch wenn er auf Themen spezialisiert war, von denen sie keine Ahnung hatte. Im Geiste begann sie ein Bewerbungsschreiben zu formulieren, ganz nach den Ratschlägen, die ihr im Bewerbungstraining an der Uni vermittelt worden waren. Knapp, klar und präzise musste hervorgehoben werden, warum gerade man selbst besonders geeignet für diese Stelle wäre. Nur war das bei einer Position, die nicht unbedingt dem entsprach, was sie sich immer gewünscht hatte, etwas schwierig. Gute Rechtschreibkenntnisse fielen ihr ein. Außerdem hatte sie Anglistik als Nebenfach gehabt und war acht Monate in London gewesen, beherrschte die englische Sprache also absolut verhandlungssicher. Dass sie zudem Shakespeare im Original lesen konnte, interessierte Anwälte vermutlich weniger. Und dann noch … wie formulierte man, dass man sich gut ausdrücken konnte, ohne dabei anmaßend zu klingen?
Sie stieß einen Seufzer aus und stand auf, um ihr Gehirn durch eine Tasse Kaffee anzuspornen. Vielleicht würde es auch helfen, Musik aufzulegen. Während der Prüfungsvorbereitung hatte sie regelmäßig zu Songs von Donna Summer und Chansons von Édith Piaf in ihrer winzigen Wohnung getanzt, damit ihr Kopf wieder aufnahmefähig wurde. Aber damals hatte sie sich wenigstens mit wissenschaftlichen Fragen befasst, die sie interessierten. Das Verfassen von Bewerbungsschreiben hingegen war einfach nur mühselig.
Ratlos drehte sie das Radio auf. „Time to say goodbye“ schmetterten zwei kräftige, süße Stimmen im Duett. Sie stellte das Radio leiser und starrte auf die Stellenanzeige, bis die schwarzen Buchstaben ineinander zu verschwimmen begannen und einen Grauton bekamen. So sehr sie auch ihr Hirn zermarterte, ihr wollte einfach kein Grund einfallen, warum ein juristischer Fachbuchverlag ausgerechnet eine Frau einstellen sollte, die eine Magisterarbeit über mittelhochdeutsche Literatur geschrieben hatte.
Als sie bereits Lust verspürte, die Zeitung einfach vom Tisch zu fegen, läutete das Telefon. Erleichtert über die Ablenkung hob sie ab.
„Was machst du gerade?“, fragte Klaus schnell. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören, und er klang, als hätte er nicht viel Zeit zum Reden.
„Kaffee trinken, Stellenanzeigen lesen und wegen der glänzenden Berufsaussichten für Geisteswissenschaftler in Ekstase geraten“, erwiderte sie und nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse.
„Dann kannst du dich ja zum Mittagessen mit mir treffen“, meinte Klaus unbeeindruckt. „In einer Stunde in der Pizzeria vor meiner Firma.“
Marina hatte eigentlich vorgehabt, den ganzen Tag ihren Bewerbungen zu widmen, doch der strahlende Sonnenschein vor dem Fenster lockte verführerisch. Vielleicht würde etwas frische Luft ihr guttun.
„Okay, ich komme“, stimmte sie spontan zu.
Klaus murmelte noch etwas, dann hatte er auch schon aufgelegt. In den letzten Wochen hatte er ständig Stress im Büro, kam meistens spät nach Hause und daher sah Marina ihn auch wesentlich seltener als früher. Es gab ihr manchmal zu denken, dass sie ihn nicht besonders vermisste, doch hatte sie im Augenblick genug andere Sorgen im Kopf.
Um ihr Gewissen zu beruhigen, überflog sie nochmals die Stellenanzeigen und kreuzte das Gesuch nach einer Kellnerin in einem ihr bekannten Studentencafé an. Sie brauchte Geld, das war eine ebenso unschöne wie unleugbare Tatsache, und hier konnte sie wenigstens die stets geforderte Berufserfahrung vorweisen. ‚Unsere kellnernde Frau Magister‘, hörte sie im Geiste ihren Vater sagen und grinste. Schließlich stach ihr noch die Anzeige eines Nachhilfeinstituts ins Auge. Dort wurde zwar um Schüler geworben, aber ganz ohne Lehrer ging es auch nicht. Sie könnte einfach anrufen und nachfragen, ob welche gesucht wurden, überlegte sie, verschob dies aber auf den Nachmittag. Ganz hatte sie ihre Scheu, spontan zum Telefon zu greifen und sich irgendwo vorzustellen, noch nicht überwunden.
Nun war es erst einmal an der Zeit, endlich zu duschen und sich anzuziehen, denn sie saß immer noch in Pyjamahosen da. Lotterleben, hätte ihre Oma gesagt, dabei aber nachsichtig gelächelt.
Marina zog ein gestreiftes T-Shirt-Kleid aus dem Schrank und schlüpfte in ihre roten Sommerballerinas. An den Spitzen waren sie bereits abgewetzt, aber im Moment konnte sie sich kein neues Paar leisten. Trotzdem musste sie versuchen, einigermaßen vorzeigbar auszusehen, denn Klaus hätte vielleicht ein paar Kollegen dabei, eventuell auch seinen Chef, der gleichzeitig sein Onkel war. Sie kämmte ihr Haar sorgfältig durch und band es zu einem Pferdeschwanz, trug dann dezent Schminke auf. Zufrieden grinste sie ihr Spiegelbild an. So könnte sie sich durchaus auch bei einem Bewerbungsgespräch sehen lassen, vorausgesetzt, sie wurde jemals zu einem eingeladen. Nach kurzem Zögern streifte sie auch den silbernen, gravierten Armreif, ein Geschenk ihrer Großmutter, über ihr Handgelenk, packte ihren kleinen Rucksack und machte sich auf den Weg.
Als sie vor der Pizzeria von ihrem Fahrrad stieg, wartete Klaus bereits. Er saß allein unter dem Sonnenschirm, ganz ohne Chef und Kollegen, was Marina erleichterte. Es war nun schon ein halbes Jahr her, dass sie ihr Studium abgeschlossen hatte, und die Frage, wo sie jetzt arbeitete, wurde immer häufiger gestellt und begann langsam lästig zu werden.
„Schön, dich mal in einem schicken Kleid zu sehen“, sagte Klaus zur Begrüßung. Marina schluckte. Sie bevorzugte meist bequeme, weit geschnittene Hosen oder lange Blumenröcke, doch bisher hatte Klaus sich nie beschwert, keine klassisch elegant gekleidete Freundin zu haben.
„Wenn du Lust hast, können wir nachher noch bei meinem Onkel vorbeischauen. So machst du einen guten Eindruck“, fügte er hinzu. Marina setzte sich schweigend und griff nach der Speisekarte. Sie hatte Hunger, denn ihr Frühstück hatte aus einem Knäckebrot mit Frischkäse bestanden. Die Preise der Pizzen dämpften allerdings sehr schnell das Knurren in ihrem Magen.
„Schon gut, ich lade dich ein“, wurde sie von Klaus beruhigt und schämte sich, so schnell durchschaut worden zu sein. Er tätschelte kurz ihre Hand. Beiläufig, wie man einen Hund krault, dachte sie. Wie lange war es her, dass ein Kribbeln durch ihren Körper gefahren war, wenn Klaus sie berührt hatte? Sie wusste, dass es diese Zeit gegeben hatte, konnte sich aber kaum noch daran erinnern.
„Ich nehme eine Pizza Margherita und ein Wasser“, beschloss Marina, denn das war die billigste aller möglichen Bestellungen.
Klaus lächelte sie an. „Ich habe gute Nachrichten.“ Nun drückte er ihre Finger energisch zusammen.
Marina verspürte den leisen Drang, ihm ihre Hand zu entziehen, und schämte sich sogleich dafür.
„Mein Onkel sucht eine neue Sekretärin, die gut Englisch kann. Er will demnächst mit einer Londoner Firma zusammenarbeiten, da braucht er jemanden, der die Telefonate entgegennimmt und seine Briefe Korrektur liest. Es gab schon ein paar Bewerberinnen, aber mit denen war er nicht zufrieden. Da habe ich … na ja … an dich gedacht.“
Marinas erster Gedanke war, dass sie endlich ein vernünftiges Angebot bekam, auch wenn es nicht unbedingt den Vorstellungen entsprach, die sie sich zu Beginn ihres Studiums gemacht hatte. Allerdings hatte sie schon in den ersten Semestern genug Vorträge über die miserablen Berufsaussichten für Germanisten gehört, um ihre Träume erst einmal hübsch eingepackt in einer Schublade zu verstauen. Bei dieser Sekretärinnenstelle würde sie wenigstens ihr Englisch einsetzen können, also wäre ihre Ausbildung nicht ganz umsonst gewesen. Außerdem konnte sie so jene Berufserfahrung bekommen, die überall verlangt wurde, um sich überhaupt bewerben zu dürfen. Klaus’ Onkel hatte eine Firma, die Küchengeräte herstellte, erinnerte sie sich. Das interessierte sie zwar nicht besonders, streng genommen überhaupt nicht, aber im Geiste sah sie die vorwurfsvollen Blicke der Berufsberater des Arbeitsamtes, die über ihr Studienfach seufzend den Kopf geschüttelt hatten. Wie konnte man in der heutigen Zeit etwas so Brotloses wie Germanistik studieren? Es wäre arrogant und völlig wider alle Vernunft, auf ein so unerwartet gutes Angebot anders als höchst erfreut zu reagieren.
Warum spürte sie nur Enge in ihrer Kehle? Als würde jemand ihr die Luft abwürgen?
„Ich weiß nicht, ob … er ist immerhin dein Onkel.“
„Ja und? Mein Cousin Peter hat seiner Frau auch einen guten Job in seiner Firma besorgt. Mal ehrlich, Marina, du willst doch nicht ewig in deiner winzigen Wohnung sitzen bleiben. Wenn du endlich etwas verdienst, dann könnten wir vielleicht einen Kredit aufnehmen für eine Immobilie.“
Marina schüttelte verwirrt den Kopf. So weit hatte sie noch nie gedacht. „Ich habe mich gerade auf eine Sekretärinnenstelle beworben“, log sie, um auszuweichen. „Bei einem Verlag.“
Klaus zog staunend die Augenbrauen hoch.
„Wie viel würdest du da verdienen?“
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete sie verblüfft. „Ich habe ja gerade erst die Bewerbung geschrieben.“
Nun, da sie davon sprach, würde sie es tatsächlich tun müssen. Es war erstaunlich, wie das Schicksal einem manchmal Entscheidungen abnahm.
„Also mein Onkel, der würde dich überdurchschnittlich bezahlen. Dafür kann ich sorgen.“ Klaus musterte sie erwartungsvoll, wartete vermutlich auf Lob oder Dank oder beides. Marina brachte ein müdes Nicken zustande. Es war, als würde sie plötzlich in eine neue Richtung gezerrt werden, ohne jemals gefragt worden zu sein, ob sie dort überhaupt hinwollte.
„Es ist sehr nett von dir, mir das vorzuschlagen“, begann sie nach einer Weile des Überlegens. „Aber wie gesagt, ich habe noch ein paar andere Bewerbungen laufen und möchte erst einmal abwarten, was aus denen wird.“
Wenn sie jetzt gemeinsam mit Klaus zu seinem Onkel spazierte und der ihr die Stelle anbot, konnte sie schlecht später absagen, ohne Klaus völlig zu blamieren. Es war eben dies, was ihr an der ganzen Sache missfiel, erkannte sie.
„Na komm schon, Marina. Ich weiß, du hast ein paar Verlage wegen Praktika im Lektorat angeschrieben, aber die Bewerbungsunterlagen kamen doch schon längst zurück. Außerdem, hast du eine Ahnung, was eine Praktikantin verdient?“
Nun kribbelte der Ärger in Marinas Magen und eine spitze Bemerkung glitt auf ihre Zunge, doch wurde sie von dem Kellner, der gerade mit dem Essen erschien, daran gehindert, sie auszusprechen. Die Pizza duftete vorzüglich. Anstatt den üblichen Streit mit Klaus zu beginnen, griff Marina also zu Messer und Gabel. Eine Weile aßen sie schweigend. Ihr fiel ein, dass ihre Beziehung in letzter Zeit vor allem dann funktionierte, wenn sie nicht miteinander redeten.
„Wirklich ein erstklassiges Lokal. Mein Onkel hat es mir empfohlen“, störte Klaus die stumme Idylle und spießte ein Stück Fleisch auf seine Gabel. Marina nickte wieder einmal und vermied es, auf die exorbitanten Preise hinzuweisen. In Klaus’ Leben herrschten einfach andere Maßstäbe, seitdem er als Ingenieur arbeitete. Diese konnten aber auch bald schon für sie gelten. Warum fiel es ihr so schwer, sich darüber zu freuen?
„Ich glaube, ich habe noch Zeit für einen Kaffee“, meinte Klaus mit einem Blick auf die Uhr. Wieder wurde Marina von der Nadel des schlechten Gewissens gestochen. Er freute sich offenbar viel mehr über die Möglichkeit, noch eine Weile zusammensitzen zu können, als sie.
„Also, was soll ich meinem Onkel ausrichten?“, fragte er, als er den Kellner nochmals herbeiwinkte. „Oder kommst du gleich mit?“
„Ich sagte doch bereits, dass ich es mir noch überlegen will“, erwiderte Marina. „Und abwarten, was sich sonst noch so ergibt. Bisher haben noch nicht alle Verlage abgesagt.“
Bei denen, die sich nicht gemeldet hatten, ging sie aber nicht ernsthaft davon aus, überhaupt noch von ihnen zu hören. Ihre Freundin Ulrike erinnerte sie gern an die Ratschläge aus dem Bewerbungstraining: Man musste zum Telefon greifen und nachfragen, wenn nach drei Wochen noch keine Reaktion gekommen war. Aber Marina konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Es kam ihr vor, als müsse sie auf Knien rutschend um eine Stelle betteln.
Jetzt wurde ihr eine auf dem Präsentierteller angeboten.
„Ich weiß wirklich nicht, worauf du wartest“, meinte Klaus leicht gereizt. „Wenn irgendein Verlag Interesse an deiner Mitarbeit hätte …“
„… dann hätte er sich schon längst gemeldet. Vielen Dank für den Hinweis.“ Sie starrte lustlos auf den flauschigen Milchschaum ihres Cappuccinos. Klaus wusste immer, wie er ihr erfolgreich den Tag verderben konnte. Allerdings hatte er nichts weiter als die Wahrheit gesagt.
„Es ist nicht wirklich die Arbeit, die ich mir vorstelle“, sprach sie aus, was ihr wirklich auf dem Herzen lag.
„Du hast dich doch gerade um eine Sekretärinnenstelle beworben“, sagte Klaus.
„In einem Verlag“, beharrte sie. Glücklicherweise hatte sie nicht erwähnt, dass es um juristische Fachbücher ging.
Nun seufzte er geradezu dramatisch und warf einen weiteren ungeduldigen Blick auf die Uhr.
„Was macht es denn für einen Unterschied, wo du als Sekretärin arbeitest? Mein Onkel würde dich garantiert besser bezahlen.“
Er schien ihren Unmut zu erahnen, bevor sie ihn in Worte gefasst hatte, und streichelte tröstend ihre Hände. Wider Erwarten tat das plötzlich wohl.
„Es wäre doch nur für eine Weile. Bis ich richtig gut verdiene“, sagte er sanft. „Dann kannst du zu Hause bleiben und tun, was dir gefällt.“
Der Tisch schepperte, als Marina wie von einem gefährlichen Insekt gestochen aufsprang. „Ach so, ich soll als dein Luxusweibchen im Einfamilienhaus hocken, während du mich gnädig ernährst! Falls das ein Heiratsantrag sein sollte, so war er der dämlichste der Menschheitsgeschichte!“
Sie hörte, wie er ihren Namen rief, während sie zu ihrem Fahrrad rannte. Der Umstand, dass sie ihn die Rechnung zahlen ließ, milderte die Wirkung ihres Abgangs, aber das war ihr im Moment egal. Sie trat energisch in die Pedale, sah Fußgänger empört zur Seite springen und strampelte zu der Zwanzig-Quadratmeter-Wohnung mit Kochnische, für die ihr Vater weiterhin die Miete zahlte. Falls sie die Stelle als Kellnerin bekam, würde sie es vielleicht selbst tun können. Aber viel mehr auch nicht.
Seltsamerweise hatte das Treffen mit Klaus ihre Energie beflügelt, denn zu Hause angekommen, tippte sie die Bewerbung an den juristischen Fachbuchverlag recht zügig herunter, packte sie gemeinsam mit Foto und Zeugniskopien in eine Mappe und tütete sie ein. Vermutlich wäre es besser, den Brief gleich zur Post zu bringen. Sie erinnerte sich noch zu gut an das Malheur von letzter Woche, als sie eine Kanne Tee über drei bereits sendebereite Bewerbungen ausgeschüttet hatte. Leider musste in ihrer winzigen Wohnung der Schreibtisch auch als Esstisch dienen, was solche Unfälle nicht unwahrscheinlich machte. Der aus dem Büro ihres Vaters ausrangierte Computer war wirklich ein Segen, da sie nicht alles nochmals hatte abtippen müssen, aber Arbeit machte es trotzdem, eine neue Mappe zusammenzustellen. Als sie gerade zur Post aufbrechen wollte, fiel ihr noch die Anzeige des Nachhilfeinstituts ein. Vielleicht würde sie ja zwei Bewerbungen gleichzeitig abschicken können, dachte sie und griff zum Telefonhörer.
Das Gespräch fiel kurz aus. Nachdem Marina sich vorgestellt und ihr Anliegen vorgetragen hatte, wurde sie von einer älteren Männerstimme gefragt, ob sie schon Erfahrung im Unterrichten hätte. Sie verneinte wahrheitsgemäß und wurde sogleich abgewiesen. Dann blieb sie eine Weile sitzen und kämpfte gegen eine merkwürdige Mischung aus Zorn und Trübsal an, die sie insgesamt träge machte. Welcher Idiot hatte die Prämisse aufgestellt, dass Ehrlichkeit am Längsten währte? Warum hatte sie sich nicht ein paar Nachhilfeschüler ausdenken können, als ihr wieder einmal die übliche Frage gestellt worden war? So etwas hätte ja kaum überprüft werden können.
Mit einem Seufzer stand sie auf, um wenigstens die erste und so weit einzige Bewerbung des Tages abzuschicken. Auf dem Rückweg vom Postamt beschloss sie, sich einen Eisbecher in einem Straßencafé zu gönnen. Sie hatte ihr Soll erfüllt, mehrere Zeitungen durchforstet und eine entfernt passende Stelle gefunden, die sie wahrscheinlich ohnehin nicht bekommen würde. Das musste gefeiert werden.
Als sie zahlte, stellte sie fest, dass sie nur noch einen einzigen Fünfzig-Mark-Schein besaß. Ihr Konto war schon überzogen und es wurde immer peinlicher, auf der Bank um weiteren Kredit zu betteln. Auch ihren Vater mochte sie nicht wieder um Unterstützung bitten, obwohl er meist großzügig war. Die Kellnerinnenstelle also. Sobald sie zu Hause war, würde sie anrufen. Oder sollte sie einfach hinfahren und sich gleich vorstellen, damit sie schon am nächsten Tag anfangen konnte? Es war ein inzwischen völlig ungewohntes Gefühl, sich für eine Stelle zu interessieren, bei der sie auch davon ausging, sie zu bekommen.
Sobald sie die Wohnung betreten hatte, klingelte das Telefon.
„Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte Klaus.
Sie bejahte, denn sie hatte keine Lust, ihm von dem missglückten Anruf beim Nachhilfeinstitut zu erzählen.
„Gut. Können wir uns dann heute Abend sehen? Du hast das gerade eben völlig missverstanden. Ich möchte es dir erklären.“
„Nein.“
Die Antwort war Marina herausgerutscht, bevor sie nachgedacht hatte. Sie erschrak über ihre eigene Unfreundlichkeit, aber sie fühlte sich an diesem Tag einfach nicht in der Lage, Klaus’ erbarmungslos pragmatische Weltsicht noch einmal zu ertragen.
„Ich bin leider schon verabredet“, fügte sie sogleich hinzu, um die Heftigkeit der Zurückweisung etwas zu dämpfen. „Mit Ullie. Morgen vielleicht.“
„Morgen komme ich wahrscheinlich spät aus dem Büro“, erwiderte Klaus nun merklich kühler. „Mal sehen. Ich rufe dich an.“
Eine Stimme erklang im Hintergrund und es knackste, als er auflegte. Marina staunte über den Mantel von Trauer, der sich auf ihre Schultern legte. War dies am Ende ihr letztes Gespräch mit Klaus gewesen? Unwahrscheinlich, beruhigte sie sich. Falls er sich nicht mehr meldete, konnte sie immer noch selbst anrufen und sich entschuldigen.
Nun rief sie erst einmal bei dem Studentencafé an und erfuhr, dass der Besitzer heute nicht da war. Sie könne morgen Nachmittag vorbeikommen und sich vorstellen, denn eine Kellnerin wurde weiterhin gesucht. Da es nichts mehr zu tun gab, machte sie es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich, das ihr auch als Bett diente. Als es draußen zu dämmern begann, fand sie den kleinen Raum allmählich beengend. Wohnungen in der Größe von Hasenställen verleiteten ihre Bewohner zu häufigem Ausgehen – im Grunde keine schlimme Sache, doch im Augenblick fehlte ihr dazu das nötige Geld. Sie erwog, einen Abendspaziergang zu machen oder sich mit ihrem Buch in ein Café zu setzen. Ein Glas Wein würde sie sich noch erlauben, dann wieder heimkehren. Ein erneutes Klingeln des Telefons hinderte sie daran, sofort in ihre Ballerinas zu schlüpfen. Eine Weile starrte sie auf das knallrote Gerät mit der altmodischen Wählscheibe, dann griff sie nach dem Hörer.
„Klasse, das Vöglein ist nicht ausgeflogen!“, wurde sie von Ulrikes energiegeladener Stimme förmlich überrannt. „Ich habe ein Attentat auf dich vor. Wir müssen uns sehen, am besten gleich.“
Marina grinste. „Ich würde gern“, antwortete sie, denn Ulrikes Anruf hatte ihre Laune mit einem Mal wieder in Schwung gebracht. „Aber für einen Absturzabend in der Kneipe fehlt mir momentan das Geld.“
Das war das Erfrischende an Ulrike. Man konnte einfach ehrlich sein. In Klaus’ Kreisen wurde nicht offen über Geldnöte gesprochen.
„Kein Problem. Komm zu mir. Ich habe eine Flasche erstklassigen Rotwein von Aldi, natürlich sündteuer. Ich habe lange sparen müssen, um die zwei Mark zusammenzukriegen. Dazu gibt es ein unvergleichliches Gourmetdinner.“
„Lass mich raten! Spaghetti mit Ketchup und Champignons aus der Dose?“
„Wie hast du das nur wieder erraten?“
„Weil du das immer kochst.“
„Falsch! Manchmal gibt es auch Tiefkühlpizza. Aber das ist natürlich sehr aufwendig.“
„Beides unwiderstehlich. Ich bin in einer halben Stunde da.“
Fröhlich summend zog Marina sich eine Jeansjacke an und rannte die Stufen zum Fahrradkeller hinab.
Ulrike lebte in einer Wohngemeinschaft mit zwei Jungs, die beide Sozialpädagogik studierten. Einer davon war schwul, der andere hatte ständig neue Freundinnen, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen, und an diesem Abend war keiner von ihnen da. Marina wurde in die große Küche gewunken, wo bereits das Wasser für die Spaghetti köchelte.
„Das Essen ist gleich fertig. Setz dich schon mal und mach den Wein auf.“
Marina gehorchte und füllte beide Gläser großzügig.
„Wollen wir anstoßen?“
„Geduld, Geduld. Ich habe wichtige Dinge zu erzählen.“
Ulrike warf die gekochten Nudeln in ein Sieb und ließ sie abtropfen. Dann wurden sie auf zwei Teller verteilt.
„Die Champignons sind in der Schüssel links und der Ketchup steht rechts daneben“, sagte sie, als sie das Essen vor Marina hinstellte. Ihr sonst sehr blasses Gesicht hatte vom Kochen etwas Farbe bekommen. Wie meistens steckte ihre rundliche Figur in einer schlabberigen Latzhose.
„Also, was hast du zu feiern?“, fragte Marina ungeduldig.
Ulrike hob einladend ihr Weinglas. „Seit heute bin ich wissenschaftliche Assistentin bei Professor Maiwald. Er hat mir nahegelegt, zu promovieren und dafür ein Stipendium zu beantragen. Mit seinem Empfehlungsschreiben habe ich gute Chancen, es auch zu bekommen.“
Marina erstarrte. Ein merkwürdiges, bisher unbekanntes Gefühl bemächtigte sich ihrer und löste einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge aus.
„Na, was ist? Freust du dich nicht für mich?“ Ulrike sah verwirrt aus.
„Doch. Natürlich“, sagte Marina, konnte aber hören, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang. „Du kannst dich auch für mich freuen“, fügte sie nach ein paar Atemzügen hinzu. „Ich werde wahrscheinlich bald Sekretärin, vorausgesetzt natürlich, ich kriege den Job. Ansonsten bleibe ich erst einmal Kellnerin. Na, was glotzt du so? Bin ich dann kein Umgang mehr für dich?“
„Ich verstehe nicht ganz, was dieses Benehmen plötzlich soll“, meinte Ulrike ratlos.
„Na ja, ist doch klar. Meine Magisterarbeit war nicht so toll wie deine. Also bleibst du weiter an der Uni und ich gehe tippen oder kellnern. Ein jeder nach seinen Fähigkeiten.“ Marina erschrak selbst darüber, wie bissig sie klang. Zuerst hatte Klaus ihre schlechte Laune abbekommen. Jetzt war es Ulrike. Wenn sie so weitermachte, hatte sie bald schon nicht nur keine Arbeit, sondern auch keine Freunde mehr.
Ulrike drehte stirnrunzelnd das Weinglas in ihrer Hand und schwieg eine Weile.
„Kannst du dich nicht mehr erinnern, wie du geredet hast, als du deine Magisterarbeit geschrieben hast?“, fragte sie dann leise. „Dass dir dieses Überinterpretieren von Literatur allmählich reicht? Wie gern du es endlich mal wieder genießen würdest, einfach ein Buch zu lesen, ohne irgendwelche schlauen Theorien dazu aufstellen zu müssen?“
Marina ließ den Kopf sinken. Sie hatte in der Tat so gesprochen, vor allem, wenn sie nach ein paar Gläsern Wein in Fahrt geraten war.
„Schon klar. Deshalb habe ich dann wohl meine Magisterarbeit versaut“, gab sie kleinlaut zu.
„Ach Quatsch! Du hast einen Zweier, da hast du doch nichts versaut. Aber für eine wissenschaftliche Laufbahn, na ja, hättest du vielleicht etwas mehr Enthusiasmus gebraucht.“
„Ich hab’s ja bereits kapiert“, sagte Marina und nahm noch einen tiefen Schluck Wein. „Aber damals wusste ich noch nicht, dass meine Zukunft darin bestehen soll, Geschäftsbriefe zu schreiben.“
Sie sah, wie ihre Freundin das Gesicht verzog.
„Also wer redet hier jetzt schlecht über Sekretärinnen?“, fragte Ulrike. „Meine jüngere Schwester ist eine. Sie war froh, mit der Schule fertig zu sein, und macht ihren Job gern. Genau das scheint mir nämlich das Problem bei dir: Man sollte sich nicht auf eine Stelle bewerben, die man sowieso nicht will. Also wenn du mir im Bewerbungsgespräch mit so einer Miene gegenübersitzen würdest, dann würde ich dich garantiert nicht einstellen.“
„Ich mich wahrscheinlich auch nicht“, erwiderte Marina, während sie in ihr Weinglas grinste. „Also wird erst einmal weiter gekellnert.“
Ulrike seufzte leise. „Warum überlegst du dir nicht einfach, was du wirklich machen möchtest? Stell eine Liste von Jobs zusammen, die dich wenigstens ein bisschen interessieren.“
„Klasse Rat“, meinte Marina mit neu erwachter Bissigkeit. „So schlau war ich auch schon. Aber was nützt es mir, auf eine Liste zu schreiben, dass ich gern Verlagslektorin oder Sprachdozentin wäre, wenn mich dann keiner einstellt? Überall soll man Berufserfahrung mitbringen, aber wie bekommt man die, wenn man gleich am Empfang abgewimmelt wird?“
Sie griff nach der Weinflasche, um sich nochmals einzuschenken.
„Schau doch mal aufs Schwarze Brett an der Uni bei den Germanisten“, sagte Ulrike. „Da habe ich erst heute etwas gesehen. Irgendeine Sprachenschule suchte Dozenten. Aber beeil dich, sonst haben die schon ihr Telefon abgestellt, weil es ununterbrochen klingelt.“
Marina stimmte erleichtert in ihr Lachen ein. Der Wein hatte ihr gutgetan.
„Vielleicht sollte ich mir die Adresse aufschreiben und versuchen, durchs Fenster hereinzuklettern, damit ich ihnen einfach meine Unterlagen auf den Tisch knallen kann. Im Bewerbungstraining sagten sie uns immer, wir müssten Initiative zeigen.“
„Tolle Idee. Die sind bestimmt beeindruckt.“
Auch Ulrike musste der Wein bereits zu Kopf gestiegen sein und Marina entspannte sich. In manchen Situationen half Herumalbern viel besser als endlose Ratschläge.
„Mein Cousin, der Psychologie studiert hat, jammert auch herum, falls es dich tröstet“, sagte Ulrike, nachdem sie ihr eigenes Glas erneut aufgefüllt hatte. „Der hat sich sogar als Telefonist in einer Bank beworben und ist zu einem Assessment-Center eingeladen worden. Den ganzen Tag gab es Testfragen und Gespräche, alles unter Druck, ein paar Leute sind heulend hinausgerannt. Er hat es mit Tierversuchen verglichen. Am Ende wollten sie ihn sogar nehmen, aber er hat abgelehnt.“
„Der Knabe hat Stil“, meinte Marina anerkennend. „Auf deinen Cousin!“
Sie stießen mit dem letzten Rest Wein nochmals an. Nun, da ihr Geist sanft umnebelt war, schienen Marina die fünfzig Mark in ihrem Portemonnaie recht viel, und sie bot sich freiwillig an, eine weitere Flasche an der Tankstelle zu holen.
Sie erwachte, als ihr Nachbar laute Technomusik aufdrehte und die Wand zwischen ihnen von rhythmischem Hämmern zu bersten drohte. Der Wecker auf ihrem Nachttisch teilte ihr mit, dass es bereits zehn Uhr morgens war. Sie streckte sich gähnend. Ein leichtes Pochen an ihren Schläfen erinnerte sie daran, wie viel Wein sie am Vorabend getrunken hatte. Danach war das Radfahren nicht einfach gewesen, aber sie hatte es geschafft, mit leichtem Schlängeln unversehrt nach Hause zu kommen. Insgesamt hatte der Abend ihr gutgetan, denn sie verspürte mehr Tatendrang als in den letzten Tagen. Wenn sie noch ein paar Monate kellnern musste, um sich am Leben zu halten, würde die Welt davon nicht untergehen.
Sie warf die Kaffeemaschine an und inspizierte ihren Kühlschrank, wo eine letzte Scheibe Vollkornbrot zwischen zwei Joghurtbechern lag. Zwei Fächer tiefer entdeckte sie noch ein Glas selbst gemachter Marmelade ihrer Oma, hinter dem sich ein allerletzter Rest bereits leicht ranziger Butter verbarg. Immerhin hatte sie schon mal ein Frühstück.
Zwei Tassen Kaffee halfen, den letzten Rest an Kopfschmerz zu verjagen. Frisch geduscht zog sie einen jener bunten, weit schwingenden Röcke aus dem Schrank, die sie gern trug, obwohl Klaus sie kürzlich als „hippiemäßig“ bekrittelt hatte, streifte ein T-Shirt über und schlüpfte wieder in die Ballerinas. Es war an der Zeit, sich jenen Aushang am Schwarzen Brett anzusehen, von dem Ulrike gesprochen hatte.
Als Marina die vertrauten Korridore des Universitätsgebäudes betrat, legte sich wieder eine Decke aus Schwermut auf ihre Schultern. Vier Jahre lang war dieser Ort ein Fixpunkt in ihrem Leben gewesen; jetzt fühlte sie sich in eine Welt hinausgestoßen, wo sie durch ein Vakuum schwamm, erfolglos auf der Suche nach ein wenig Halt. Sie sah junge Gesichter an sich vorbeieilen, verbissen, aufgeregt, gelangweilt oder in angeregte Gespräche vertieft, und beneidete sie darum, noch hierherzugehören.
Auf dem Schwarzen Brett wurden die Veranstaltungen für das nächste Semester angekündigt; daneben hingen Wohnungsangebote, und ein paar Marketingfirmen suchten Mitarbeiter für Umfragen. Marina lief aufmerksam auf und ab und überflog die geplanten Vorlesungen und Seminare. „Das Bild der Frau bei Schiller und Goethe im Vergleich“ hätte sie durchaus interessiert, und die Anglisten begannen, sich endlich auch mit Fragen des Kolonialismus zu befassen. Wieder verspürte sie den Stich des Neids in ihrer Brust. Für Ulrike waren die Türen zu diesen Veranstaltungen noch nicht geschlossen, aber sie selbst hatte dort nichts mehr verloren. Sie riss sich zusammen und beschloss, ihre Aufmerksamkeit ganz auf das eigentliche Ziel ihrer Fahrt hierher zu lenken. Es brauchte noch ein paar Sekunden aufmerksamen Schauens, dann entdeckte sie endlich den Aushang, von dem Ulrike gesprochen hatte: „Kleine Sprachenschule sucht Dozenten für Deutsch, Englisch und Französisch.“ Alle Zettelchen mit der Telefonnummer hatte man bereits abgerissen, und jemand musste auch die Angabe der Adresse entfernt haben. Marina verzog das Gesicht, beschloss aber, sich nicht unnötig zu ärgern, denn die Stelle war sicher schon längst vergeben. Gerade wollte sie sich umdrehen, um den Heimweg anzutreten, als ihr ein weiteres Blatt Papier ins Auge stach.
„Prager Sprachinstitut braucht dringend deutsche Muttersprachler“ stand dort in leicht verblasster, kursiver Schrift auf rosa Hintergrund. Ein unscharfes Foto von der Kulisse einer Burg über einem breiten Fluss war neben den Text geklebt worden – ein etwas bemühter Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen. Marina blieb eine Weile stehen. Der Zettel musste neu sein, sonst hätte Ulrike ihn sicher erwähnt. Sie erwog, ihn einfach abzureißen und mitzunehmen, aber es widerstrebte ihr, sich auf diese Weise die besten Aussichten auf eine Stelle zu sichern. So kramte sie ihren Taschenkalender heraus, wühlte in den Tiefen des Rucksacks nach einem Stift. Die Adresse des Sprachinstituts schien aus einer seltsamen Abfolge von Konsonanten zu bestehen. Marina beschloss, sich erst einmal nur die Nummer zu notieren.
Nachdenklich strampelte sie wieder heimwärts. Prag lag in der Tschechoslowakei, nein, jetzt hieß es Tschechische Republik. Es hatte eine Trennung gegeben, die aber nicht so blutig abgelaufen war wie im ehemaligen Jugoslawien.
Marina erinnerte sich an Urlaube in der Nähe von Dubrovnik, von denen der erste über zehn Jahre zurücklag. Damals hatte ihre Mutter noch gelebt und hatte neben ihr an einem felsigen Strand vor einem strahlend blauen Meer gesessen. Später war sie noch einige Male allein mit ihrem Vater dort gewesen. Feigen, die man von Bäumen pflücken konnte, gutbürgerliche Küche mit Fleischspießen und Männer, die ihr hinterhergepfiffen hatten, das waren Marinas Erinnerungen an Osteuropa. Prag lag aber nicht am Meer, hatte vermutlich kein so sonniges Klima und eigentlich bestand es in ihrem Kopf vor allem aus Franz Kafka, den sie stets unerträglich depressiv gefunden hatte. In den letzten Jahren wurde mehr Havel gelesen, der in diesem Land nun Präsident geworden war. Milan Kundera fiel ihr noch ein. Sie war mit Ulrike schnell übereingekommen, dass er ein zwar sehr kluger Mann, aber auch ein ziemlicher Chauvinist war.
Auf dem Heimweg nutzte sie ihre verbleibenden finanziellen Reserven, um ihren Kühlschrank etwas aufzufüllen, briet sich ein Schinkenomelette und blieb schließlich vor dem Telefon sitzen. Ein Ferngespräch war nicht billig. Sie hatte ihrem Vater in den letzten Monaten ohnehin sehr hohe Telefonrechnungen zugemutet, denn das ständige, erfolglose Schreiben von Bewerbungen verleitete dazu, sich mit Freundinnen über die Ungerechtigkeit dieser Welt austauschen zu müssen. Aber sie brauchte ja nicht lang mit diesen Leuten zu reden; sie wollte eigentlich nur wissen, ob die Stelle für sie infrage kam. Oder genauer genommen sie für die Stelle. Das war bisher ihr größeres Problem gewesen.
Sie wählte die gekritzelte Nummer und wartete, bis ein scheppernder Klingelton kam. Ihr Herz schlug ruhig, die Aufregung kauerte bislang noch in ihrem Hinterkopf. Der Klingelton wiederholte sich in regelmäßigen Abständen, was ihn fast einschläfernd machte. Also war keiner im Büro. An einem Mittwoch kurz nach zwölf, was nicht gerade für eine professionelle Einrichtung sprach. Marina wollte gerade wieder auflegen, als plötzlich eine helle Frauenstimme in einer unverständlichen Sprache zu reden begann.
„Sprechen Sie Deutsch?“, unterbrach Marina.
„Schlecht. Leider. Englisch?“
Es klang gleichzeitig weich und doch zackig, einfach aufgrund des rasanten Sprechtempos.
Marina stellte sich auf Englisch vor und erwähnte den Aushang in der Regensburger Universität. Zunächst folgte nur Schweigen, dann beriet die Frau sich mit jemandem im Hintergrund.
„Sie Deutsche? Haben studiert und wollen hier arbeiten?“ Es klang ungläubig.
„Deshalb rufe ich an“, erwiderte Marina.
„Ja dann.“ Die Frauenstimme überschlug sich fast in einem glücklichen, ausgelassenen Lachen. „Dann kommen Sie einfach her.“
Marina war zu verblüfft, um etwas zu sagen.
„Haben Sie schon einmal unterrichtet?“, fragte die Frau nun etwas sachlicher. Marina war fast erleichtert darüber, denn nun bewegte sie sich wieder auf vertrautem Terrain. Sie tat ein paar Atemzüge und suchte nach einer unverfänglichen Lüge, beschloss aber am Ende, es darauf ankommen zu lassen.
„Nein. Leider nicht. Aber ich würde es gern tun.“
„Ach, dann kein Problem. Wir helfen Ihnen. Geben Tipps.“
Marina meinte, sich in einen merkwürdigen Traum verirrt zu haben. Vielleicht war das alles auch nur ein schlechter Scherz für irgendeine Fernsehsendung über Arbeitssuchende, und ihr Telefongespräch wurde zu diesem Zweck abgehört. Man wollte sehen, wie viele Leute tatsächlich glauben würden, allein ihr Studienabschluss könnte ihnen eine angemessene Stelle verschaffen.
„Sie meinen, Sie würden mich einfach so einstellen? Ohne irgendwelche …“
Tierversuche hätte sie fast gesagt, doch zum Glück fiel ihr der englische Begriff dafür nicht gleich ein.
„Ja, ja, sicher, wir stellen Sie ein. Kommen Sie einfach her. Mit Zeugnissen.“
Es ging so schnell, dass Marina fast schwindelig wurde.
„Sie meinen, ich brauche Ihnen nur meine Zeugnisse zu zeigen und dann bekomme ich eine Stelle an Ihrer Sprachenschule?“
„Ja. Das habe ich schon gesagt.“ Die Frau begann etwas ungeduldig zu klingen, als zweifle sie an Marinas Begriffsvermögen. „Wir können Ihnen leider nicht die Reise bezahlen“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
„Oh. Das ist kein Problem. Wann soll ich denn kommen?“
„Vor September. Dann geht die Schule los. Geben Sie mir Ihre Adresse und ich schicke Ihnen Informationen.“
Als das Gespräch beendet war, starrte Marina eine Weile reglos aus dem Fenster. Es klang, als hätte sie ganz plötzlich eine Arbeit gefunden. In einem Land, das zwar unmittelbar neben dem ihren lag, aber von dem sie so gut wie nichts wusste. Auf das Staunen folgte ein Moment der Euphorie, bis schließlich die Angst Oberhand nahm. Was würde ihre Familie sagen, wenn sie einfach so ins Ausland verschwand? An das Gespräch mit Klaus wagte sie gar nicht erst zu denken.
Sie musste sich ja nicht gleich entscheiden, beschloss sie. Erst einmal würde sie abwarten, ob tatsächlich Infomaterial käme. Danach konnte sie hinfahren, um sich die Schule anzusehen, doch würde sie von den dreißig Mark, die noch in ihrem Portemonnaie steckten, keine Zugfahrkarte zahlen können. Sie seufzte und sah auf die Uhr.
Es war an der Zeit, sich in dem Studentencafé als Kellnerin vorzustellen.