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6. Kapitel Coburg, März 1934

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„Mir geht es sehr gut. Ich mache Fortschritte auf der Geige.“

Julia nahm ein Stück von dem Apfelkuchen, den ihre Mutter für sie gebacken hatte. Es überraschte sie, dass ihretwegen ein solcher Aufwand betrieben wurden. Sie hatte ihrer Familie offenbar gefehlt, was sie etwas verlegen machte.

„Ich hoffe, sie behandeln dich anständig“, meinte ihre Mutter mit besorgter Miene. Julia verschwieg daher alle Kränkungen, die sie von Professor Grün weiterhin einzustecken hatte. Seit sie immer öfter mit Arthur ausgehen musste, um ihn nicht zu verprellen, hatten sie sogar zugenommen. An der Musikakademie galt sie als Geliebte eines reichen jungen Mannes, der ihre Ausbildung finanzierte. Daher bekam sie immer wieder abfällige, manchmal offen anzügliche Kommentare ihrer männlichen Mitschüler zu hören. Die Mädchen waren oft noch giftiger, versuchten Julia aber auch in persönliche Gespräche zu verwickeln. Es war fast, als wollten sie erfahren, auf welche Weise eine Frau einen reichen Mäzen finden konnte. Dabei wusste sie selbst nicht genau, warum er ausgerechnet sie zum Ziel seiner Aufmerksamkeit auserkoren hatte. Sie erkannte nichts an sich, das einen Mann anlocken könnte. Außer ihrem Aussehen wohl, weswegen sie sich bisher vor allem von Männern belästigt und von Frauen angefeindet gefühlt hatte. Aber war ein Gesicht denn wirklich so wichtig? Früher oder später musste man sich doch daran sattsehen. Danach blieb nur noch der Rest von ihr, ihr eigentliches Wesen, das niemandem begehrenswert scheinen konnte. Sie war so schüchtern, dass sie sich unter fremden Menschen wie ein im grellen Sonnenlicht hilflos tapsender Maulwurf vorkam. Manche Männer mochten das an einem Mädchen rührend finden, da sie ihren Beschützer spielen konnten. Aber was hatte sie diesen Männern als Gegenleistung zu bieten? Sie konnte sich kaum für Aufgaben begeistern, die Frauen für gewöhnlich zu erfüllen hatten. Das Kochen war ihr verhasst, kleine Kinder schienen ihr nur laut und lästig. Dann war da noch diese schmutzige, geheime Sache, die offenbar erlaubt wäre, sobald sie einen Ehering am Finger trug. Für Julia schien es vor allem ein Grund, den Stand der Ehe zu meiden.

Kein Mann mit einem Funken Verstand im Kopf konnte sich wünschen, eine wie sie vor den Traualtar zu führen.

Nun konnte man Arthur vieles vorwerfen, doch wie ein echter Dummkopf war er ihr nicht erschienen. Was also konnte er von ihr wollen? Welche Vorteile hätte sie als Ehefrau für ihn?

Julia ging davon aus, dass sein Interesse mit der Zeit nachlassen würde. Sein Vater würde sie ohnehin niemals als Schwiegertochter dulden.

„Wenn deine Ausbildung vorbei ist, kommst du aber wieder nach Hause, oder?“, wollte ihr Vater plötzlich wissen. Julia fragte sich, wie er auf so eine Idee kam.

„Ich möchte Musikerin werden und Konzerte geben“, sagte sie.

„Aber das geht doch nicht ewig“, mischte ihre Mutter sich ein. „Irgendwann brauchst du ein Heim. Wir sind deine Familie. Möchtest du denn nicht in unserer Nähe leben? Ich würde gern meine Enkelkinder aufwachsen sehen.“

Julia empfand kurz Schuldgefühle, aber ihr Staunen war größer. Warum drängte alle Welt sie in eine Richtung, in die sie nicht gehen wollte?

„Ich glaube nicht, dass ich jemals ein Kind bekomme. Ich möchte Geige spielen. Dazu bin ich geboren.“

Etwas hatte sich durch ihre längere Abwesenheit von zu Hause verändert. Sie war ihren Eltern gegenüber nun ehrlicher und mutiger. Es mochte an ihrer neu gewonnenen Unabhängigkeit liegen, doch hatte sie diese nur der Großzügigkeit von Arthurs Familie zu verdanken. Also war sie nicht wirklich unabhängig, nur weniger abhängig von ihren Eltern als früher. Manchmal kam es ihr vor, als sei sie in eine neue Gefangenschaft geraten, die noch fataler sein könnte, da sie kaum einzuschätzen war.

Ihre Mutter lachte glockenhell. „Ach, Jule, meine älteste Schwester sagte auch immer, dass sie keine Kinder will. Heute hat sie fünf.“

Diese Neuigkeit überraschte Julia. Sie fragte sich, was die Tante falsch gemacht hatte, um so völlig anders zu enden als ursprünglich geplant.

„Ich werde niemals ein Kind haben“, sagte sie. „Also jedenfalls kann ich es mir nicht vorstellen.“

Nun sah ihre Mutter kurz ernsthaft verärgert aus, doch ihr Vater mischte sich ins Gespräch, fast als wolle er einen ernsthaften Konflikt verhindern.

„Lassen wir die Jule mal machen. Sie wird schon ihren Weg gehen. Dein Kuchen ist köstlich, Tilda.“

Ihre Mutter lächelte geschmeichelt. Julia war überrascht, denn sie hatte ihren Vater bisher nie als Verbündeten erlebt. Ihre Aufnahme an der Musikakademie musste ihn beeindruckt haben.

„Wo ist eigentlich Walther?“, fragte sie nun. Sie hatte sich darauf gefreut, ihren Bruder wiederzusehen, obwohl er ihre Abreise nach Erfurt mit Skepsis betrachtet hatte.

„Trifft sich mit seinen Freunden. Aber er wollte zum Abendessen wieder da sein“, erwiderte ihr Vater. Sein Gesicht war für einen Moment von Missfallen überschattet. Julia überkam die Ahnung von unerfreulichen Entwicklungen während ihrer Abwesenheit. Bisher war ihr älterer Bruder stets das vorbildliche Kind gewesen, praktisch, vernünftig und zupackend, während Julia selbst als weltfremd und selbstbezogen galt. Aber nun war er bei einer Familienzusammenkunft abwesend.

Arthur hätte gesagt, dass ein junger Mann sich eben die Hörner abstoßen musste. Julia mochte solche Kommentare nicht. Sie wollte auch nicht denken, dass Walther sich so verhielt.

„Ich gehe dann mal auf mein Zimmer. Auspacken“, meinte Julia und stand auf. Erst dann fiel ihr ein, dass sie ihrer Mutter beim Abräumen helfen sollte.

„Wie läuft die Pension?“, fragte sie, während sie Tassen und Teller in die Küche trugen.

„Es geht. Wir kommen über die Runden. Aber leicht ist es nicht. Ich hoffe, dass es unserem Land jetzt besser gehen wird, mit der neuen Regierung.“

„Arthur Spengler sagt, dass es so sein wird. Dass dieser Adolf Hitler Deutschland wieder stark machen wird“, erzählte Julia, um ihre Mutter aufzumuntern. Sie selbst hatte nie darüber nachgedacht, ob er recht hatte oder nicht. Sie wünschte sich nur, dass das Brüllen marschierender Männer auf der Straße nachlassen würde.

„Einer wie dieser Arthur muss es ja wissen“, erwiderte ihre Mutter, deren blasses Gesicht plötzlich Farbe bekommen hatte. Julia stellte sich wie gewohnt an die Spüle. Zum Glück war es diesmal nur wenig Geschirr. Mit Grauen erinnerte sie sich an die Berge, die sie manchmal hatte abspülen müssen, als sie noch daheim gewohnt hatte.

„Ja, vielleicht weiß er es“, antwortete sie, um irgendetwas zu sagen. Auf diese Weise wurden Gespräche geführt, das hatte sie inzwischen gelernt, obwohl es ihr zunächst schwergefallen war. Ständig musste der Raum mit Wörtern gefüllt werden, auch wenn sie völlig überflüssig waren.

„Sein Vater ist ein wichtiger Mann“, plapperte die Mutter weiter, während Wasser in die Spüle lief. „Es heißt, er kennt Herrn Hitler persönlich und hat seine Partei lange finanziell unterstützt. Sag mal, Jule …“ Sie wandte sich ihrer Tochter zu. Ihr Gesicht bekam ein merkwürdiges Leuchten, das Julia ungesund schien. „Du gefällst ihm, das hast du doch begriffen, oder?“

„Ja.“ Julia senkte den Blick. Sie mochte die plötzliche Wendung dieses Gesprächs nicht. Die Küche fühlte sich plötzlich kalt und dunkel an wie ein Verlies.

„Hat er … also ganz unter uns …“ Die Mutter setzte sich auf den einzigen Hocker neben der Spüle, bevor sie fortfuhr. „Du bist nicht sehr geschickt im Umgang mit Männern“, erklärte sie nun etwas, das Julia schon lange gewusst hatte. „Das ist erstaunlich, denn viele Mädchen träumen von einem Gesicht und einem Körper wie deinem. Aber du siehst deine Vorteile nicht.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Vorteile sind.“

Ihre Mutter ignorierte diese Worte. Stattdessen legte sie ihre Hand auf Julias Arm und drückte ungewohnt fest zu.

„Wenn er versucht, dir zu nahe zu kommen, musst du ihn zunächst abweisen“, erklärte sie mit Nachdruck.

Julia schüttelte verwirrt den Kopf. „Aber ich brauche sein Geld für meine Ausbildung.“

Die Mutter murrte ungeduldig.

„Du kannst von ihm viel mehr bekommen als eine Ausbildung. Du musst es nur richtig anstellen, verstehst du? Ein Mädchen wie du, das passt zu einem reichen, mächtigen Mann. Du müsstest auch niemals wieder abspülen, kochen oder sauber machen.“

Diese Vorstellung gefiel Julia. Es klang wie ein wunderbarer Traum. Sie spürte, wie ihre Lippen ein Lächeln formten.

„Wenn du ihn lange genug hinhältst und ihm klarmachst, dass du für nichts anderes zu haben bist, wird er dich irgendwann heiraten. Da bin ich mir sicher“, sagte ihre Mutter entschieden.

Julia trat einen Schritt zurück. Plötzlich empfand sie Angst, als hätte sich ein Abgrund unter ihr aufgetan. Sie musste sehr, sehr vorsichtig sein, um nicht hineinzufallen.

„Ich will nicht seine Frau sein. Ich will Geige spielen!“, schrie sie laut und rannte aus der Küche, nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.

Sie wusste, dass sie sich wieder einmal unmöglich benahm. Aber es ging nicht anders, denn die Welt schien ihr so oft ein Ort, der kein anderes Verhalten möglich machte. Sie rannte hoch in das kleine Zimmer, das sie früher bewohnt hatte, sperrte die Tür hinter sich zu und warf sich aufs Bett.

Irgendwann würde jemand laut anklopfen und ihr Vorwürfe machen. Aber zum Glück war es noch nicht so weit.

„Jule! Jetzt mach endlich auf!“

Sie war erleichtert, Walthers Stimme zu hören. Anders als ihre Eltern hatte er niemals versucht, etwas aus ihr zu machen, das sie nicht war. Erfreut öffnete sie die Tür.

„Kaum bist du daheim, gibt es ein kleines Drama“, sagte er mit einem gutmütigen Grinsen und trat ein. „Du wirst es nicht glauben, aber irgendwie hat mir deine anstrengende Art sogar gefehlt.“

„Du hast mir auch gefehlt“, sagte Julia und spürte, dass es tatsächlich stimmte.

„Jedenfalls siehst du aus, als würde es dir gut gehen“, meinte Walther. Er setzte sich auf den Stuhl vor Julias Schreibtisch und streckte die Beine aus. Seit ihrem Fortgehen musste er etwas abgenommen haben, denn sein Gesicht wirkte hager. Ein paar Bartstoppeln wuchsen auf seinem Kinn. Er trug schlichte, leicht zerschlissene Kleidung, wie Julia auffiel. Früher war das normal für sie gewesen, doch inzwischen kannte sie Arthur und seine akkurat geschnittenen Anzüge.

„Ich kann endlich jeden Tag Geige spielen. Wie ich es immer wollte“, erzählte sie ihm. „Leider gibt es einen Professor, der mich nicht besonders mag und mir zusetzt.“

„Ach Jule!“ Walther stieß einen Seufzer aus. „Solche Menschen wirst du überall treffen. Du musst lernen, dir ein dickeres Fell zuzulegen. Sonst wirst du dich nur unnötig quälen. Leute, die einen nicht mögen und deshalb garstig sind, haben meistens ein Problem mit sich selbst.“

Das entsprach in etwa der Beschreibung, die David Grün von seinem Vater gegeben hatte. Julia wurde wohler zumute und sie spürte noch deutlicher, wie sehr der Bruder mit seiner nüchternen Bodenständigkeit ihr gefehlt hatte.

„Ich bemühe mich ja um das dickere Fell. Aber irgendwie will es mir einfach nicht wachsen“, sagte sie lachend.

Walther nickte nur. „Eigentlich bräuchtest du jemanden, der ein bisschen auf dich aufpasst. Aber ich habe Angst, dass du an den falschen Kerl gerätst.“

„Ach, da mach dir mal keine Sorgen“, erwiderte sie sogleich. „Ich habe nicht vor zu heiraten. Ich spiele lieber Geige, das weißt du doch.“

„Ich rede nicht übers Heiraten, Jule.“ Wieder hatte er geseufzt, diesmal tiefer. „Dieser Arthur Spengler finanziert dir deine Ausbildung nicht aus reiner Liebe zur Kunst. Das brauchst du mir nicht zu erzählen.“

Julia verkrampfte die Hände in ihrem Schoß. Walther hatte recht und eben das gefiel ihr nicht.

„Nein. Wahrscheinlich nicht. Aber ich brauche ihn. Wenn es nicht anders geht, muss ich eben Opfer bringen.“

Walther beugte sich vor. Seine Augen funkelten plötzlich, als brenne etwas in ihm. „Weißt du überhaupt, wie er wirklich ist? Wofür die Leute stehen, die sein Vater und er unterstützen?“

Julia schüttelte den Kopf. „Ich … ich habe keine Zeit, mich damit zu befassen. Sie unterstützen die politische Partei, die jetzt an der Macht ist. Leider schreit unser neuer Kanzler immer im Radio. Aber es gibt viele Männer, die schreien.“

„Vielleicht solltest du aber mal hinhören, was er schreit, anstatt dir nur deine empfindsamen Ohren zuzuhalten.“

Julia zuckte zusammen. Noch niemals hatte Walther so bissig mit ihr gesprochen.

„Ich sagte doch schon, ich habe keine Zeit, mich mit Politik zu befassen.“

„Diesen Luxus kannst du dir nicht mehr erlauben!“, rief Walther laut und sprang auf. „Politik betrifft uns alle, begreifst du das nicht? Wer unser Land regiert, bestimmt auch unser Leben.“

„Bitte, nicht so laut!“ Julia rieb sich die Schläfen. Hämmernde, disharmonische Geräusche verursachten ihr schnell Kopfschmerzen.

„Na gut. Dann leiser. Dieser Herr Hitler ist im Begriff, unser Land, das in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat, wieder rückwärts zu drängen. Er ist gegen die Gleichstellung der Frau, gegen Juden, gegen jedes liberale Denken. Wenn du weiter vor dich hinträumst, wachst du irgendwann im Mittelalter auf.“

„Ich will doch nur Geige spielen!“

Julia vergrub das Gesicht in den Händen.

„Aber es geht eben nicht immer nur um dich und deine Wünsche. Du bist nicht allein auf der Welt!“

Seltsamerweise war sie sich immer genauso vorgekommen. Jetzt noch mehr als bisher, denn sogar ihr geliebter Bruder stellte sich gegen sie.

„Was willst du denn von mir?“, fragte sie nach kurzem Überlegen. „Dass ich auf Arthur Spenglers Unterstützung verzichte und wieder nach Hause komme? Ändert sich dadurch etwas an der Entwicklung, von der du sprichst?“

Für einen Moment wusste er keine Antwort, was Julia noch mehr durcheinanderbrachte. Sie hatte Walther stets als Menschen erlebt, der im Gegensatz zu ihr einen klaren Blick für die Mechanismen des Lebens hatte.

„Ich will einfach nicht, dass du dich zu sehr mit ihm verbündest. Und mit den Ideen, für die er steht“, sagte ihr Bruder nach einer Weile des Nachdenkens. „Es würde dir nicht guttun, glaube mir. Du bist in deiner Egozentrik so unglaublich ahnungslos, dass man dich in Schutz nehmen muss.“

Damit mochte er recht haben. Julia zuckte mit den Schultern. „Ich will ihn nicht heiraten. Auf keinen Fall“, versprach sie. „Sobald ich meine Ausbildung an der Akademie abgeschlossen habe, will ich mich von ihm abwenden. Genügt dir das?“

„Na ja, meinetwegen. Ich will dir nicht im Weg stehen“, erwiderte Walther. Er streckte seine Hand aus und Julia griff danach. Ruckartig zog er sie auf die Beine.

„Und jetzt komm runter zum Abendessen, Schwesterherz. Es wird Zeit, dass wieder Frieden in unserem Haus einkehrt. Ich muss heute Abend noch mal weg und will nicht, dass unsere Eltern noch schlechter gelaunt sind als gewöhnlich.“

Julia trottete ihm brav hinterher.

„Wer sind eigentlich diese Leute, mit denen du dich jetzt immer triffst?“, fragte sie unterwegs.

Walther blieb kurz stehen und wandte sich um.

„Sie wollen ebenso wie ich gegen das neue Übel in unserem Land kämpfen. Uns steht eine harte Zeit bevor, aber wir geben nicht auf.“

Julia verstand nicht ganz, wovon er sprach, aber seine Entschlossenheit beeindruckte sie.

Der Abend verlief unerwartet harmonisch. Ihre Mutter griff das unerfreuliche Thema einer günstigen Heirat nicht mehr auf, sondern redete über ihre gegenwärtigen Pensionsgäste. Der Vater schwieg. Walther trug ab und an etwas zum Gespräch bei, um es am Laufen zu halten. Dadurch befreite er Julia von dieser Aufgabe, denn sie wollte lieber ihren eigenen Gedanken nachhängen. Um die etwas verkrampft wirkende Mutter zu vertrösten, bot sie sich freiwillig an, am nächsten Tag wieder in der Pension mitzuhelfen, was ihr einen dankbaren Blick von Walther einbrachte. Sie war froh, endlich etwas richtig gemacht zu haben. Die Sommerferien daheim würde sie schon irgendwie überstehen und dann ging es wieder nach Erfurt zurück. Wenigstens hätte sie hier eine Weile Ruhe von Arthur.

Unter dem Vorwand, früh schlafen gehen zu wollen, zog Julia sich auf ihr Zimmer zurück, um noch auf der Geige üben zu können. Wenn sie sich wieder in der Pension nützlich machte, hätte sie dazu nicht mehr so viel Gelegenheit wie gewünscht. Sie durfte keinesfalls schlechter werden, bevor sie sich wieder Professor Grüns gnadenlosem Urteil unterwerfen musste. Glücklicherweise lag das Schlafzimmer ihrer Eltern am anderen Ende des Ganges, daher würde ihre Musik nicht stören. Sie spielte noch etwa zwei Stunden, dann legte sie sich tatsächlich ins Bett. Es war ihr niemals schwergefallen, einzuschlafen und erst am Morgen aufzuwachen, daher staunte sie selbst, als ihre Augen sich noch bei völliger Dunkelheit wieder öffneten. Jemand klopfte laut gegen ihre Tür. Julia fuhr widerwillig auf. Im allerersten Moment fürchtete sie, Arthur wolle in ihr Zimmer eindringen. Dann wurde ihr klar, wie absurd das war.

„Jule, mach bitte kurz auf.“

So höflich klang Walther selten, wenn er mit ihr sprach.

„Ist irgendwas?“

„Ich brauche deine Hilfe.“

Kurz fühlte Julia sich geschmeichelt, denn gegenüber ihrem Bruder war sie sich immer schwach und unfähig vorgekommen. Sie öffnete schnell die Tür, musste dann mühsam einen Schrei unterdrücken.

Von Walthers Hemd waren noch ein paar Fetzen übrig, die an seiner Brust klebten. Jemand musste es heruntergerissen haben, um besser auf ihn einschlagen zu können. Sein linkes Auge war zugeschwollen, Blut quoll aus seiner Nase und er musste sich an ihrer Schulter abstützen, um aufrecht stehen zu können.

Die Welt wurde kurz dunkel, dann zuckten grelle Blitze durch die Finsternis. Julia fürchtete, in die Knie zu sinken. Sie wollte panisch schreien, wusste aber, dass sie es nicht durfte.

„Ich schaffe es nicht, mich allein zu waschen“, flüsterte ihr Bruder. „Unsere Eltern dürfen nichts merken. Bitte, Jule, stell jetzt keine Fragen.“

Er schwankte ein paar Schritte in Julias Zimmer und fiel auf ihr Bett. Die Matratze quietschte gequält.

„Du brauchst einen Arzt“, rief sie, doch er schüttelte den Kopf.

„Ich will keinen Ärger machen. Also hol mir bitte Wasser und ein paar Handtücher. Dann musst du mir helfen, in mein Zimmer zu kommen.“

Sie drehte ein paar sinnlose Runden vor dem Bett, um zur Ruhe zu kommen, dann erfüllte sie seinen Wunsch. Obwohl ihre Hände vor Aufregung zitterten, war sie wirklich in der Lage, das Blut mit zielgerichteten Bewegungen von seinem Körper zu waschen. Das zerrissene Hemd versprach sie so unauffällig wie möglich in die Mülltonne zu werfen. Dann stützte sie Walther und sie schwankten gemeinsam den Korridor entlang.

„Was ist denn in Gottes Namen passiert?“, flüsterte sie unterwegs. Seine Aufforderung, keine Fragen zu stellen, ging zu weit. Er war ihr eine Erklärung schuldig.

„Wir wurden von rechten Schlägern überfallen, denen unsere Versammlung nicht gefiel“, erwiderte Walther ohne Zögern. „Das kommt leider öfter vor, aber so schlimm hat es mich noch nie erwischt.“

„Warum gehst du dann dorthin?“

Walther antwortete nicht, verzog nur das Gesicht. Julia half ihm, sich auf sein Bett zu legen, und zog ihm die Schuhe aus.

„Mama wird morgen sehen, dass du verletzt bist“, meinte sie nur.

„Ich lasse mir etwas einfallen. Jungs prügeln sich manchmal, das weiß sogar unsere Mutter.“

Julia stand auf. „Eben dieses Verhalten habe ich an Jungs nie gemocht. Und du warst früher nie so.“

„Die Zeiten haben sich geändert, Schwesterherz. Den Luxus, sich herauszuhalten, kann man sich nicht mehr so einfach erlauben.“

Julia murrte unzufrieden. „Was bringt es irgendjemandem, wenn du dich verprügeln lässt?“

„Widerstand gegen Gewalt ist wichtig. Man kann nicht einfach nachgeben, sondern muss sich wehren.“

Sie presste die Lippen aufeinander. Ihre Kehle wurde eng. Warum war die Welt nur immer so kompliziert? „Vielleicht kann man auch einfach versuchen, sich herauszuhalten“, schlug sie vor. Sie wollte nie wieder Blut auf Walthers Körper sehen und ihr Leben in Frieden weiterführen.

„Mach weiter die Augen zu, wenn du möchtest, aber ich kann es nicht“, erwiderte er durchaus freundlich. „Und jetzt leg dich schlafen, ich komme schon zurecht.“

Er hustete und wischte Blut von seinem Mund. Jemand musste ihm einen Zahn ausgeschlagen haben. Julia hätte am liebsten geschrien, denn sie konnte diesen Anblick nicht ertragen.

„Bitte pass auf dich auf“, flüsterte sie, bevor sie sein Zimmer verließ. Kurz erwog sie, die Eltern zu wecken, damit ein Arzt gerufen wurde. Aber dann wäre Walther böse auf sie gewesen, und das wollte sie nicht. So schlich sie so leise wie möglich auf ihr Zimmer zurück. Tränen liefen über ihre Wangen, ihr Herz raste und sie verspürte Übelkeit.

Eine unklare, dunkle Bedrohung schwebte über ihrer Welt. Alles, was ihr als Trost blieb, war die Geige.

Das Mädchen aus Prag

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