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2. Kapitel Coburg, Oktober 1932
ОглавлениеJulia nahm das dämmerige Licht hinter ihrem Fenster wahr und schloss wieder die Augen. Wenn sie sich tiefer und tiefer ins Dunkel fallen ließ, kamen die Klänge zurück, um ihren Geist schweben und tanzen zu lassen. Sie hörte das Springen und Gleiten der Töne, die sich trotz all ihrer Eigenart in eine Harmonie fügten, eine Weile dahinrasten, dann wieder sanft glitten. In ihrer Welt gab es keine Unstimmigkeit, keine Leere, jeder Aufruhr erfüllte einen Zweck, da alles aufeinander abgestimmt war.
Als sie ihren Vater im unteren Stockwerk schreien hörte, steckte sie den Kopf unter ihr Kissen, damit die Musik nicht verstummte. Ihre Finger bewegten sich in der freien Luft, um die Saiten der imaginären Geige zu ertasten. Die andere Hand, die den Bogen halten sollte, ließ sie frei schweben. Sie war sich sicher, nun die richtigen Töne treffen zu können, wenn sie endlich eine Geige in der Hand hielt. Leider wurden auch die bösen, disharmonischen Geräusche immer lauter. Jemand schlug gegen ihre Zimmertür. Julia presste sich noch tiefer in die Matratze, konnte aber nicht verhindern, dass die Tür geöffnet wurde.
„Mensch, Jule! Du hast vergessen, die Tische für die Gäste zu decken. Vater ist völlig außer sich und macht Mutter nieder, weil sie nicht streng genug mit dir ist.“
Es war ihr Bruder Walther. Julia verspürte Erleichterung, aber auch Unbehagen, da er wieder einmal ihr die Schuld an einem Streit zwischen ihren Eltern gab. Seufzend kroch sie aus der Geborgenheit des Bettes.
„Wir haben doch im Moment kaum Gäste“, versuchte sie sich zu verteidigen. Am gestrigen Abend war der Speiseraum fast leer gewesen, bis auf einen alten Witwer, dessen Tochter in der Nähe wohnte. Er hatte sie besucht, aber der Aufenthalt war wohl unerfreulich verlaufen, wenn er sich freiwillig in eine Pension zurückzog. Julia hatte seine Trauer als grauen Schleier gespürt, der über ihm hing, konnte sich aber nicht an sein Gesicht erinnern. Er hatte auch kaum etwas gegessen, nur mehrere Gläser Bier getrunken.
„Spätabends traf noch eine Familie ein, die ziemlich reich scheint. Sie haben sogar ein Automobil, das ihnen unterwegs kaputtgegangen ist.“ Walther baute sich über ihr auf. „Nun mach schon, zieh dich an und geh nach unten, um zu helfen. Ich laufe inzwischen zur nächsten Werkstatt. Das habe ich versprochen.“
Julia gehorchte widerstrebend, wickelte sich in ihren Morgenmantel und ging ins Bad. Nach einer schnellen Wäsche zog sie ihr blaues Kleid an, denn darin mochte ihr Vater sie am liebsten. Sie flocht ihr Haar zu Zöpfen, lief die Stufen hinab und versuchte dabei, noch eine Weile die Melodien in ihren Ohren klingen zu lassen, um sich für die bevorstehende Konfrontation mit ihrem Vater zu wappnen.
Am Ende war es gar nicht so schlimm. Der Vater saß bereits am Tisch mit den neuen Gästen, um sie zu unterhalten. Der Witwer hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen, wohl in dem Bewusstsein, dass sich auch hier kaum jemand mehr um ihn scherte. Julia trug mit einem bemühten Lächeln ein Tablett mit Kaffee, Brötchen und Marmelade herein.
„Gleich kommen noch Eier und Käse“, begrüßte sie die Gäste. Sie nahm sich aber vor, zuerst dem Witwer sein Frühstück zu bringen.
„Meine Tochter Jule“, wurde sie von ihrem Vater vorgestellt. Fünf Gesichter wandten sich ihr zu, aber es war nur eines, das in ihr Bewusstsein drang. Ein junger, dunkelhaariger Mann starrte sie auf jene Weise an, die sie von den männlichen Gästen kannte, aber nicht mochte. Sie fühlte sich wie ein kostbarer Gegenstand bewundert, den zu besitzen erstrebenswert wäre. Julia presste ihre Lippen aufeinander, als sie ihm Kaffee einschenkte.
„Sie haben eine bemerkenswert hübsche Tochter, Herr Kronach.“
Es war nicht der junge Mann, der gesprochen hatte, sondern sein Vater. Den hatte Julia zunächst ganz sympathisch gefunden, da er grau und distinguiert aussah, doch nun, da sie spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen, wünschte sie ihn auf einen anderen Planeten. Warum ließen derart dumme Bemerkungen sie immer wieder rot anlaufen, obwohl sie sie schon oft genug gehört hatte? Das gewohnte, verhasste Gelächter erklang auch schon in ihren Ohren.
„Noch etwas schüchtern, die kleine Rose. Das legt sich sicher bald. So einer müssen die Burschen doch auf Schritt und Tritt hinterherlaufen.“
Julia stand noch eine Weile mit glühendem Kopf da, beschämt über diese Reaktion ihres Körpers, aber auch wütend auf jenen älteren Herrn, der sie ausgelöst hatte.
„Eine solche Frau ist zu schade für gewöhnliche Kerle und das weiß sie auch. Sie braucht einen tapferen, stolzen Mann, der sie schätzt und auf Händen trägt.“
Diese Worte hatte der junge Mann vorgetragen und das mit einem fast dramatischen Ernst. Julia spürte seinen bohrenden Blick.
„Mein Arthur hat manchmal sehr eigene Ansichten“, sagte sein Vater mit einem verlegenen Lachen. „Er liest wahrscheinlich zu viele Romane.“
„Das stimmt nicht“, erwiderte der junge Mann sofort. „Ich hasse dieses sentimentale Gewäsch, das in den meisten Büchern steht.“
Ein Moment betretenen Schweigens trat ein, den Julia für ihren Rückzug nutzte.
„Ich muss wieder in der Küche helfen.“
Als sie den Speisesaal verlassen hatte, atmete sie erleichtert auf. Bisher war die Aufmerksamkeit von Männern ihr einfach nur lästig gewesen, doch von diesem neuen Gast fühlte sie sich auf eine Art bedrängt, die ihr Angst machte, sie aber auch aufwühlte.
Am frühen Nachmittag konnte sie endlich zu Fräulein Rosenberg aufbrechen, da das Mittagessen serviert worden war und keine neuen Gäste eingetroffen waren. Sie verabschiedete sich rasch von ihrer Mutter und lief dann die Straße hinab zu jenem kleinen Haus mit bunt blühendem Garten. Toby, der flauschige Hund, bellte bereits, noch bevor sie den Türklopfer betätigt hatte. Es war eines der seltenen lauten Geräusche, die sie mochte.
„Komm herein, Jule.“ Fräulein Rosenbergs faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
„Ich habe geübt“, sagte Julia stolz, als sie das größte, sonnenbeschienene Zimmer in dem kleinen Haus betrat.
„Ich weiß, Kind. Aber ohne eigene Geige ist es schwer.“
Noch vor zwei Wochen hatte Julia eine Geige gehabt, ein billiges, gebraucht gekauftes Instrument, das einen Sturz auf den Boden nicht überlebt hatte. Es war ihre eigene Schuld gewesen, denn sie war mit der Geige in der Hand gestolpert, was sie sich immer noch nicht verziehen hatte.
„Ich kann auch ohne Geige üben“, erwiderte sie trotzig. „Ich sehe manchmal Dinge, die andere Menschen nicht wahrnehmen. Und wenn ich mir eine Geige vorstelle, dann ist es fast so, als könnte ich sie in den Händen halten.“
Niemandem außer ihrer alten Lehrerin hatte sie dies jemals gesagt, denn sie wollte nicht für närrisch gehalten werden. Aber Fräulein Rosenberg war vorsichtig in ihrem Urteil und legte nicht immer die gesellschaftlich vorgegebenen Maßstäbe an.
„Dann spiel mir jetzt vor“, sagte sie und hielt ihr das einzige Instrument entgegen, das sie besaß. Julia wusste, dass die alte Dame ihr schon längst eine Geige geschenkt hätte, wenn sie es sich hätte leisten können.
Sie spielte den Russischen Tanz aus Tschaikowskis Nussknacker, später eine Sonate von Schubert, denn das waren ihre derzeitigen Lieblingsstücke. Fräulein Rosenberg saß indessen auf ihrem Sofa, lauschte mit einer Kaffeetasse in der Hand und kraulte Toby zwischen den Ohren.
„Du bist sehr gut. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass du nicht einmal ein eigenes Instrument hast“, bemerkte sie schließlich. Julia wusste nicht, ob sie sich freuen oder besorgt sein sollte, denn für gewöhnlich hatte ihre Lehrerin stets ein paar Kritikpunkte vorzutragen, die ihr dabei helfen konnten, sich zu verbessern. Diese Worte enthielten ein klares Urteil, dem gleichzeitig etwas Endgültiges anhaftete. Sie erkannte einen hellgrauen Schleier aus Erschöpfung und Melancholie, der die alte Dame umgab.
„Es gibt nicht mehr viel, das ich dir noch beibringen könnte“, sagte sie und stellte ihre Kaffeetasse ab. „Mein Gehör wird langsam schwach und meine Augen lassen nach. Du gehörst jetzt auf ein Konservatorium.“
Julias Herz hüpfte vor Glück. Nichts wäre ihr lieber als ein Ort, wo sie sich von morgens bis abends der Musik widmen konnte, anstatt in der Küche über Kochtöpfen zu schwitzen und Gäste zu bedienen.
„Aber ich habe nur die Realschule abgeschlossen“, sagte sie leise und wartete auf das Urteil von Fräulein Rosenberg, die das allerdings wissen musste.
„Ich denke, bei deiner Begabung wäre das kein Hindernis. Ich könnte dir ein Empfehlungsschreiben mitgeben. In meiner Jugend gab ich manchmal Konzerte und vielleicht erinnert der eine oder andere Lehrer sich noch an mich. Das eigentliche Problem …“ Sie verstummte für einen Moment. Julia sah, wie der Schleier um sie herum ein wenig dunkler wurde. „Das eigentliche Problem ist eher finanzieller Natur. So eine Ausbildung ist nicht billig. Meinst du, deine Eltern könnten es zahlen?“
Julias Freude brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Wind.
„Sie könnten es vielleicht, wenn auch mit Schwierigkeiten“, meinte sie nach einigem Überlegen. „Die Pension läuft nicht schlecht und meine Mutter hat kürzlich etwas Geld geerbt, das auf der Bank liegt. Nur fürchte ich, dass …, dass sie es für Unsinn halten, mich auf irgendeine höhere Schule zu schicken.“
Bereits der Vorschlag ihrer Klassenlehrerin, dass Julia Kronach begabt genug für das Gymnasium wäre, war von ihrem Vater energisch zur Seite gefegt worden, nur hatte sie das weniger geschmerzt. Sie träumte nicht davon, Lehrerin oder Ärztin zu werden wie manche studierten Frauen. Zu der Zukunft, die sie wollte, gehörte nur eine Geige.
„Ich könnte versuchen, mit ihm zu reden“, schlug Fräulein Rosenberg vor. „Glaubst du, das nützt etwas, oder mache ich dadurch alles noch schlimmer?“
Julia dachte kurz nach. Die Reaktionen ihres Vaters waren schwer einzuschätzen. Nur darauf, dass sein Urteil vehement ausfallen und er keinen Widerspruch dulden würde, konnte man sich verlassen. Einerseits zog er gern über moderne Weiber in Hosen her, die ihren Platz in der Welt nicht kannten und Familienmännern die Arbeitsplätze wegnahmen. Andererseits wusste sie, dass ihr Vater durchaus Respekt vor studierten Leuten hatte, falls diese sich seinen Moralvorstellungen entsprechend benahmen. Fräulein Rosenberg in ihrem klassischen Kostüm und der dezenten Perlenkette war der Inbegriff dessen, was allgemein als Dame bezeichnet wurde. Julia konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater sie anders als mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln würde, doch bedeutete dies noch lange nicht, dass er auch auf sie hörte.
„Es wäre sehr nett, wenn Sie es versuchen würden“, sagte sie schließlich. „Immerhin hat er mir ein paar Jahre lang den Geigenunterricht bei Ihnen bezahlt.“
Dieser Gedanke gab Julia Hoffnung. Ihr Vater war stolz darauf gewesen, ihr eine Ausbildung finanzieren zu können, die zu einer Dame passte, was sich nur wenige seiner Freunde für ihre Kinder leisten konnten.
„Einen Teil der Kosten könnte vielleicht ich übernehmen“, bot Fräulein Rosenberg nun an. „Ich habe keine eigenen Kinder, denen ich etwas vererben könnte. Doch sind meine Ersparnisse nicht besonders groß und jetzt kann ich auch nicht mehr unterrichten … Es wird nicht ohne die Unterstützung deiner Eltern gehen, Julchen.“
Julia nickte, denn das wusste sie bereits. Sie war gerührt von der Hilfsbereitschaft ihrer Geigenlehrerin, konnte dies aber schwer in Worte kleiden, denn es fiel ihr selbst bei vertrauten Menschen nicht leicht, über ihre Empfindungen zu sprechen. Sie hoffte, dass Fräulein Rosenberg ihre Gefühle spürte, so wie sie selbst es bei anderen vermochte.
„Ich werde morgen mit deinem Vater reden“, beschloss die alte Dame und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. „Um welche Zeit wäre es denn günstig?“
„Am Nachmittag. So etwa um diese Uhrzeit.“
„Gut, dann werde ich kommen. Ich muss ihm auch mitteilen, dass der Unterricht diesen Monat endet, weil ich mich zur Ruhe setze. Und zum Abschied …“
Sie stand auf und ging ein paar Schritte auf Julia zu. Der graue Schleier war so hell geworden, dass Julia ihn kaum noch sehen konnte, doch bemerkte sie, wie langsam die alte Dame sich bewegte, als litte sie an Gliederschmerzen.
„Zum Abschied sollst du meine Geige bekommen, denn ich selbst brauche sie ja nun nicht mehr.“
Nun starrte Julia nur noch stumm, wusste nicht, ob dies ein Schlaftraum war oder einer jener Wachträume, die sie kannte, seit sie sich erinnern konnte.
„Bitte behalte sie, Julchen. Bei dir weiß ich wenigstens, dass du sie schätzen wirst und nicht gleich verkaufst, wenn du Geld brauchst.“
Julias Finger streichelten das glatte, warme Holz, das noch vom Spiel zu vibrieren schien. Sie befühlte die Härte der straff gespannten Saiten, die sich in ihre Fingerkuppen pressten, als wollten sie ein Teil ihres Körpers werden. Wärme erfüllte sie, tiefe Zärtlichkeit, als hielte sie ein atmendes Wesen im Arm.
„Ich danke Ihnen“, murmelte sie ehrfürchtig, denn nun war es einfach nicht möglich, stumm zu bleiben. Tränen der Freude füllten ihre Augen. Fast hatte sie Angst, mit diesem kostbaren, von Meisterhand gefertigten Instrument nach Hause zu gehen. Was war, wenn sie wieder stolperte?
„Nimm den Geigenkasten“, sagte Fräulein Rosenberg und bestätigte dadurch Julias Vermutung, dass sie Gefühle anderer Menschen spüren konnte.
„Ja, natürlich. Das ist sehr nett von Ihnen.“
Bevor sie weiter verzweifelt nach angemessenen Worten suchen konnte, um ihre Dankbarkeit auszudrücken, wurde sie von Fräulein Rosenberg und dem Hund Toby zur Ausgangstür begleitet.
„Ich werde Sie besuchen. So oft es geht“, versprach Julia schließlich zum Abschied. Sie bemerkte ein Leuchten in den klugen, braunen Augen ihrer Lehrerin und begriff, dass sie das Richtige gesagt hatte. Die alte Dame hatte ihr Leben hauptsächlich der Musik gewidmet und fürchtete nun einen einsamen Tod.
Auf dem Heimweg überlegte sie, wie oft sie noch nach Coburg käme, wenn sie irgendwann Violinkonzerte gab. Aber sie würde Mittel und Wege finden, ihr Versprechen zu halten, denn das war sie Fräulein Rosenberg schuldig. Nun mussten nur noch ihre Eltern überzeugt werden, ihr das Konservatorium zu bezahlen. Die Vorstellung, dass ihr Leben einen anderen Weg einschlagen könnte als diesen, verbannte Julia aus ihrem Denken.
Beim Abendessen war der Witwer verschwunden. Die Familie mit dem kaputten Automobil hingegen saß noch an ihrem Tisch, doch waren zum Glück andere Gäste eingetroffen, denen Julia das Essen servieren konnte. Den aufdringlich starrenden jungen Mann überließ sie ihrer Mutter, die auch lange fragend am Tisch stehen blieb, denn so wohlhabende Leute gab es selten in der Pension und sie hatten natürlich ein Recht, all ihre Wünsche sofort erfüllt zu bekommen. Zu ihrem Leidwesen wurde Julia noch in die nächste Konditorei geschickt, um der Gattin des Automobilbesitzers ein Stück Schokoladentorte zu besorgen. Die Frau bedankte sich allerdings so freundlich dafür, dass es Julia glücklich machte, zumal sie ein helles, angenehmes Strahlen an ihrer Person wahrnahm. Sie brachte den Rest ihrer Pflichten schnell hinter sich, damit sie auf ihrem Zimmer endlich wieder Geige spielen konnte. Als sie den Speisesaal verließ, spürte sie einen brennenden Blick in ihrem Rücken, doch war sie zu sehr mit freudigen Gedanken an ihre Geige beschäftigt, um weiter darüber nachzudenken.
Der nächste Vormittag bis zum verabredeten Treffen mit Fräulein Rosenberg schleppte sich quälend langsam dahin, und Julia war fast dankbar, dass die Pension weiterhin recht viele Gäste hatte, die für Arbeit sorgten. Zum weiteren Üben auf der Geige fehlte ihr nun die nötige innere Ruhe. Während sie das Mittagessen servierte, fiel ihr auf, dass Walther neben dem Tisch stand und sich angeregt mit dem Sohn des Automobilbesitzers unterhielt. Offenbar ging es um die technischen Feinheiten eben jenes Fahrzeugs, das weiterhin seinen Dienst versagte, aber von dem ihr Bruder außerordentlich angetan war. Sie musste innerlich grinsen, denn für gewöhnlich rümpfte Walther über jedes Zeichen von Luxus die Nase. Gleichzeitig fragte sie sich, warum diese Familie weiterhin in der Pension lebte, denn schon an ihrer Kleidung war zu erkennen, dass sie sich eine wesentlich teurere Unterkunft hätten leisten können.
Pünktlich um drei Uhr nachmittags klingelte es an der Tür. Julia, die gerade das Geschirr in der Küche abspülte, hätte um ein Haar einen Teller fallen lassen. Rasch wischte sie ihre Hände an der Schürze ab und eilte auf den Gang hinaus, wo ihre Mutter bereits die Eingangstür geöffnet hatte. Ein kurzer Wortwechsel fand statt, während Julia sich in den Speiseraum verzog, um nicht neugierig zu wirken. Sie hörte, wie ihre Mutter nach dem Vater rief, und vor Aufregung wurde ihr fast übel. Bald darauf schwang die Tür zum Speiseraum auf und sie erblickte die breite, bärtige Gestalt ihres Vaters, hinter der Fräulein Rosenberg fast verschwand.
„Was machst du hier, Jule? Hast du nichts zu tun?“, begrüßte er sie schroff. Sie murmelte eine Entschuldigung und huschte an ihm vorbei, um wieder in die Küche zu flüchten. Die war weiterhin leer; zum Glück, denn Julia hätte sich nicht in der Lage gefühlt, mit jemandem eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Sie sank auf einen Schemel in einer Ecke und presste die Hände fest zusammen. In diesem Moment wurde über ihr Schicksal entschieden und sie konnte nichts weiter tun, als zu warten. Es rauschte in ihren Ohren. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Als die Tür endlich aufging, zuckte sie zusammen.
„Wieso hockst du denn hier herum und träumst vor dich hin? Das Geschirr ist noch nicht sauber“, tadelte ihre Mutter eher resigniert als wirklich aufgebracht.
„Ich mache es ja gleich“, erwiderte Julia seufzend und stellte sich wieder an den Spültisch. „Ist der Besuch noch da?“
Sie war sich sicher, dass die Mutter hören musste, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte.
„Nein. Es war übrigens deine Geigenlehrerin, aber dein Vater hat nur kurz mit ihr gesprochen.“
„Und?“
Das Bierglas zitterte in Julias Händen. Sie musste es wieder ins Spülbecken legen, damit es ihr nicht entglitt.
„Was und?“ Die Mutter ergriff ein Handtuch, um abzutrocknen. „Es kann nichts besonders Wichtiges gewesen sein, denn er hat mir nichts gesagt. Wenn du es genau wissen willst, kannst du ja beim Abendessen fragen.“
„So lange kann ich nicht warten!“
Sie sah das missbilligende Staunen in den Augen ihrer Mutter und begriff, dass sie geschrien hatte.
„Es tut mir leid, aber ich muss dringend mit ihm reden“, fügte sie etwas ruhiger hinzu. „Wo ist er jetzt?“
„Er versucht gerade mit Walther in Zimmer drei einen Tisch zu reparieren. Aber du spülst gefälligst erst das Geschirr zu Ende.“
Julia fluchte mit zusammengepressten Zähnen, denn es türmten sich noch etliche Teller, Schüsseln und Töpfe vor ihr auf, aber sie ahnte, dass es klüger war, jetzt keinen Streit zu beginnen.
Ihr Vater lag mit einem Hammer in der Hand unter dem Tisch und brüllte seinen Sohn an, der ihm offenbar irgendeinen falschen Gegenstand gereicht hatte. Julia musste mühsam ihren Widerwillen gegen den Lärm überwinden. Eine Spannung lag in der Luft, deren grelles Licht in ihren Augen schmerzte, und unter anderen Umständen wäre sie auf der Stelle wieder verschwunden. Walther nahm den lauten Tadel recht gelassen hin und streckte einfach die Hand mit einem anderen Nagel aus.
„Es tut mir sehr leid, dass ich störe“, murmelte Julia. Es war der falsche Moment, das wusste sie, und blieb ratlos im Zimmer stehen.
„Hol uns doch ein Bier, Jule!“, rief Walther hilfsbereit. Sie atmete erleichtert auf, denn sie wusste, dass die Laune ihres Vaters sich dadurch schlagartig bessern konnte.
Als sie zurückkam, war der Tisch bereits stabil genug, um zwei Bierflaschen zu tragen. Ihr Vater wischte sich die Hände an der Hose ab und nahm einen tiefen Schluck. Walther tat es ihm gleich, wenn auch etwas zurückhaltender. Julia setzte sich auf einen Stuhl und legte die Hände in den Schoß.
„Was wollte Fräulein Rosenberg?“, fragte sie so beiläufig wie möglich.
„Nichts Besonderes. Dein Geigenunterricht hört auf, aber das macht ja nichts. Deine Geige war doch sowieso kaputt. Dann brauchst du jetzt keine neue.“
Dass sie gestern wieder hatte üben können, musste er entweder überhört oder vergessen haben.
„Hat sie … hat sie denn sonst nichts gesagt?“
Julias Stimme klang heiser und sie bemerkte den erstaunten Blick ihres Bruders. Den Vater kümmerte es nicht; er zog gelassen seine Zigaretten aus der Hosentasche.
„Nur irgendwelchen Unsinn, dass du auf so eine höhere Musikschule gehen solltest. Aber du bist keine Professorentochter, die später für die Gäste ihres Mannes musizieren soll. Wir brauchen dich hier, als Hilfe. Und dein späterer Mann wird ganz andere Wünsche haben, als dass du ihm auf der Geige vorspielst.“
Ein Wutschrei ballte sich in Julias Kehle zusammen und sie brauchte all ihre Willenskraft, um ihn zu unterdrücken.
„Aber ihr habt ihr doch bisher den Geigenunterricht bezahlt“, hörte sie Walther sagen.
„Ja klar.“ Der Vater wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab. „Das war eine Idee eurer Mutter. Sie meinte, es würde einen guten Eindruck auf unsere Gäste machen, wenn die Jule musizieren kann. Aber das kann sie doch inzwischen. Und vorspielen will sie ohnehin nicht.“
Julia musste schlucken. Ihre Schüchternheit wäre in der Tat ein Problem, wenn sie irgendwann Konzerte gab. Aber dort würde eine andere Atmosphäre herrschen als im Speiseraum der Gäste und sie hätte sicher nicht das Gefühl, wie ein Gegenstand gemustert zu werden, dessen äußere Reize wichtiger waren als alle Musik.
„Ich möchte Violinistin werden“, sagte sie. Walther warf ihr einen warnenden Blick zu, aber er kam zu spät. Der Vater hatte bereits fassungslos die Augen aufgerissen.
„Du möchtest … was?“
„Ich will Geigenkonzerte geben. In Konzertsälen. Davon möchte ich leben, also einen Mann bräuchte ich dann nicht. Fräulein Rosenberg hat auch keinen.“
Sie atmete tief durch. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie offen ausgesprochen, was ihr auf dem Herzen lag. Das schallende Gelächter, mit dem ihr Vater darauf antwortete, schmerzte mehr, als alle Schläge es vermocht hätten.
„Meine Güte, hat diese vereinsamte alte Jungfer dir solche Flausen in den Kopf gesetzt? Dann muss ich Gott dafür danken, dass der Unterricht endlich aufhört. Geh in die Küche und hilf deiner Mutter. Von der lernst du wenigstens etwas Nützliches.“
„Was lerne ich denn? Geschirr abspülen, Böden wischen und Essen kochen! Das nützt mir gar nichts, denn ich will …“
Sie spürte die Ohrfeige nur als einen Schwall von Energie, der sie rückwärts stieß. Ihr Körper war wie betäubt.
„Vater, das ist doch kein Grund für einen Streit“, mischte Walther sich wieder ein. „Wenn die alte Lehrerin aufhört, können wir eine neue für Jule finden. Lass sie doch Geige spielen, wenn sie unbedingt will.“
Der Vater rieb sich die Hände, leicht verlegen, wie oft nach seinen Wutausbrüchen.
„Vielleicht gibt es ja irgendwo eine Musikgruppe, bei der sie manchmal mitmachen kann“, sagte er an seinen Sohn gewandt. „Das wäre nicht so teuer.“
„Ich will in keiner Musikgruppe mitmachen“, rief Julia. „Ich brauche professionellen Unterricht, damit ich genug lerne, um Violinistin zu werden. Wenn du es mir nicht ermöglichst, dann machst du mein Leben kaputt. Und dafür werde ich dich hassen, bis ich sterbe!“
Sie fühlte sich auf einmal sehr stark und gleichzeitig leicht, als könnte sie über dem Boden schweben. Ruhig wartete sie auf weitere Schläge oder einfach nur böse Worte, die ihr Grund genug gegeben hätten, ihren Vater jetzt schon zu verabscheuen.
Der Vater starrte sie nur verwirrt an, als sei sie plötzlich zu einer Fremden geworden. „Verschwinde!“, sagte er schließlich.
Ihre Beine gehorchten und trugen sie in ihr Zimmer, wo sie sich schluchzend aufs Bett warf.
„Jule, du hast dich dumm benommen“, hörte sie ihren Bruder sagen und wälzte sich widerwillig auf den Rücken. Wenn sie nicht Violinistin werden konnte, war es ihr völlig egal, wie sie sich benahm.
„Ich hätte ihn dazu überreden können, eine neue Lehrerin für dich zu suchen“, fuhr Walther fort und setzte sich auf einen Stuhl. „Aber du hast ihn zum Äußersten getrieben und jetzt kannst du das vergessen.“
„Gut. Dann lass mich wieder allein“, sagte sie leise und schloss die Augen.
„Und dann springst du vor Verzweiflung aus dem Fenster?“
Hinter dem scherzhaften Tonfall erahnte sie echte Besorgnis, was sie überraschte.
„Was kümmert es dich? Euch ist doch allen egal, was aus mir wird.“
„Tatsächlich?“ Walther zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Denkst du eigentlich auch mal an jemand anderen als an dich selbst?“
„An wen soll ich denn denken? Niemand hier versteht mich. Vater hat nur diese dämliche Pension und die Gäste im Kopf, Mutter den Haushalt und das Essen und du … du hast deine Freunde und deine Politik.“
„Hast du dir schon mal überlegt, dass ich gern studiert hätte?“, fuhr Walther hartnäckig fort. „Um wirklich in die Politik zu gehen oder Journalist zu werden, damit ich etwas bewirken kann?“
Julia riss staunend die Augen auf. „Ich dachte, du hältst studierte Leute für hochnäsige, bourgeoise Wichtigtuer.“
„Du legst aber auch jedes Wort, das man einmal sagt, auf die Goldwaage“, erwiderte Walther lachend. „Es ist jedenfalls nie mein Lebenstraum gewesen, Möbel zu reparieren, Gästen ihre Koffer hochzutragen und reichen Schnöseln die nächste Werkstatt zu zeigen, selbst wenn ich ihr Auto nicht übel finde. Aber es ist eben diese dämliche Pension, wie du sie nennst, die uns alle ernährt. Nur wirft sie nicht genug ab, damit wir beide lernen können, was uns gefällt.“
Julia vergrub ihr Gesicht im Kissen. Warum fiel es ihr immer so schwer, die Dinge hinzunehmen und vernünftig zu sein wie Walther?
„Es ist doch einfach ungerecht!“, klagte sie. „Ich weiß, dass ich nichts besser kann und nichts anderes will, als Violine zu spielen. Ein kleines Zimmer und ab und an etwas zu essen, das würde mir bis an mein Lebensende reichen. Ich brauche kein Haus, keinen Mann und keine Kinder. Warum ist das zu viel verlangt?“
Nun wurde sie von Schluchzern regelrecht geschüttelt und krallte ihre Finger in das Kissen, wie um es vor Wut und Verzweiflung zu zerreißen.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, was sich da draußen in der Welt tut?“, hörte sie ihren Bruder unerbittlich weiterreden. „Es gibt immer mehr Menschen ohne Arbeit. Und die haben nicht einmal ein kleines Zimmer, was du so unglaublich bescheiden findest, und wissen nicht, was sie am nächsten Tag essen sollen. Die Rechten sind auf dem Vormarsch; man muss Angst haben, von ihnen zusammengeschlagen zu werden, wenn man offen gegen sie redet. So wie es aussieht, könnten sie die nächsten Wahlen gewinnen, und was unserem Land dann blüht, will ich jetzt noch gar nicht wissen. Aber das ist meiner reizenden Schwester egal, sie möchte einfach dasitzen und Geige spielen, während die Welt um sie herum vor die Hunde geht.“
Die letzten Worte waren wie harte, zornige Hammerschläge gefallen, was Julia erschreckte. Anders als ihr Vater verlor der Bruder nur selten die Beherrschung. Sie richtete sich auf und rieb ihre Augen trocken, um ihm ins Gesicht zu sehen. Obwohl sie allgemein als scheues, schüchternes Mädchen galt, wusste sie in einer Lage wie dieser zu antworten.
„Ich bin vielleicht einfach nicht so anmaßend wie du. Ich bilde mir nicht ein, dass die Welt darauf gewartet hat, von mir gerettet zu werden, und will nicht alle zwingen, so zu denken wie ich. Es wird so kommen, wie es eben kommt. Wenn ich dabei Geige spielen kann, bin ich zufrieden.“
Walther holte empört Luft und Julia ahnte, dass sie sich nun auf einen längeren politischen Vortrag einstellen musste. Als sie das Gebrüll ihres Vaters vernahm, der wieder einmal die Hilfe seines Sohnes brauchte, war sie fast erleichtert.
Leider war ihre Zeit der Ruhe knapp bemessen, denn bald schon wurde sie in die Küche gerufen, um ihrer Mutter beim Zubereiten des Abendessens zu helfen. Julia schnitt mürrisch das Gemüse klein und verletzte sich dabei am Finger. Im Hintergrund hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie ermahnte, dass sie sich bei ihrem Vater entschuldigen musste.
„Das werde ich tun, wenn er mich weiter Geige lernen lässt“, erwiderte sie hartnäckig.
Die Mutter seufzte. „Wer soll das denn bezahlen?“
„Du hast doch Geld geerbt, das jetzt auf der Bank liegt. Wenn du es mir für die Ausbildung leihst, zahle ich es dir später wieder zurück, wenn ich Konzerte gebe. Das verspreche ich.“
„Kind, das Geld werden wir vielleicht bald schon brauchen“, sagte die Mutter leise. „Die Wirtschaftslage ist schlecht, immer mehr Menschen verarmen. Dadurch haben wir auch weniger Gäste. Natürlich müssen wir hoffen, dass sich das demnächst wieder ändert, aber bis dahin ist es gut, Ersparnisse zu haben.“
„Aber ich …“
Julia verstummte, denn sie wusste, dass es nichts mehr zu sagen gab. Sie hatte verloren, würde niemals auf ein Konservatorium gehen und den Rest ihres Lebens damit zubringen, Essen für die Gäste der Pension zu kochen. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus ihren Augen, aber da sie gerade Zwiebeln geschnitten hatte, wurde es dadurch noch schlimmer. Verbissen schweigend trug sie die Suppenschüssel hinaus.
Trotz der Befürchtungen ihrer Mutter war der Speiseraum gut gefüllt. Julia kam wortlos ihren Pflichten nach, neigte manchmal den Kopf zum Gruß, beachtete die Gäste aber nicht weiter. Es war ihr stets schwergefallen, mit Fremden zu reden, und nun war sie kaum in der Lage zu einem Gespräch, da Tränen in ihrer Kehle steckten.
„Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein Kronach?“, hörte sie plötzlich eine fremde Männerstimme fragen und drehte sich um. Es war der Sohn des Automobilbesitzers, dessen Blick ihr weiterhin aufdringlich schien, obwohl er lächelte. Sie mochte selbst sein Lächeln nicht.
„Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur schlecht geschlafen“, murmelte sie, doch leider brachten eben diese Worte wieder ihre Tränen zum Fließen. Sie wischte sie rasch fort und eilte hinaus. Zum Glück würde es noch etwas dauern, bis sie das Geschirr wieder einsammeln musste, und ihre Mutter hatte sich bereit erklärt, das Hauptgericht allein aufzutragen. Julia flüchtete in eine kleine Abstellkammer dicht neben der Küche, wo sie eine Weile sich selbst überlassen sein konnte. Es brachte doch nichts, zu weinen und zu klagen! Ihr Bruder hatte recht, sie musste lernen, ihr Schicksal hinzunehmen, auch wenn es ihr schwerfiel. Vielleicht würde es ihr in ein paar Tagen besser gehen. Sie hatte immerhin noch die Geige von Fräulein Rosenberg, auf der sie allein üben konnte.
Es klopfte an der Tür. Vermutlich waren es ihre Eltern oder Walther, die sie zum Abendessen holen wollten. Sie fühlte sich nicht imstande, einen einzigen Bissen herunterzuwürgen.
„Ich komme gleich!“, rief sie mürrisch und öffnete. Dann trat sie verdattert einen Schritt zurück, stieß gegen ein Regal und musste sich an einer Kiste festhalten, um nicht zu fallen. Es war der Sohn des Automobilbesitzers, der in seinem teuren Anzug so gar nicht in diese schäbige Kammer passte.
„Bitte verzeihen Sie die Störung, Fräulein Kronach. Sie haben mich wohl nicht erwartet.“
Er machte ein verlegenes Gesicht, aber Julia spürte dennoch eine Mauer der Selbstsicherheit, die ihn beschützte. Ihr wurde unwohl.
„Das habe ich in der Tat nicht. Wie gesagt habe ich schlecht geschlafen und wollte mich hier einen Moment ausruhen.“
„Es tut mir sehr leid, dass ich Sie erschreckt habe“, erwiderte er sogleich. „Ich hatte nur den Eindruck, dass Sie gerade eben im Speiseraum etwas durcheinander waren, und wollte nach Ihnen sehen.“
Sie staunte, dass ein Fremder sich mehr um ihr Wohlergehen sorgte als ihre eigene Familie.
„Es ist schon in Ordnung“, log sie.
„Entschuldigen Sie bitte meine Dickköpfigkeit, aber ich glaube, das ist es nicht. Eine so zauberhafte junge Dame sollte nicht bedrückt durchs Leben gehen.“
Julia schnaubte, denn diese Worte stachelten nur ihren Zorn an.
„Das Schicksal schert sich nun einmal nicht um die Wünsche junger Damen, ob man sie nun zauberhaft findet oder nicht.“
Er zog beide Augenbrauen hoch. Ihr fiel auf, dass er ein durchaus attraktives Gesicht hatte mit breiten Wangenknochen, einem schmalen, pechschwarzen Schnurrbart und intelligenten Augen. Ein wenig erinnerte er sie an einen Schauspieler, den sie auf Filmplakaten gesehen hatte, und für den einige ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen geschwärmt hatten.
„Gestatten Sie mir zu widersprechen“, sagte er unbeirrt lächelnd und nahm auf der Kiste ihr gegenüber Platz. Sie war sicher staubig, dachte Julia. Er würde seine elegante Hose beschmutzen.
„Das Schicksal einer zauberhaften Frau kann einem Mann, der sich wirklich einen solchen nennen darf, nicht egal sein. Sie würden mir eine große Ehre erweisen, wenn Sie mir verraten könnten, was Sie derart unglücklich macht.“
Er redete merkwürdig, dachte sie. Fast, als wäre er tatsächlich die Gestalt in einem Film.
„Wissen Sie, Herr …“ Ihr Gesicht begann leicht zu glühen, als ihr einfiel, dass sie seinen Namen nicht wusste. Dies gehörte zu den vielen Dingen, die ihr Vater stets an ihr auszusetzen hatte: Die Gäste der Pension waren ihr einfach gleichgültig.
„Spengler ist mein Name“, kam er ihr zu Hilfe. „Aber es wäre mir eine Freude, wenn Sie mich einfach Arthur nennen würden.“
„Ja … natürlich“, stammelte sie. Ihn mit dem Vornamen anzureden, fühlte sich unnatürlich an, aber sie konnte schlecht ablehnen, ohne brüsk unhöflich zu sein. „Meine Sorgen sind sehr persönlicher Natur und würden einem Mann von Welt wie Ihnen sicher lächerlich erscheinen“, redete sie weiter und merkte, dass sie ebenso gespreizt zu klingen begann wie er. Fast, als hätte er sie mit einer Krankheit angesteckt.
„Sie tun mir unrecht, Fräulein Julia, wenn Sie mich für derart hochmütig und oberflächlich halten.“
Sie trat einen Schritt zurück und spürte das Regal im Rücken. Es war peinlich genug, dass er ihren Namen wusste, während sie den seinen hatte erfragen müssen. Nun ließ er ihr auch kaum eine andere Wahl, als ihn in ihre Sorgen einzuweihen. Wahrscheinlich würde er sie für weltfremd oder egoistisch halten, aber dann wäre sie ihn wenigstens los.
Doch Arthur Spengler lauschte aufmerksam, auch wenn seine Miene weiterhin undurchschaubar glatt blieb. Julia staunte, dass es durchaus wohltat, ihren Kummer einem Fremden anzuvertrauen, der sie nicht sofort unterbrach, auslachte oder ihr Vorwürfe machte.
„Ich bin erleichtert“, sagte Arthur Spengler nach einem kurzen Moment des Nachdenkens. „Ich hatte befürchtet, hinter Ihrer traurigen Miene könnte sich der gewöhnliche Kummer eines zurückgewiesenen, enttäuschten Mädchens verbergen. Aber ich hätte mir denken können, dass Sie nicht derart … ordinäre Dinge wie Liebesgetändel im Kopf haben.“
Julia schnappte nach Luft. Etwas an diesen Worten klang hochnäsig, aber gleichzeitig freute es sie, zur Abwechslung nicht als kalt oder unnatürlich betrachtet zu werden, weil sie kein Interesse an jungen Männern zeigte.
„Sie möchten also weiter im Spielen der Geige unterrichtet werden“, fuhr er unbeirrt fort. „Meine Schwester bekam bis letztes Jahr Klavierunterricht, doch fand sie nicht viel Gefallen daran und war froh, als sie es beenden durfte. Nun hätte mein Vater dieses Geld natürlich übrig.“
„Aber das … warum sollte er es denn ausgerechnet für mich ausgeben?“, fragte Julia fassungslos. Tief in ihr keimte Hoffnung auf, aber gleichzeitig spürte sie eine unklare Bedrohung in der Luft, die sie einatmete. Es gab etwas, das Männer erwarteten, wenn sie viel Geld für eine Frau ausgaben. Und Frauen, die sich auf solche Händel einließen, wurden dafür häufig verachtet. Sie wusste aber, dass sie jeden Preis zahlen würde, wenn sie dafür auf ein Konservatorium kam.
„Nun, lassen Sie mich nachdenken.“ Arthur Spengler war aufgestanden und überragte sie nun um eine Haupteslänge. Sie war stets eine kleine, zierliche Person gewesen, und sie fühlte sich ihm gegenüber auf unangenehme Weise verletzlich.
„Überlassen Sie alles mir, Fräulein Julia. Spielen Sie einfach morgen Abend etwas vor. Die Reparatur unseres Wagens gestaltet sich langwieriger als erwartet und ich konnte meinen Vater bereits überreden, in kein luxuriöses Hotel umzuziehen. Falls Sie es noch nicht begriffen haben: Das geschah allein Ihretwegen.“
Julia nickte stumm und spürte, wie ihr der Schweiß aus den Poren trat.
„Sie werden spielen, mein Vater wird davon angetan sein und dann werde ich ihn überreden, Ihre Ausbildung zur Musikerin zu unterstützen. Er gibt sich gern wohltätig, hat eine sentimentale Ader, verstehen Sie? Das können wir zu unserem Vorteil nutzen.“
Er hob die Hände, als wolle er sie umarmen, und Julia presste sich gegen das Holz des Regals. Er schien ihr Unbehagen zu spüren, entfernte sich ein wenig und gab ihr so wieder reine Luft zum Atmen.
„Was soll ich denn spielen?“, fragte Julia und wischte sich die Stirn mit dem Handrücken trocken.
„Ach … irgendwas Einfaches. Mein Vater besitzt eine Fabrik für Schienenfahrzeuge, von Kunst versteht er nicht viel, auch wenn er es ungern zugibt. Vielleicht eine volkstümliche Melodie, das würde ihm gefallen.“
Julia seufzte innerlich. Ihre Eltern hatten sie öfter aufgefordert, Schunkelmelodien für die Gäste zu spielen, aber darauf verstand sie sich nicht, denn sie liebte klassische Musik. Ihre Darbietungen waren stets zu steif ausgefallen.
„Und wenn er nicht mag, was ich spiele?“
Sie richtete ihren Blick Hilfe suchend auf Arthur. Jene Selbstgewissheit, die er ausstrahlte, schien ihr mit einem Mal anziehend.
„Es wird ihm gefallen, machen Sie sich keine Sorgen. Eine Frau wie Sie braucht nur einmal zu lächeln, um Männer zu verzaubern.“
Nun strich seine Hand über ihre Wange. Julia hielt den Atem an, presste ihren Hinterkopf gegen das Regal. Niemals hatte sie einem fremden Mann gestattet, sie derart zu berühren, aber nun hatte der Wille ihren widerstrebenden Körper im Griff. Sie durfte Arthur Spengler nicht verprellen.
„Haben Sie keine Angst, ich hege keinerlei unehrenhafte Absichten“, versicherte er, als er wieder von ihr abließ. Aus Gründen, die sie nicht hätte erklären können, empfand sie diese Worte als demütigend und war erleichtert, als er sich Richtung Tür bewegte.
„Und es gibt auch keinen Grund, dass Sie sich weiter Sorgen um Ihre Zukunft machen müssen“, sagte er zum Abschied. „Ich weiß ebenso gut wie Sie, was ich will. Und ich habe es bisher auch immer bekommen.“
Julia atmete tief durch, als sie wieder allein war. Ihre Hände zitterten. Ein neuer Einfluss versprach in ihr Leben zu dringen. Er schien ebenso stark wie unberechenbar, aber sie hatte keine Möglichkeit, sich ihm zu entziehen.
Zunächst einmal würde sie für eine friedliche Atmosphäre sorgen müssen, indem sie sich bei ihrem Vater entschuldigte.