Читать книгу Im Dienst der Gräfin - Tereza Vanek - Страница 11
5. Kapitel
ОглавлениеEmilia richtete sich auf und rieb ihre Augen. Durch die Butzenscheiben des Fensters drang ein spärlicher Lichtstrahl, sie tastete nach der Kerze, und dann fiel ihr ein, dass sie keinen Feuerstein hatte, um sie anzuzünden.
Wieder hörte sie das spitze, verzweifelte Klagen einer Frauenstimme, die Schmerz in die Welt herausschrie. Sie tastete im Dunkeln nach dem Kleid, und es gelang ihr, es rasch überzustreifen. Die Schuhe konnte sie nicht finden, schlich daher auf bloßen Füßen über die Dielen zur Tür. Die gepeinigte Frau heulte erneut auf, und plötzlich knallte auch von draußen etwas gegen die Hauswand.
„Ketzerweib!“, rief eine junge Männerstimme. „Hexe, du gehörst auf den Scheiterhaufen!“
Emilia stieß die Tür ihrer Kammer auf und tapste in den dunklen Gang.
„Was ist da draußen los?“, fragte sie in die Finsternis hinein. Eine Weile blieb es still, dann hörte sie das Knarren einer Tür, die ein Stück neben ihr aufging. Schritte trappelten, zwei weiche Arme umfingen sie. Im Dunkelgrau tauchten die Umrisse von Evas rundem, hübschem Gesicht auf.
„Reg dich nicht auf, und geh wieder schlafen. Die Gräfin bestraft gerade Annie, die deshalb ein großes Geplärr veranstaltet.“
Emilia zog das Mädchen zu einem Fenster, um etwas besser sehen zu können. Ein weiterer Schrei erschreckte sie, doch klang er nun kläglicher, schwächer, als hätte wütender Protest sich in Resignation verwandelt. Prompt knallte draußen wieder etwas gegen die Wand.
„Der Onkel von Annies Verlobtem ist Mönch im Augustinerkloster gegenüber“, erklärte Eva. „Der hetzt schon länger gegen die Gräfin, weil sie Lutheranerin ist. Die Mönche werfen daher Töpfe an die Mauer. Das haben sie schon öfter getan, höre einfach nicht hin.“
Emilia umschlang ihren Oberkörper mit den Armen, denn sie fror.
„Was geschieht mit Annie?“, stammelte sie.
„Prügel wahrscheinlich“, erwiderte Eva gleichmütig. „Sie hätte besser aufpassen sollen, was sie sagt.“
Oder schweigen, schoss es Emilia durch den Kopf. So, wie hier alle meist schwiegen.
„Aber sie hat doch nur gesagt, dass sie lieber einen Ehemann haben will, als einer feinen Dame zu dienen“, widersprach sie ratlos.
„Die Hertz schilderte es sicher schlimmer. Die Gräfin mochte Annie zunächst, da sie energisch und klug ist, und das missfiel der Hertz. Hüte dich vor ihr, das habe ich schon gesagt.“
Evas ernste Stimme rieselte sanft auf Emilia hinab wie ein leises Lied, das sie beruhigen sollte.
„Ein paar freche Worte, und sie wird gleich geprügelt?“, widersprach Emilia, denn sie kannte solches Verhalten nicht. Ihr Vater war niemals so hart mit Bediensteten umgegangen. Und Tante Irmi hätte Grete in dem Fall schon längst totschlagen müssen.
„Mein Vater schlug mich auch, wenn ich ihm widersprach“, entgegnete Eva. „Und in anderen Fürstenhäusern wird ebenso geprügelt. Nimm es hin, denn du kannst es nicht ändern. Mache deine Arbeit weiter gut, und sei vorsichtig, was du sagst. Und jetzt geh schlafen.“
Sie begann, sich zu entfernen. Emilia streckte zaghaft die Hände aus, denn in ihrem Inneren brodelte es, und sie hätte das Gespräch gern fortgesetzt, doch Eva entzog sich ihr.
„Es macht keinen guten Eindruck, wenn wir hier nachts herumstehen. Geh lieber in deine Kammer zurück“, flüsterte sie schnell, bevor sie hinter einer Tür verschwand. Emilia blieb dennoch eine Weile stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gegen die Butzenscheiben gelehnt. Sie spürte, dass sie zitterte, was nicht nur an der nächtlichen Frische lag. Die rasende Freude, in den Dienst der Gräfin aufgenommen worden zu sein, war einem dumpfen Gefühl des Unbehagens gewichen. Wollte sie wirklich die nächsten Monate, vielleicht Jahre ihres Lebens bei jedem Wort, das sie sprach, achtsam sein müssen? Aber vielleicht ließ sich dieses Problem lösen, indem sie sich mit Ilona Hertz anfreundete oder einen unanfechtbar sicheren Platz in der Gunst der Gräfin gewann. Warum sollte sie sich so schnell entmutigen lassen?
Annies Schreie waren zum Glück verstummt und begannen in ihrer Erinnerung bereits leiser zu werden. Sie tastete sich vorsichtig in ihre Kammer zurück, fand das Bett und war erleichtert, als sie unter der Decke nur noch Dunkel, Wärme und Stille wahrnahm.
Wieder schrie jemand, doch diesmal klang es nicht nach Schmerz, sondern nach blankem Entsetzen. Emilia sprang noch im Halbschlaf aus dem Bett. Draußen dämmerte bereits der Morgen, sodass sie keine Schwierigkeiten hatte, ihre Schuhe zu finden, noch bevor sie ihr Kleid wieder übergestreift hatte. Mit zerzaustem Haar und ohne Haube rannte sie nach draußen, wo die übrigen Mädchen bereits eine aufgebracht tuschelnde Traube geformt hatten. Worte in einer fremden Sprache flogen durch die Luft wie ein Schwarm verschreckter Vögel.
„Jemand muss die Gräfin wecken“, sagte plötzlich Yveta auf Deutsch. Auch sie trug keine Haube, stand gar noch in ihrem Leibchen da und hatte sich eine Decke über die Schultern geworfen. „Sie muss erfahren, was geschehen ist, am besten aber nicht von Ilona Hertz.“
Erwartungsvoll blickte sie in Emilias Richtung. Ein paar der Mädchen nickten zustimmend. Eva, die bereits vollständig bekleidet war, hielt sich im Hintergrund und sah schweigend zu Boden.
„Was ist denn überhaupt geschehen?“, fragte Emilia verwirrt. „Warum hat jemand geschrien?“
„Dorota!“, rief eine unbekannte Stimme in einem harten, fremd klingenden Deutsch. „Dorota hat gefunden Annie. Deshalb geschrien.“
„Aber wo ist Annie denn?“, sprudelte es mit unguter Ahnung aus Emilia heraus. Wieder fröstelte sie, obwohl jenseits der Mauern bereits ein heißer Sommertag aufzuziehen begann. Die Mädchen antworteten nicht, nur Yveta trat langsam vor und legte ihre Hand auf Emilias Arm.
„Komm!“, sagte sie nur und zog Emilia zu der Treppe, die ins untere Stockwerk führte. Es waren steile, schmale Stiegen, denn hier oben hausten nur gewöhnliche Dienstmägde. Unmittelbar darunter begann das herrschaftliche Haus, und an der Wand war von oben aus ein buntes Stück Tapisserie zu erkennen. Womöglich befand sich das Schlafgemach der Gräfin in diesem Stockwerk. Ein weicher Teppich zierte den Boden, auf dem Annie in ihrem grauen Gewand ruhte. Die Haube war ihr vom Kopf gerutscht und hatte sich rot verfärbt. Die Arme lagen reglos da wie zufällig hingeworfene Stöcke. Emilia hörte sich selbst leise aufschreien und eilte dann die Stufen hinunter, um Annies Gesicht bald schon aus der Nähe betrachten zu können. Die starr geradeaus blickenden Augen waren weit aufgerissen, die linke Wange geschwollen. Aus dem Hinterkopf floss ein dicker roter Strom, der weiter die Haube durchtränkte. Ihr Körper schien unversehrt, war vollständig bekleidet, als könnte sie jeden Augenblick aufstehen und weiter den Gang entlanglaufen, doch entdeckte Emilia an den Handgelenken rote, wunde Streifen, die auf eine Fesselung hinwiesen.
„Dorota hat sie gefunden“, hörte sie Yveta in ihrem Rücken sagen. „Sie stand früh auf, weil sie im Speisesaal kehren sollte, bevor das Morgenmahl aufgetragen wird. Dann sah sie Annie hier liegen und schrie.“
Emilia ging langsam in die Knie und entdeckte ein verschnürtes Bündel dicht neben dem reglosen Körper. Sie strich über Annies pausbäckiges Gesicht, streichelte sanft die wunde Wange und legte ihre Hand dann auf die Stelle, wo das Herz hätte schlagen sollen.
Annie würde ihren Verlobten nicht an Mariä Himmelfahrt heiraten und auch nicht später. Sie würde niemals wieder aufstehen, lachen und freche Bemerkungen machen. Die prächtige Tapisserie an der Wand begann zu verschwimmen und im Kreis zu tanzen, während Emilia für einen Augenblick in die Vergangenheit glitt, in jenes Elternhaus, das sich innerhalb weniger Tage in eine Herberge der Toten verwandelt hatte. Sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen und neben Annie liegen zu bleiben.
„Sie muss gestürzt sein“, vernahm sie plötzlich Evas Stimme. „Ich glaube, sie rutschte auf der Treppe aus.“
Emilia packte und schüttelte Annies Körper noch einmal in der verzweifelten Hoffnung auf eine Regung, einen schwachen Hauch von Leben. Als sie ihn anhob, bemerkte sie, dass auch der Stoff am Rücken Blutspuren aufwies, doch waren diese geradlinig wie die Folgen von Hieben.
„Sie ist geschlagen worden“, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
„Ja, das war ihre Strafe“, sagte Eva unbeirrt. Emilia ergriff mit zitternden, schweißnassen Händen das Bündel und zerrte daran, bis sie das dicke Leinen aufgerissen hatte. Weiße Unterröcke quollen ihr entgegen, eine spitzenverzierte Haube, und schließlich purzelte ein Holzschuh heraus. Wahrscheinlich hatte Annie in ihrer knapp bemessenen freien Zeit bereits an ihrem Hochzeitskleid gearbeitet, das sie nun niemals tragen würde.
„Jemand muss es der Gräfin sagen“, wiederholte Yveta kurz darauf. „Sie wird nicht begeistert sein. Bitte, Emilia, dich mag sie. Tue du es, denn du bekommst ihren Zorn nicht so schnell zu spüren.“
Zustimmendes Gemurmel erklang. Emilia stand langsam auf. Ihr ganzer Körper bebte, und sie spürte das Nass der Tränen, die ihr über die Wangen liefen, obwohl sie sich innerlich tot fühlte, als sei der Schmerz nicht wirklich Teil ihrer selbst.
„Es sieht aus, als hätte sie das Haus verlassen wollen. Deshalb hatte sie ein Bündel mit ihren Habseligkeiten dabei“, überlegte sie laut. In diesem Fall wäre Annie nur ein paar Treppenstiegen von ihrem erträumten Glück entfernt gestorben.
„Die Gräfin wird Nachforschungen anstellen, was wirklich geschehen ist“, meinte Eva. „Aber sie muss davon erfahren.“
„Vielleicht sollte Ilona Hertz mit der Gräfin reden“, überlegte Emilia laut, während sie sich mit dem Ärmel das Gesicht abwischte. „Wo ist die denn überhaupt?“
„Sie hockt zu Füßen ihrer Herrin, wie es sich für einen guten Schoßhund gehört“, rief plötzlich eine unbekannte Mädchenstimme aus dem oberen Stockwerk. Verhaltenes Gekicher erklang. Emilia verstand nicht, wie jemandem in dieser Lage nach Scherzen zumute sein konnte.
„Ich führe dich zu den beiden“, bot Eva sich an. „Aber bitte vergib mir, wenn ich nicht mit hineinkomme. Die Gräfin kann bei schlechten Nachrichten sehr unleidlich werden.“
„Ach ja, und mir gegenüber wird sie das nicht?“, entgegnete Emilia schnippisch, denn sie hatte das Gefühl, dass eine schwere Last hier allein ihr aufgebürdet werden sollte.
„Du bist hier in deiner Heimat“, erwiderte Yveta. „Zudem bist du keine Leibeigene und kannst dir eine andere Dienstherrin suchen.“
Ebendies hätte Annie auch gekonnt, fiel Emilia ein, doch war es ihr nicht gelungen, lebend dieses Haus zu verlassen.
Sie zögerte kurz, brachte Ordnung in ihre Gedanken. Vielleicht war es besser, gleich zu erfahren, wie Erzsébet Báthory mit einem solch tragischen Ereignis umging, denn sie hatte wirklich immer noch die Möglichkeit, auf die Mitfahrt nach Ungarn zu verzichten. Dort, so ahnte sie, wäre sie der ungarischen Gräfin gänzlich ausgeliefert, und daher sollte sie besser herausfinden, was von ihr zu halten war.
„Gut“, stimmte sie schließlich zu. „Ich werde mit der Gräfin reden.“
Die Mädchengesichter starrten sie nur stumm an, doch meinte sie, eine gewisse Erleichterung auf ihnen zu entdecken. Eva ging sogleich entschlossen los, und Emilia folgte. Es ging den Gang entlang, einmal um die Ecke, und schließlich blieben sie vor einer breiten Tür stehen.
„Dahinter ist das Schlafgemach der Gräfin“, sagte Eva. Emilia zögerte einen Moment, sah Eva an, und als die nichts tat, begann sie selbst, zaghaft zu klopfen.
„Lauter. Die Gräfin schläft“, sagte Eva. Emilia folgte der Anweisung, obwohl sie etwas verärgert war, dass Eva ihr kein bisschen helfen wollte. Mit der Faust schlug sie gegen die Tür.
„Euer Durchlaucht, vergebt mir, aber es ist etwas Schreckliches geschehen!“, rief sie und war stolz, wie fest ihre Stimme dabei klang.
Sobald die Tür sich knarrend zu öffnen begann, huschte Eva davon. Emilia holte Luft, erwartete Erzsébets strenges Gesicht und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als Ilona Hertz ihr entgegenblickte.
„Was gibt es?“, fragte die junge Dame.
„Annie ist tot“, erwiderte Emilia sogleich. „Es … es sieht wie ein Unfall aus.“
Ilona verzog leicht das Gesicht und verschwand für einen Augenblick. Emilia vernahm Getuschel in einer fremden Sprache. Sie war überrascht, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Fräulein Hertz Ungarisch reden konnte.
„Komm herein!“, erklang schließlich Erzsébets kühle Stimme, und die Tür wurde weiter geöffnet. Emilia betrat ein großes Zimmer, nahm mit Schnitzereien verzierte Möbel und ein Bett mit samtenem Baldachin wahr. Die Gräfin trug ein weißes Nachtgewand. In dem Licht, das von den Butzenscheiben gedämpft ins Zimmer drang, hatte ihr Haar die Farbe von Asche, doch hing es in sehr dichten, kräftigen Strähnen bis zu ihren Hüften hinab. Trotz aller unleugbaren Zeichen des Alters hatte diese Frau die grazile Gestalt einer Waldfee.
Emilia knickste.
„Euer Durchlaucht, die Mägde haben Annie unterhalb der Stufen gefunden. Sie regt sich nicht, ich fürchte, sie ist tot.“
Erzsébet sog laut Luft ein. Ihre Hände verkrampften sich ineinander, und ein paar Falten erschienen auf ihrer Stirn.
„Wie ist das geschehen?“, fragte sie völlig ruhig.
„Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es sieht so aus, als hätte sie das Haus verlassen wollen und sei dabei gestürzt“, erwiderte Emilia.
„Es sähe ihr ähnlich, sich so ungeschickt anzustellen“, mischte Ilona sich ein. Emilia warf ihr einen empörten Blick zu, den sie nicht beachtete. Die Gräfin ging nicht darauf ein.
„Ich muss einen Blick auf den Leichnam werfen“, sagte sie nur und ergriff einen samtenen Umhang, der neben dem Bett lag. Dann lief sie gemeinsam mit Emilia los.
Einige der Mädchen mussten bereits in ihren Kammern verschwunden sein, denn die Gruppe um Annie war kleiner geworden. Beim Eintreffen der Gräfin wichen auch die Verbliebenen schweigend zurück. Erzsébet beugte sich über Annies Körper, befühlte die Kehle und den Puls. Ein Stück hinter ihr stand Ilona, die unaufgefordert mitgekommen war. Auch sie trug ein spitzenverziertes Nachthemd, das teuer gewesen sein musste, und hatte sich einen gehäkelten Schal um die Schultern geschwungen. Emilia begann sich für einen Moment zu fragen, weshalb die Sängerin im Schlafgemach der Gräfin gewesen war, doch wurde ihre Aufmerksamkeit bald wieder von wichtigeren Dingen in Anspruch genommen.
„Mein verstorbener Gemahl sagte mir, dass man Ohnmächtigen brennendes Papier zwischen die Zehen stecken soll, und dann würden sie wieder zu sich kommen. So machten sie es im Heereslager“, erklärte Erzsébet. „In einigen Fällen hatte ich damit Erfolg, aber ich fürchte, jetzt hat es keinen Sinn. Dieses Mädchen ist mit Sicherheit tot.“
Sie rieb ihre Hände, die blutverschmiert waren, da sie Annies Kopf berührt hatte.
„Weckt die Wachleute, damit sie den Leichnam der Familie überbringen“, fuhr sie fort. „Die lebt nicht weit weg von hier. Wahrscheinlich wollte Annie sich unerlaubt entfernen, um zu ihnen zu gehen.“
„Ihr hattet sie bestraft?“, wagte Emilia zu fragen. Erzsébet musterte sie überrascht, aber nicht zornig.
„Ja, denn sie war frech gewesen. Aber ich hatte ihr die Erlaubnis erteilt, meine Dienste Ende dieser Woche zu verlassen. Sie wollte früher gehen, und das wurde ihr zum Verhängnis.“
Die Gräfin richtete sich auf. Etwas an der Art, wie sie sprach und sich bewegte, machte stets deutlich, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens zu den Leuten gehört hatte, die anderen Befehle erteilen konnten.
„Sobald der Leichnam fortgeschafft wurde, könnt ihr euch zum Morgenmahl fertig machen. Wir werden beim gemeinsamen Gebet Annies gedenken und Gott den Herrn bitten, ihre Seele gnädig aufzunehmen. Später im Laufe des Tages werde ich noch eine Nachricht an ihre Familie schicken, um alles zu klären, und natürlich eine entsprechende Entschädigung hinzufügen.“
Die Mädchen schwiegen weiter, und ihre Gesichter verrieten keinerlei Gefühlsregung.
„Ihr wollt der Familie Geld schicken?“, meldete Emilia sich nochmals zu Wort. Sie hatte nicht vorwurfsvoll klingen wollen, doch ahnte sie, dass ihre Worte trotzdem eine solche Wirkung erzielen konnten. Evas Augen wurden etwas größer.
„Ja, das werde ich“, entgegnete Erzsébet völlig gelassen. „Und es ist großzügig von mir, denn das Mädchen starb durch eigene Ungeschicklichkeit, nicht durch mein Verschulden. Es war wahrscheinlich noch dunkel, als sie die Stufen hinunterging, gegen meinen ausdrücklichen Befehl, bis Ende der Woche im Haus zu bleiben. Angesichts der tragischen Umstände sehe ich aber über ihren Ungehorsam hinweg.“
Sie entfernte sich mit raschen Schritten, und Ilona eilte wie ein treues Hündchen hinterher. Sobald sie um die Ecke gebogen waren, setzte wieder Getuschel ein, doch blieb es recht leise. Die Mädchen begannen, wieder die Stiegen hochzugehen.
„Ich werde der Wache Bescheid geben, sobald ich angekleidet bin“, sagte Yveta und winkte Emilia dann, ihr nach oben zu folgen.
„Ist die Sache denn damit erledigt?“, fragte Emilia, deren Knie sich immer noch anfühlten wie aus Butter geformt. Sie wusste, dass Annies ins Leere starrende Augen und der Anblick ihrer von Schlägen geschwollenen Wange in einem toten Gesicht sie noch lange Zeit verfolgen würden.
„Was sollte denn noch getan werden?“, fragte Eva. „Die Gräfin trug es mit Fassung. Wir werden für Annie beten, und ihre Familie erhält eine Entschädigung.“
„Ich glaube, Annie wollte das Haus verlassen, weil sie wütend über die Prügel war“, warf Emilia ein. Yveta, die bereits im oberen Stockwerk stand, beugte sich kurz, um sie anzusehen.
„Annie war noch nicht lang genug im Dienst der Gräfin, um aufzupassen, was sie sagte. Das solltest auch du lernen, wenn du uns nach Ungarn begleiten willst. In Csejte geht es noch strenger zu.“
„Aber warum?“, fragte Emilia.
„Weil wir dort alle Leibeigene sind. Und die Frauen, die in Csejte das Sagen haben, also die Haushälterinnen des Schlosses, überwachen uns ständig. Sie prügeln gern, glaub mir.“
Zustimmendes Gemurmel erklang.
„In Wien ist es besser für uns“, erklärte Eva und hakte sich bei Emilia ein. „Bevor die Hertz kam, da war es sogar richtig schön hier, aber auch mit ihr geht es noch. Aber wir sind alle froh, dass du mit uns nach Ungarn kommen willst, denn die Gräfin schätzt dich, und du behandelst uns gut, wenn wir für dich arbeiten.“
Sie schob Emilia die Stiegen hoch und schien sie dabei fast gewaltsam festzuhalten.
Zwei Tage später begann die Abreise. Vorher war Emilia von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht damit beschäftigt gewesen, Kleidungsstücke und Schmuck in Kisten zu verstauen. Zudem wurden auch ein paar kleine Möbelstücke, Vasen und Statuen in Tücher gewickelt, damit sie während der Reise keinen Schaden nahmen. Beim Verladen auf Karren packten die Heiducken mit an, während die Mädchen noch das Haus fegten und Staub wischten, bevor die verbleibenden Möbel mit großen Tüchern abgedeckt wurden. Ein älterer Herr mit ungarischem Namen, der Anführer der Heiducken, sollte als Verwalter zurückbleiben, außerdem das Küchenpersonal, das nun auch für die Ordnung im ganzen Haus zuständig wäre. Emilia erfuhr überrascht, dass ihr das Privileg zustehen sollte, gemeinsam mit Ilona in der Kutsche der Gräfin zu sitzen, während die übrigen Mädchen auf einem offenen Karren reisen würden. Niemand außer ihr selbst staunte über diese Entscheidung, die von Erzsébet beim Frühstück verkündet wurde. Ilona lächelte ihr daraufhin mit zuckersüßer Miene ins Gesicht und beteuerte, wie sehr sie sich über die unerwartete Gesellschaft freute, doch Emilia vermeinte ein zorniges Blitzen in den Augen der Dame zu erkennen. Sobald das Geschirr abgetragen worden war, mussten die letzten Gepäckstücke verladen werden. Emilia trat mit einem Bündel Kleidung aus dem Haus, sah etliche Bedienstete aufgeregt herumhuschen und wollte sich einen Weg durch die Menge bahnen, als jemand plötzlich ihren Ärmel packte.
„Emmy!“
Vor Schreck ließ sie beinahe ihr Bündel fallen. Kurt stand unmittelbar neben ihr. Er stank nicht mehr nach Wein, doch war sein Hemd von großen, hässlichen Flecken bedeckt, und ein dichter Bart wucherte auf der unteren Hälfte seines Gesichts. Unter den verquollenen Augen lagen tiefe Schatten, die ihn ungewohnt alt wirken ließen.
„Was willst du?“, fuhr Emilia ihn an, denn sein Auftauchen schien ihr höchst unangebracht.
„Mit dir reden, was sonst?“ Er trat von einem Fuß auf den anderen. In dem Gedränge fiel ihre Unterhaltung kaum auf, nur wurden sie immer wieder angerempelt. Emilia trat so unauffällig wie möglich an die Hauswand, wohin Kurt ihr folgte.
„Es war falsch, wie ich mich dir gegenüber benommen habe“, begann er ohne Zögern. „Ich war völlig betrunken, und ehrlich gesagt …“
Er hob ratlos die Hände.
„Gewöhnlich mögen mich die Frauen. So eine wie du ist mir noch nicht untergekommen.“
„Ich bedauere, dass ich so eine Enttäuschung für dich war“, erwiderte Emilia schnippisch. „Da ist es doch gut, wenn unsere Wege sich jetzt trennen.“
Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, aber er hielt ihren Arm fest.
„Bitte, Emmy, geh nicht mit dieser Gräfin Báthory!“
„Und warum nicht? Weil ich dort eine Zukunft haben könnte, die du mir niemals bieten kannst?“
Kurt schubste sie mit einem wütenden Stoß an die Mauer zurück.
„Weil es Gerede über sie gibt. Es heißt, sie sei grausam. Unberechenbar. Wie eine Hexe.“
Emilia lachte spöttisch auf.
„Das ist dummes Gerede! Was soll ich darauf geben? Ich bin die ganze Zeit gut mit ihr zurechtgekommen.“
Mit diesem Wissen bekämpfte sie alles Unbehagen, das Kurts Worte trotz allem in ihr geweckt hatten. Annies Tod hing immer noch wie eine dunkle Wolke über diesem prächtigen Haus und raubte ihm etwas an Glanz. Aber ein tragischer Unfall konnte überall geschehen.
„Komm wieder mit mir, Emmy“, drängte Kurt nun mit einem von Trauer umflorten Blick, der sie entfernt an einen bettelnden Hund erinnerte. „Ich werde mich besser benehmen, das verspreche ich dir. Es lief doch nicht schlecht mit uns beiden. Ich habe schon wieder ein paar gebrauchte Gewänder in Aussicht, aus denen du sicher etwas zaubern kannst.“
Die Worte glitten sanft in ihre Ohren und weckten die Sehnsucht nach einem sicheren, vertrauten Ort, den sie in der Nähe erahnte. Sie hatte in Kurts Gegenwart niemals wirkliche Furcht empfunden, selbst in der Nacht, als er sich auf sie hatte stürzen wollen, war Empörung ihr stärkstes Gefühl gewesen, denn sie hatte gewusst, dass er im Grunde ein gutmütiger Kerl war, der niemandem echtes Leid zufügen würde. Das Leben im Dienst der Gräfin hingegen glich einem Weg über spiegelglatt gefrorenen Boden, bei dem sie stets achtgeben musste, nicht auszurutschen oder in eisig kaltes Wasser zu fallen, weil sich unerwartet ein Loch unter ihr aufgetan hatte.
Sie hob ihren Kopf und sah in Kurts Gesicht. Er war in der Tat kein schlecht aussehender Mann, sobald er sich wieder rasiert hätte. Das Schankmädchen in der Herberge hatte recht gehabt, das Schicksal konnte einer Frau einen weitaus übleren Gefährten zuspielen. Gleichzeitig erwachte die Neugier, welche Gewänder er inzwischen wieder aufgetrieben hatte.
„Komm, Emmy“, drängte Kurt, als könne er ihren allmählichen Sinneswandel spüren. „Wir gehen einfach. Sie kann dich nicht gewaltsam zurückhalten.“
Das konnte die Gräfin in der Tat nicht, doch wäre dann jede Rückkehr unmöglich, denn Emilia hatte inzwischen begriffen, dass Erzsébet nicht zu jenen Menschen gehörte, die leicht vergaben. Während sie sich noch für ein paar Atemzüge an die Mauer lehnte, zog ein Leben an Kurts Seite vor ihr vorbei wie die Bilder, die Bänkelsänger hochhielten, um ihre Geschichten damit zu untermalen. Sie würde ihn nicht endlos abwehren können, denn es war der Lauf der Welt, dass eine Frau bei dem Mann lag, zu dem sie gehörte. Kinder würden folgen, die sie auf klappernden Wagen und in schäbigen Herbergen aufziehen würde. All ihre Mühen, sich durch Fleiß ein besseres Leben erkämpfen zu können, wären vergeblich, wenn Kurt alle überschüssigen Einnahmen sofort versoff oder Dirnen in den Rachen stopfte. Und die Gefährtin eines Hausierers käme für einen anständigen Bürger niemals als mögliche Braut infrage. Sicher, es gab schlimmere Leben als dieses. Aber sie hatte ein anderes gewollt. Die weiche, mit Leder bezogene Bank in der Kutsche der Gräfin stieg in ihrer Erinnerung hoch. Neben Ilona war nur ihr das Privileg zuteilgeworden, darauf sitzen zu dürfen.
„Es tut mir leid“, sagte sie. „Aber meine Entscheidung ist gefallen. Wenn du wieder nach Augsburg kommst, dann erzähle bitte meinem Onkel, wohin ich gefahren bin und dass ich mich bei ihm melden werde, sobald es möglich ist.“
Sie lächelte Kurt zum Abschied kurz an und setzte sich in Bewegung. Wieder krallten seine Finger sich um ihren Ellbogen, doch diesmal fiel es einem der Heiducken auf, der sich sogleich mit grimmiger Miene vor den heruntergekommenen Hausierer stellte. Kurt schlug die Augen nieder und trat ein paar Schritte zur Seite. Als er in der Menschenmenge verschwand, überkam Emilia ein Anflug von Trauer, doch wurde sie rasch abgelenkt, als Erzsébet nach ihr rief.
Die Mittagssonne stand schon hoch am Himmel, als einer der Heiducken in eine Trompete blies, um zur Abreise aufzurufen. Die Mädchen sprangen rasch in ihren Karren, Kutscher trieben die Pferde mit Schnalzlauten an, und Emilia nahm gegenüber der Gräfin Platz, unmittelbar neben Ilona Hertz. Erzsébet saß aufrecht da, hatte ein Buch in den Schoß gelegt und faltete ein Schreiben auseinander, das ihr kurz vor der Abreise übergeben worden war. Ihre Lektüre malte ein paar Falten auf ihre Stirn, und ihre Lippen formten unverständliche Worte.
„Es wird wirklich Zeit, nach Ungarn zurückzukehren“, teilte sie schließlich niemand Bestimmtem mit. „Schon wieder hat jemand versucht, mir ein paar Ländereien zu entreißen. Graf Thurzó, der als neuer Palatin den Habsburger König in Ungarn vertritt, ist ein Versager. Er vermag nicht für Ordnung zu sorgen.“
„Ich bin mir sicher, dass Ihr alles bald wieder zum Besten regeln werdet“, erklang nun Ilonas Stimme. Erzsébet erwiderte nichts, sondern begann, durch das Fenster zu betrachten, wie die Gebäude Wiens an ihnen vorbeizogen. Emilia tat es ihr gleich. Bald schon würde sie sich an Orten aufhalten, wo fremde Sprachen gesprochen würden, was Wien zu einem letzten Stück Heimat für sie machte. Nun nahm sie leise Abschied.
Sie hatten schon den Roten Turm erreicht, hinter dem ein großes Stadttor den Weg nach Osten freigab, da erklang plötzlich ein heftiger Knall an der Tür der Kutsche. Emilia spürte, wie Ilona neben ihr zusammenzuckte. Die Gräfin hingegen blieb völlig ruhig, runzelte nur leicht die Stirn.
„Da ist etwas gegen die Wand geflogen, kein Grund zur Aufregung“, sagte sie. „Aber warum fahren wir nicht weiter?“
Erst da fiel Emilia auf, dass die Kutsche tatsächlich stehen geblieben war. Die Gräfin stieß einen ungeduldigen Seufzer aus, tappte mit einem Fuß gegen den Boden und wandte sich dann zum Fenster, wohl um dem Kutscher etwas zuzurufen. Genau in diesem Moment prallte eine dunkle Form gegen die Scheibe, ein Klirren erklang, es regnete Scherben, und ein Stein landete zu ihrer aller Füßen. Ilona stieß einen spitzen Schrei aus, auch Emilia fuhr diesmal erschrocken zusammen. Erzsébet war rechtzeitig zurückgewichen und daher unversehrt, doch schien ihr Gesichtsausdruck noch starrer als gewöhnlich.
„Eine von euch sehe nach, was da draußen los ist“, wies sie ihre zwei Begleiterinnen an. Emilia nahm Ilonas Bewegung an ihrer Seite wahr, kam ihr aber, von schlichter Neugier angetrieben, zuvor. Sicherheitshalber öffnete sie die Tür nur einen Spaltbreit, denn ihr Gesicht wollte sie am Fenster nicht zeigen. Eine Gruppe junger Männer hatte die Kutsche umstellt. Zwar waren sie unbewaffnet, standen jedoch breitbeinig da wie eine Felsformation, die sich nicht so leicht entfernen lassen würde. Da sie die Kleidung einfacher, harmloser Bürger trugen und die Heiducken zudem hinter der Kutsche herritten, waren sie nicht gleich abgewehrt worden. Aber was wollten sie denn nun von der Gräfin?
„Mörderin!“, rief einer von ihnen. „Vermaledeites Teufelsweib!“
Ein Gesicht tauchte dicht vor dem zerstörten Fenster auf. Es war blass, von einem blonden Bartflaum bedeckt und sehr, sehr zornig.
„In der Hölle wirst du schmoren, wie du es verdienst!“, rief der Jüngling und spuckte aus. Emilia duckte sich vorsichtshalber, obwohl sie keine echte Furcht empfand, denn der Angreifer schien ihr nur hilflos in seinem Zorn, der ihm Tränen in die Augen getrieben hatte. Gleich würden die Heiducken eingreifen, dachte sie, doch Erzsébet kam ihnen zuvor, indem sie mit einem energischen Ruck die Tür aufstieß. Der Jüngling geriet dadurch ins Straucheln, stolperte ein paar Schritte rückwärts, fand dann aber sein Gleichgewicht wieder. Erzsébet stand nun unmittelbar vor ihm, aufrecht wie eine Säule.
„Wenn du mich für eine Mörderin hältst, so erhebe Anklage“, sprach sie laut. „Du hast kein Recht, meine Kutsche zu beschädigen und meine Abreise zu verzögern.“
Sie hob ihre rechte Hand und schlug ihm ins Gesicht. Für eine schmächtige Frau schien sie über viel Kraft zu verfügen, denn der Jüngling schwankte nochmals rückwärts. Die Gräfin rief ein paar Worte auf Ungarisch, wodurch sie ihre Heiducken endlich herbeizauberte. Angesichts all der bewaffneten Männer lief der Angreifer davon, gefolgt von seinen Begleitern, die ihm ohnehin keine besondere Hilfe gewesen waren.
„Ich glaube, das war Annies Verlobter“, flüsterte Emilia Ilona zu, da es sonst niemanden gab, dem sie diesen Gedanken hätte mitteilen können. Die junge Dame nickte stumm. Sie sah blass und mitgenommen aus, als hätte sie um ihr Leben gefürchtet.
Im nächsten Moment hatte Erzsébet die Kutsche wieder bestiegen und rieb ihre Hand, die den Handwerker geohrfeigt hatte, mit einem kleinen Tuch, wie um sie von Schmutz zu befreien.
„Er hätte für diese Frechheit eine Tracht Prügel oder gar den Strang verdient“, sagte sie nur. „Aber dazu haben wir nun nicht die Zeit. Also lasst uns endlich durch das Tor fahren. Sobald wir in Csejte sind, werde ich das Fenster richten lassen.“
Als hätte der Kutscher ihre Worte hören können, setzte das Gefährt sich wieder in Bewegung. Emilia merkte, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte. Die Wut, der Schmerz und die Hilflosigkeit im Gesicht des jungen Mannes würden sich in ihr Gedächtnis brennen, ebenso wie es der Anblick der toten Annie getan hatte. Aber der Drang, noch schnell aus der Kutsche zu springen, bevor sie Wien verlassen hatte, schien ihr übertrieben, und deshalb zwängte sie ihn nieder.