Читать книгу Im Dienst der Gräfin - Tereza Vanek - Страница 7
1. Kapitel
Оглавление„Gib es mir, ich kann das flicken!“, rief Emilia hoffnungsvoll, als sie sah, wie Tante Irmgard eine schon mehrfach zerrissene Bluse den Flammen des Herdfeuers überlassen wollte. Als der verärgerte Blick ihrer Tante sie streifte, machte sie sich etwas kleiner, denn sobald die Hausherrin genug Gewürzwein getrunken hatte, warf sie gerne mal mit schwereren Gegenständen als Kleidungsstücken um sich.
„Na, meinetwegen kümmere dich drum. Vielleicht taugst du wenigstens dazu!“, knurrte Tante Irmgard nach einem kurzen Moment des Nachdenkens, und die zerstörte Bluse landete auf Emilias Kopf. Es war nur Stoff, der nicht wehtat. Emilia legte erfreut die Schüssel mit den Bohnen beiseite, die sie zu putzen und zu schälen hatte. Die Magd konnte das ebenso gut erledigen, wenn sie endlich vom Markt zurückkam, und ihre Tante hatte ihr diese Aufgabe nur zugeteilt, weil sie es stets hasste, wenn Emilia eine Weile untätig herumsaß. Gierig griff sie nach dem Stoff. Es war grobes, dickes, uneben gewebtes Tuch, aber geschickt verarbeitet. Tante Irmgard hatte das Kleidungsstück von einer der reichen Damen, deren Messer Onkel Hayo regelmäßig schliff, als milde Gabe erhalten, nachdem die letzte Arbeit nicht rechtzeitig bezahlt worden war. An vielen Stellen war der Stoff aufgerieben, da Tante Irmgard ständig irgendwo anstieß, doch ließ sich der Makel noch mit robustem Garn beheben. Ansonsten waren die weit ausladenden Ärmel geschickt an der Schulter gerafft, sodass sie weit fielen und an den Handgelenken wieder zusammenwuchsen. Hier wiesen die schmalen, akkuraten Stiche auf einen Meister seines Handwerks hin. Es wäre allzu schade gewesen, dieses Kleidungsstück vom Feuer auffressen zu lassen.
Emilia zog schnell die Nadel aus ihrem Beutel. Sie besaß nur noch braunes Garn, aber die sicher einst weiße Bluse hatte im Laufe der Zeit einen tiefen Gelbstich bekommen, sodass die Farbmischung weniger auffallen würde. Das Gefühl, endlich wieder die Nadel durch Stoff gleiten lassen zu können, war fast berauschend. In ein paar Stunden hätte sie aus der Bluse wieder ein vorzeigbares Kleidungsstück gemacht! Vielleicht würde die Familie ihres Onkels dann endlich erkennen, worin die wahre Begabung des widerwillig aufgenommenen Waisenkindes lag, und aufhören, sie Töpfe scheuern und Bohnen putzen zu lassen, bis ihre Hände rissig waren.
Das Licht der Talgkerze war schwach, sodass Emilia sich tief über ihre Arbeit beugen musste. Schmerzhafte Sehnsucht schnürte ihre Kehle zusammen, als sie an die Tage in der Werkstatt ihres Vaters dachte, wo weit geöffnete Fenster und zahlreiche Wachskerzen all seinen Lehrlingen und auch ihr die Arbeit erleichtert hatten. Damals hatte es Garn in fast allen Farben von Gottes Schöpfung gegeben, Nadeln verschiedener Größe, stets frisch gewetzte Scheren zum Zuschneiden der Stoffe, die so kostbar und fein gewesen waren, dass Emilia zunächst Angst gehabt hatte, sie könnten durch eine einzige, unvorsichtige Berührung Schaden nehmen.
Es war, wie es war, sagte sie sich. Sie lebte noch, als Einzige ihrer Familie, hatte ein Dach über dem Kopf und regelmäßiges Essen auf dem Tisch. Wenn sie ihre Verwandten nur von ihren Fähigkeiten überzeugen konnte und mehr Näharbeiten bekam, würde sich ihr Talent in Augsburg herumsprechen. Vielleicht bekäme sie sogar eine Anstellung bei einem Schneidermeister, konnte seinen Sohn heiraten und sich so ihren Traum von einer eigenen Werkstatt erfüllen. Einen Weg musste es geben, denn es schien ihr unglaubwürdig, dass Gott der Herr ihr die Liebe zum Umgang mit Stoffen geschenkt hatte, nur damit sie für den Rest ihres irdischen Lebens vor Sehnsucht danach verging.
Grete, die Dienstmagd, kam hereingetänzelt, als es bereits zu dämmern begann. Auf ihren Wangen lag ein sehr tiefer rötlicher Ton, ihre Augen glänzten, als litte sie an Fieber. Achtlos warf sie den halb vollen Korb in eine Zimmerecke und hockte sich auf einen Stuhl neben die bereits schnarchende Hausherrin.
„Bist du mit den Bohnen fertig?“, fragte sie Emilia, die nur kurz aufgeblickt hatte.
„Nein. Ich erledige eine Näharbeit. Du wirst dich um das Abendessen kümmern müssen.“
Emilia war stolz, wie entschieden sie geklungen hatte. Ihr Vater hätte es niemals geduldet, dass eine Magd sich den ganzen Nachmittag auf dem Markt herumtrieb und dann faul herumhockte.
„Das hat doch wirklich bis morgen Zeit“, erwiderte Grete, die mit einer gelassenen Handbewegung ihr Gähnen verbarg. „Hayo hat auf dem Markt einen Verwandten getroffen, diesen Hausierer, und ihn zum Essen eingeladen. Also sollte auch etwas auf dem Tisch stehen, wenn die zwei hier eintreffen.“
„Ja, das sollte es wohl“, sagte Emilia und nähte beharrlich weiter. Sie kam nicht gegen das Gefühl an, dass sie diesen Kampf unbedingt gewinnen musste.
„Na gut.“ Grete war mit einem weiteren Gähnen aufgestanden. „Du putzt die Bohnen, ich brate Würste, und die Dame des Hauses schläft weiter ihren Rausch aus.“
Gretes breites, schelmisches Grinsen versöhnte Emilia mit ihrer Trägheit, und sie legte die Näharbeit schweren Herzens beiseite. Ihr Magen knurrte bereits, und wenn sie sich auf Tante Irmgard verließ, würde sie hungrig zu Bett gehen müssen. Seufzend ging sie zu dem kleinen Tisch dicht neben dem Herd und machte sich wieder an den Bohnen zu schaffen. Grete holte bedächtig ein paar Würste aus der Vorratskammer und steckte sie auf einen Spieß, den sie über dem Herdfeuer zu drehen begann. Diese Art von Tätigkeit gefiel ihr, da sie einfach war, nicht sonderlich anstrengend, und ihr genug Gelegenheit zum Plaudern ließ.
„Dieser Kurt, der Hausierer, hat diesmal ein paar sehr schöne Kleider dabei“, erzählte sie, während Emilia die nun geputzten Bohnen in eine Tonschüssel mit Wasser füllte und eine Prise Salz hinzugab. Wenn sie sich schon die Mühe mit dem Kochen machte, sollte es auch einigermaßen schmecken! Gleichzeitig aber weckten Gretes Worte ihre Aufmerksamkeit.
„Was für Kleider? Und woher hat er sie?“
Bisher hatte Kurt nur Lumpen mitgebracht, deren unangenehmer Geruch in ihr Widerwillen geweckt hatte, sie überhaupt anzufassen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer letzten Näharbeit zurück. Vielleicht konnte sie mit dem braunen Garn ein Muster auf die Bluse sticken, in das die geflickten Stellen sich derart einfügten, dass sie kaum noch als solche zu erkennen wären. Leider wäre es nachts zu dunkel für diese Aufgabe. Sie würde sich bis zum nächsten Morgen gedulden müssen.
„Irgendwo muss er einer Edelfrau in Not ihre Roben abgekauft haben“, plauderte Grete weiter. Sie hatte sich auf den Tisch neben Emilias Schüssel gesetzt und ließ ihre Beine baumeln.
„Wahrscheinlich sind sie Diebesgut, was soll’s! Er meint, dass er nun endlich ein gutes Geschäft machen kann, aber so dumm, wie der sich immer anstellt, habe ich meine Zweifel. Vielleicht gibt er mir ja ein Gewand ab, wenn ich nett zu ihm bin …“
Sie lächelte verträumt. Emilias Bewegungen waren schneller und fahriger geworden. Als sie die Schüssel an einem Haken über dem Herd befestigte, um die Bohnen aufkochen zu lassen, verschüttete sie etwas Wasser, und ein beißendes Zischen erklang. Wie lange war es her, dass sie edle, kunstvoll verarbeitete Stoffe in den Händen gehalten hatte, die zähe, zarte Glätte von Seide spüren konnte, weichen Samt, gestärkte Spitze, harten, glänzenden Taft? Sie durfte nicht zu viel erwarten, mahnte sie sich, denn wirklich edle Gewänder gerieten selten in die Hände eines gewöhnlichen Hausierers, aber auf einmal sah sie Kurts Ankunft mit Ungeduld entgegen.
„Gibt es noch etwas Speck im Haus? Ich könnte damit die Bohnen anbraten“, schlug sie vor. Mit einer leckeren Mahlzeit im Magen wäre der Hausierer vielleicht auch ihr wohlgesonnen, denn auf Gretes Art wollte sie sich nicht gefällig zeigen müssen. Grete zuckte gelangweilt mit den Schultern.
„Speck haben wir keinen mehr. Aber ich habe einen Brotfladen vom Markt mitgebracht. Zusammen mit deinen Bohnen und den Würsten muss es reichen. Bier haben wir jedenfalls genug, damit die Herrschaften zufrieden sind.“
Sie kicherte, und Emilia glitt wieder in einen Sog von Erinnerungen. Ihre Mutter hatte es stets verstanden, aus einfachen Zutaten leckere Mahlzeiten zu zaubern, jeden Sonntag hatte es frisches Fleisch gegeben und wohlschmeckenden Wein statt des billigen Biers, das Onkel Hayo bevorzugte. Saubere, hübsch bestickte Decken, Teller aus Ton und blank poliertes Besteck hatten stets den Tisch geziert, an dem die Familie ihre Mahlzeiten einnahm. Tante Irmgard hatte zwar das meiste davon mitgenommen, doch war es inzwischen entweder zerbrochen oder zu schlechten Zeiten gegen Nahrungsmittel eingetauscht worden. Nur ihr Nähzeug hatte Emilia bewahren können, da sie es meist versteckt hielt und zudem niemand hier etwas damit hätte anfangen können. Tante Irmgard und Onkel Hayo störten sich nicht an Rissen, wenn es zu viele wurden, warfen sie das Kleidungsstück einfach fort.
Die Tür knarrte, und Tante Irmgard fuhr auf. Völlig gelassen erhob sie sich aus dem Sessel, in dem sie eingeschlafen war, rieb sich die Augen und ging den Gästen entgegen.
„Schau her, wer da ist, mein Schatz!“, rief Onkel Hayo und schloss seine Frau in die Arme. Emilia überkam ein kurzer, ungewohnter Moment der Rührung. Juliane Maibacher, die Nachbarin, wurde von ihrem Mann regelmäßig verprügelt, weil sie keinen ordentlichen Haushalt zu führen vermochte, doch Tante Irmgard konnte schlampig sein und sich schon tagsüber betrinken, wie sie wollte, für ihren Gemahl blieb sie ein anbetungswürdiges Geschöpf. Es mangelte in diesem Haus zwar an Ordnung und Wohlstand, doch nicht an Zuneigung. Nur beschränkten die Eheleute sich darin gänzlich aufeinander, alle anderen waren ausgeschlossen, wie Emilia jeden Tag deutlich zu spüren bekam.
„Der Kurt ist wieder da!“, verkündete Hayo und schob Irmgards Neffen durch die Tür. Der Hausierer war ein Mann von etwa dreißig Jahren, dunkelhaarig, hager und mit einem scharf geschnittenen Profil. Wäre er etwas sauberer gewesen, hätte Emilia ihn vielleicht als gut aussehend eingeschätzt, doch die abgewetzte Lederhose und sein mit Dreck verschmiertes Hemd missfielen ihr, ebenso wie das zu einem Pferdeschwanz gebundene, fettig glänzende Haar.
„Wie schön, dich wiederzusehen, Junge!“, rief Tante Irmgard und drückte den Neuankömmling an ihren weichen, ausladenden Busen. „Du bist sicher hungrig. Wir haben schon etwas zu essen gemacht.“
Stolz deutete sie auf das von Grete und Emilia zubereitete bescheidene Mahl. Der Sessel wurde dem Gast überlassen, Irmgard und Hayo beschieden sich mit den einzigen zwei Holzstühlen im Haus, und für Emilia blieb nur ein wackeliger Schemel. Grete trug das Essen auf, setzte sich dann unaufgefordert auf einen umgedrehten Eimer und griff eifrig zu, um nicht leer auszugehen.
„Na, erzähl schon, Junge, wo bist du überall herumgekommen?“, fragte die Tante, während sie an ihrer Wurst kaute.
„Ach, überall und nirgendwo“, begann der Hausierer und brachte mit einer ausladenden Handbewegung fast den Bierkrug zum Umfallen. „Ich war in Schweden bei den Lutheranern, dann geriet ich im Osten an die Grenzen, wo die Türken wüten. Einmal musste ich mich im Wald vor einer Horde Ungläubiger verstecken, die die Leute aus einem kleinen Dorf in die Sklaverei verschleppten! Zwei Tage irrte ich dann mit knurrendem Magen durchs Schneegestöber, bis endlich in der Ferne der Turm einer kleinen Kirche auftauchte, wo ich Unterschlupf fand, und ein hübsches Mädchen, das dort betete, rettete mich vor dem Verhungern.“
Er nahm einen tiefen Schluck Bier und lehnte sich in den Sessel, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte.
„Du warst vor etwa zwei Monaten das letzte Mal hier“, mischte Emilia sich nun ins Gespräch. „Da war noch Frühling. Wie konntest du also ins Schneetreiben geraten, wenn doch noch gar kein Schnee gefallen ist?“
Sie bedachte Kurt mit einem harten, geraden Blick.
„Im Norden, da schneit es immer“, antwortete er völlig gelassen.
„Aber du hast vom Osten erzählt, dort, wo die Türken wüten.“
Emilia spürte, wie Tante Irmgards Blick sie wütend streifte, gab aber nicht nach, obwohl es vernünftiger gewesen wäre.
„Der Nordosten eben!“, sagte Karl lachend. „Ein Mädchen, das noch nie aus Augsburg herausgekommen ist, hat von der Welt doch keine Ahnung!“
Tante Irmgard brach in schallendes Lachen aus. In Emilias Ohren klang es boshaft, und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
„Ich habe gehört, der junge Herr hat unterwegs einer Edelfrau ihre Gewänder abgekauft“, mischte sich nun plötzlich Grete ins Gespräch, und Emilia war ihr dankbar dafür.
„Ja, so ist es“, sagte Kurt, und Gretes Lächeln streichelte ihn sanft, sodass er gleich fortfuhr: „Ich denke, mit diesen Sachen kann ich gutes Geld verdienen und mir einen neuen Karren leisten, denn der alte macht es nicht mehr lange.“
Die Frage, wie er denn seinen Karren vor den Türken gerettet hatte, lag Emilia auf der Zunge, aber sie zwang sich zu schweigen, denn im Augenblick gab es wichtigere Angelegenheiten.
„Würdest du uns diese Gewänder zeigen? Oder hast du sie irgendwo verborgen, wo sie erst einmal unauffindbar sind?“, forderte sie Kurt erneut heraus. Er zögerte keinen Augenblick, stand auf und schleppte einen großen Sack herein, den er mitten im Raum ausschüttete.
Emilia schnappte nach Luft. Da war es tatsächlich, wonach sie sich so lange gesehnt hatte: Spitze, Taft, Samt und Seide in schillernden Farben, doch ging ein modriger Geruch von diesem Stoffhaufen aus, und als Kurt eine Kerze darauf richtete, erkannte sie zahlreiche Flecken. Gretes Hände hatten sogleich zu wühlen begonnen, und mit einem Laut der Begeisterung zog die Magd ein hellgrünes Seidenkleid hervor.
„Das ist wunderschön, und es würde mir sicher passen!“, rief sie, während sie es an ihren Körper hielt. „Leider ist der Kragen zerrissen, ich bräuchte einen Ersatz.“
Sie warf Kurt einen schmachtenden Blick unter halb geschlossenen Lidern zu. Emilia, die ihr Verhalten peinlich fand, nahm das Kleid schnell an sich. Es war tatsächlich eine wunderschöne Arbeit mit geraden Nähten und einem ordentlichen Saum. Der Anblick des zerfetzten Kragens versetzte ihr einen Stich, doch sah sie mitten im Kleiderhaufen eine weiße, unversehrte Halskrause aufleuchten.
„Man sollte den Kragen durch die Krause ersetzen“, sagte sie sogleich und zog das Fundstück hoch. Dann wühlte sie aufgeregt weiter, fand ein Wams aus Samt, das ein paar Löcher aufwies, die sich aber mühelos flicken ließen, zwei Paar ausgetretener Samtschuhe, die dringend gebürstet werden mussten, und einen schlichten Rock aus braunem Tuch.
„Dieser Rock könnte zu deiner Bluse passen, die ich neu herrichten wollte“, teilte sie Tante Irmgard unaufgefordert mit. „Ich könnte ihn mit einem ähnlichen Muster besticken, damit er etwas hübscher aussieht.“
Die Ideen drehten sich in ihrem Kopf und nahmen all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass ihr Kurts durchdringender Blick erst nach einer Weile auffiel, ebenso wie Tante Irmgards wütendes Schnauben.
„Es tut mir sehr leid, aber dieses Mädchen muss sich ständig wichtigmachen. Sie hält sich für etwas Besseres, seit sie hier hereinspaziert ist“, sagte die Tante an den Hausierer gewandt. Emilia schnappte nach Luft und wollte widersprechen, aber Selbsterkenntnis lähmte ihre Zunge. Ja, sie hielt sich für besser, weil sie von klein auf gelernt hatte, sorgfältig zu arbeiten und stets nach einer Verbesserung ihrer Leistung zu streben. Irmgard und Hayo lebten in den Tag hinein, genossen es, sich allabendlich gemeinsam zu betrinken, und waren zufrieden, wenn sie irgendwie ihren Magen füllen und das Haus behalten konnten. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn Gott der Herr ihnen Nachkommen geschenkt hätte. Emilia ahnte, dass sie den beiden wohlgesonnener wäre, hätten sie sie wie eine Tochter angenommen, doch war sie gerade für Irmgard stets nur ein widerwillig geduldeter Eindringling gewesen.
„Ich wollte lediglich ein paar Vorschläge machen, wie ich Kurt zu einem besseren Geschäft verhelfen könnte“, widersprach sie nun. Tante Irmgard sog zischend Luft ein, aber der Hausierer legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.
„Die Kleine hat völlig recht, Tantchen“, sagte er. „Die Sachen müssen geschrubbt und geflickt werden, bevor ich sie verkaufen kann.“
Sein Blick glitt an Emilias Körper entlang, als wolle er ihn ausmessen und sein Gewicht einschätzen.
„Wie alt ist das Mädel jetzt eigentlich? Sie sieht mir schon fast erwachsen aus“, fragte er seine Tante.
„Ich bin vor zwei Wochen siebzehn geworden“, erwiderte Emilia, um ihn daran zu erinnern, dass sie durchaus für sich selbst sprechen konnte. Kurt rieb sich seine Hände an der Lederhose und grinste breit, wodurch seine schief sitzenden Schneidezähne sichtbar wurden.
„Langsam wird es Zeit für einen Bräutigam.“
Etwas an dem neckischen, schmeichelnden Unterton trieb Emilia das Blut in die Wangen, und sie hatte Lust, Kurt allein deshalb die Augen auszukratzen.
„Ach was, wer wird die schon nehmen?“, seufzte Tante Irmgard. „Kein Gulden Mitgift, aber so hochnäsig wie eine Fürstentochter.“
Emilia fuhr herum. Die kostbaren, eben noch bewunderten Stoffe entglitten ihren Händen, und sie ließ sie achtlos zu Boden fallen.
„Wenn ihr nicht die Werkstatt meines Vaters gleich nach seinem Tod verkauft und das Geld versoffen hättet, dann hätte ich sehr wohl eine Mitgift, und zwar keine schlechte!“, schrie sie ihrer Tante ins Gesicht und spürte zu ihrem Entsetzen, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen. Tante Irmgards Augen wurden so riesig, dass es schien, sie könnten jeden Augenblick ihr ganzes Gesicht verdrängen. Die sonst schlaffen Wangen bliesen sich auf. Sie sah fast so grotesk aus wie eine jener Karikaturen, die Zeichner auf den Straßen Augsburgs verkauften. Ein Fisch vielleicht, der am Ufer angespült worden war, und nun fassungslos nach Luft schnappte. Ihre Hand hob sich drohend.
„Seit fünf Jahren füttern wir dich durch, du undankbare Göre! Dafür haben wir das bisschen Geld gebraucht, das wir für das Haus deines Vaters bekamen. Wer will schon irgendwo einziehen, wo eine Seuche gewütet hat?“
Diese Worte trafen Emilia heftiger, als die angedrohte Ohrfeige es vermocht hätte. Sie sackte wieder auf den Schemel, verschränkte die Hände vor der Brust, um Erinnerungen abzuwehren, doch wurde sie trotzdem von ihnen überwältigt. Die sich krümmenden, fiebernden Körper, die Schmerzensschreie, der Gestank von Exkrementen, blutiger Kot auf den Laken, die ihre Mutter stets weiß und sauber hatte halten wollen. Den Vater hatte die Rote Krankheit als Ersten niedergestreckt, doch hatte er noch lange genug gelebt, um den Tod seiner zwei jüngeren Töchter mitzubekommen, die beide noch so klein und schwach gewesen waren, dass sie nur einen einzigen Tag standhielten. Die Mutter hatte bis zum letzten Augenblick ihre Familie gepflegt, sich dann hingelegt, um schnell und still zu sterben. Nur Augustus war noch eine Weile am Leben geblieben, der geschickteste Lehrling ihres Vaters, der Emilia eines Tages heiraten und mit ihr zusammen die Werkstatt übernehmen sollte. Als auch bei ihm die Krämpfe begonnen hatten, waren Emilias Schreie fast lauter gewesen als die seinen. Schließlich hatte sie allein zwischen fünf Leichnamen in einem leeren Haus gesessen, denn die Bediensteten hatten bereits die Flucht ergriffen. Völlig ruhig hatte sie auf die ersten Blutflecken im Nachttopf gewartet, auf jenen Schmerz, der sich wie ein Feuerbrand durch ihre Eingeweide fressen würde, doch nichts war geschehen. Lange hatte sie nicht gewusst, ob Gott besonders gütig oder unerklärlich grausam gewesen war, als er sie als Einzige am Leben ließ.
„Nun hört endlich auf, euch zu zanken“, hörte sie Onkel Hayo versöhnlich sagen. „Emmy, räum die Kleider wieder in den Sack. Morgen kannst du dich damit befassen, wenn du willst. Aber jetzt geh schlafen!“
Unter anderen Umständen hätte es Emilia vielleicht geärgert, einfach wie ein kleines Kind ins Bett geschickt zu werden, doch nun war sie erleichtert, sich in ihre kleine Kammer zurückziehen zu können.
„Hilf Grete noch, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu säubern!“, hielt Tante Irmgards Stimme sie zurück. Sie gehorchte mit zusammengebissenen Zähnen. Die Arbeit war schnell erledigt, denn Grete beschränkte sich darauf, mit einem feuchten, leider nicht ganz sauberen Lappen über das Geschirr zu wischen, bevor es wieder in ein Regal neben der Kochecke geschoben wurde.
„Jetzt bringe ich ihnen den nächsten Krug Bier und setze mich dazu“, flüsterte sie Emilia dann ins Ohr. „Und ich schwöre dir, bevor der Morgen graut, gehört dieses grüne Kleid mir, zusammen mit der Krause. Die machst du mir doch dran, nicht wahr?“
Sie stupste Emilia in die Seite. Ihr breites Grinsen war von so ansteckender Heiterkeit, dass Emilia spürte, wie die dunklen Wolken von ihrer Seele flogen.
„Natürlich tue ich das. Ich wünsche dir viel Erfolg heute Abend“, sagte sie zum Abschied, bevor sie die schmalen Stiegen in ihre Kammer hochkletterte. Dort schaffte sie es gerade noch, aus Rock, Bluse und Mieder zu schlüpfen und sich ihr Nachthemd überzustreifen, das sie aus dem Elternhaus mitgebracht hatte. Inzwischen reichte es ihr gerade mal bis zu den Knien, doch hingen zu viele glückliche Erinnerungen an dem inzwischen zerschlissenen Stoff, sodass sie sich nicht davon trennen konnte. Sie streckte sich auf der Matratze aus und löschte die Kerze. Es war eine Erleichterung, mit diesem Tag abschließen zu können. Sie musste den Blick vorwärtsrichten, auf den Moment warten, da ihr Leben wie ein Fluss wieder seinen vorbestimmten Lauf nehmen würde.
Sie war bereits in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen, als Gretes Eindringen sie weckte.
„Rück ein Stück, ich bin hundemüde“, flüsterte die Magd. Emilia kam der Aufforderung wortlos nach, denn sie teilte sich ihr Lager mit Grete, seit sie hier eingezogen war. Die Nähe des vertrauten Körpers tat wohl, obwohl er nach Bier und nach Männerschweiß roch.
„Hast du das Kleid jetzt bekommen?“, fragte Emilia im Halbschlaf.
„Nein“, kam es sogleich zurück. „Und das ist deine Schuld. Du hast dem Kurt Flausen in den Kopf gesetzt mit deinem Gerede, was sich aus den Gewändern alles machen lässt, und jetzt hat er mir nur diesen lumpigen Wollrock gegeben.“
Emilia ergriff schuldbewusst Gretes Hand.
„Ich werde den Rock für dich aufhübschen. Du bekommst auch noch eine passende Bluse dazu, denn meine Tante hat nach mehreren Bierkrügen sicher schon vergessen, dass sie eigentlich ihr gehört.“
„Ach, was soll’s!“ Grete streckte sich gähnend. „Den Mannsbildern kommt es nicht auf unsere Kleider an. Die wollen sehen, was dadrin steckt.“
Sie kicherte und stützte ihr Kinn auf der Handfläche ab, während sie ihren Ellbogen in die Matte bohrte.
„Ich glaube, der Kurt ist gar nicht so blöd, wie er aussieht. Sonst hätte er nicht begriffen, wie gut deine Vorschläge sind.“
„Schon möglich“, erwiderte Emilia und schloss wieder die Augen, denn sie war zu müde für eine längere Unterhaltung. Das wahre Ausmaß von Kurts Verstand war ihr gleichgültig.
„Da unten haben sie übrigens noch lange über dich geredet.“
Gretes Worte drangen nur noch schwach in ihr Bewusstsein und schlugen dort keine Wurzeln.