Читать книгу Im Dienst der Gräfin - Tereza Vanek - Страница 8
2. Kapitel
Оглавление„Nein!“, sagte Emilia. „Das tue ich nicht.“
Sie krallte ihre Finger um die Tischkante. Ihr war schwindelig, und sie nahm die vertrauten Gesichter wie durch einen Nebel wahr. Tante Irmgards Wangen blähten sich wieder auf. Vielleicht würden sie gleich mit einem lauten Knallen platzen. Grete sah enttäuscht aus, Onkel Hayo hatte den Blick gesenkt, doch Kurt starrte sie mit spöttisch glänzenden Augen an, als fände er ihren Protest belustigend.
„Niemand hat hier gefragt, was du tun willst oder nicht“, erklärte Tante Irmgard laut. „Dein Onkel ist dein Vormund und entscheidet über dein Leben.“
„Aber ich werde es nicht tun“, erwiderte Emilia. „Ich gehe nicht mit Kurt. Ihr habt das Vermögen meiner Eltern genommen und …“
„Und deshalb sind wir für dich verantwortlich“, fuhr die Tante ihr ins Wort. „Wir entscheiden, was am besten für dich ist. Hier fühlst du dich nicht wohl und kannst dich nicht einfügen. Vom Messerschleifen verstehst du nichts, vom Nähen aber schon. Der Kurt kann eine wie dich gebrauchen.“
Emilia schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich habe hier in eurem Haus wie eine Magd gearbeitet, obwohl ich die Tochter eines angesehenen Schneidermeisters bin.“
„Mein Bruder ist leider tot“, unterbrach nun Onkel Hayo sie leise. „Ich weiß, du hattest einst die Aussicht auf ein Leben als angesehene Bürgerin, aber das ist nun einmal vorbei. Was möchtest du denn, Emilia? Glaubst du wirklich, ein wohlhabender Mann wird dich heiraten, nur weil dein Vater einst selbst einer war? Ich weiß, wir konnten dir nicht bieten, wozu du erzogen wurdest. Ich stand mein Leben lang im Schatten meines Bruders. Aber ich glaube, diese Entscheidung ist das Beste für dich. Kurt kann deine Talente nutzen.“
Emilia senkte ihren Blick auf das zerkratzte Holz des Tisches. Pökelfleisch, Käse und Brot lagen zum Morgenmahl bereit, aber sie verspürte keinerlei Hungergefühl.
„Ich könnte versuchen, irgendwo eine Stelle als Näherin zu bekommen, damit ich euch nicht länger zur Last falle“, schlug sie vor und sah ihrem Onkel flehend ins Gesicht.
„Du kannst genauso gut für den Kurt nähen, und er wird dich dafür durchfüttern“, erwiderte Tante Irmgard gelassen. „So kommst du herum und siehst etwas von der Welt. Was ist so schlimm daran?“
„Mein Vater war ein angesehener Bürger, und ich soll mit einem Hausierer herumziehen“, murmelte Emilia, mehr zu sich selbst als zu ihrer Familie. Die Erkenntnis, dass sie keine andere Wahl hatte, als sich zu fügen, sank langsam auf sie herab wie eine schwere Decke, unter der sie zu ersticken drohte.
„Du wirst die Kleider ausbessern können, die er dir gezeigt hat“, hörte sie Onkel Hayos tröstende Stimme und staunte, dass er kurz ihre Hand drückte. „Das hast du dir doch gestern erst gewünscht.“
Emilia senkte den Kopf. Die Idee, einfach davonzulaufen, schoss ihr kurz durch den Kopf, aber sie wusste, dass sie dann vermutlich ein noch schlimmeres Schicksal erwarten würde als bei Kurt. Wenn sie mit ihm ging, würde sie tun können, was sie wirklich gut beherrschte. Vielleicht fand sich irgendwo unterwegs die Möglichkeit, eine Stellung als Näherin zu bekommen.
Sie blickte dem Hausierer gerade in die Augen und bemerkte triumphierend, wie das spöttische Grinsen von seinem Gesicht rutschte.
„Ich komme als Arbeitskraft mit, nichts weiter“, sagte sie. „Ich nähe für dich, und dafür wirst du mich ernähren. Andere Ansprüche hast du nicht auf mich.“
Tante Irmgard lachte höhnisch auf, doch Kurt nickte nach kurzem Zögern.
„Um etwas anderes ist es niemals gegangen“, erwiderte er.
„Der Kurt kann viel Bessere haben als dich“, fügte ihre Tante hinzu, bevor Onkel Hayo sie aufforderte zu schweigen. Emilia sah eine Mischung aus Mitgefühl und Bewunderung in Gretes Augen und begann in diesem Augenblick zu ahnen, dass sie von allen Bewohnern dieses Hauses die Magd am meisten vermissen würde.
„Wann brechen wir auf?“, fragte sie und hörte zu ihrem Bedauern, dass die Worte nicht so stolz und entschlossen aus ihrem Mund kamen, wie sie es sich gewünscht hatte. Die Aussicht, zum zweiten Mal in ihrem Leben ihr Zuhause zu verlieren, schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie fürchtete, in Tränen auszubrechen, wenn sie nur noch ein einziges Wort sagte.
„Ich würde gern morgen aufbrechen“, erwiderte Kurt. „Aber wenn du noch länger brauchst, um von allen hier Abschied zu nehmen, dann warte ich natürlich.“
Er bemühte sich, Emilia freundlich anzulächeln, doch sie nahm nur seine schiefen Zähne wahr, die zudem von häufigem Tabakkauen braun wie Kuhdung waren.
„Es gibt gar keinen Grund, warum sie nicht morgen schon aufbrechen sollte“, meldete sich wieder Tante Irmgard zu Wort. „Ihr werdet ja immer wieder hierherkommen, wenn der Kurt gerade in der Gegend ist. Dann kann Emilia ihre alten Bekannten treffen.“
Ebendiese Worte brachten Emilias Augen zum Überlaufen. Sie wischte sich schnell mit dem Handrücken die Wangen trocken, sprang dann auf und lief hoch in ihre Kammer, wo sie sich auf die Matratze warf. Die Schluchzer schüttelten sie eine gefühlte Ewigkeit, und ihr war, als vergieße sie endlich all jene Tränen, die sie nach dem Tod ihrer Familie nicht hatte weinen können. Als die Tür hinter ihr sich knarrend öffnete, fuhr sie widerwillig herum. War es Grete? Sie ahnte, dass die Magd gern an ihrer Stelle mit Kurt aufgebrochen wäre, und die Erkenntnis, wie ungerecht das Leben war, trieb ihr neue Tränen in die Augen. Aber sie erblickte die schmächtige, leicht gebückte Gestalt ihres Onkels, der diese Kammer niemals betreten hatte, seitdem Emilia sie bewohnte.
„Ich würde gern mit dir reden, Emmy“, begann er so leise, wie er meist redete. Sie richtete sich auf und wischte nochmals ihre Augen trocken.
„Wozu? Es steht doch schon alles fest. Was hat der Kurt euch denn gegeben, damit er mich bekommt?“
Onkel Hayo seufzte und ging vor ihr in die Hocke.
„Er hat deiner Tante zwei Flaschen Schnaps versprochen, wenn er das nächste Mal wiederkommt. Aber ich hätte diesem Handel nicht zugestimmt, wenn ich nicht glauben würde, dass es das Beste für dich ist.“
Emilias Drang, ihm eine bissige Antwort ins Gesicht zu schleudern, wurde von seinem todernsten, ehrlichen Blick gezähmt.
„Ich weiß, dass du dir vom Leben einst mehr erhoffen konntest“, sagte er und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Ich habe versucht, dir etwas von deinem Erbe zu erhalten, aber die Zeiten waren hart, und wir mussten dich durchfüttern. Nun scheint es mir die beste Lösung, dich mit Kurt in die Welt zu schicken. Hier würde es auf Dauer nicht gut gehen.“
Emilia streckte ihr Kinn hoch.
„Weil deine Frau mich nicht leiden kann“, fasste sie das bisher Unausgesprochene in Worte. Sie rechnete mit Widerspruch, den sie höhnisch zurückweisen könnte, doch kam nur ein stummes Nicken.
„Als Irmi jung war, da wünschte sie sich Kinder, wie es die meisten Frauen tun“, erzählte ihr Onkel. „Doch uns wurden keine geboren. Manchmal reichte der Anblick einer Nachbarin, die ihr Neugeborenes im Arm hielt, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen. Dann hörte ich von dem Unglück, das meinen Bruder und seine Familie getroffen hatte. Ich brachte dich in unser Haus und hoffte, meiner Frau so das ersehnte Kind zu schenken. Und dir ein neues, nicht ganz so wohlhabendes Zuhause, wo du dich trotzdem eingewöhnen würdest.“
Die Worte rieselten sanft auf Emilia hinab, befreiten sie für einen Moment von aller Bitterkeit und Trauer.
„Wenn sie mich wie ihr Kind geliebt hätte, wäre ich hier glücklich geworden, auch wenn mein Elternhaus reicher war“, erkannte sie plötzlich. „Aber wenn sie eine Ersatztochter hat, dann ist es Grete.“
Onkel Hayo nickte nochmals.
„Ja, so ist es leider. Etwas stand von Anfang an zwischen dir und Irmi. Deshalb glaube ich, es wäre am besten, wenn du dieses Haus verlässt, denn euer Zwist wird nur wachsen, je älter du wirst. Der Kurt ist ein anständiger Kerl. Und du wirst immer wieder hierherkommen. Wenn er dich schlecht behandeln sollte, so sage es mir, und ich werde eine andere Lösung suchen.“
Emilia staunte, als ihre Finger sich plötzlich um Onkel Hayos Hand legten und sie kurz drückten. Es tat so wohl zu wissen, dass sie einem Menschen auf dieser Welt nicht ganz gleichgültig war.
„Gut, dann packe ich jetzt meine Sachen, und morgen früh brechen wir auf“, sagte sie nun völlig ruhig. Zwar saß der Schmerz weiter hartnäckig in ihrer Brust, doch war er auf ein erträgliches Maß geschrumpft.
Kurts Karren sah so klapprig aus, dass Emilia ernsthafte Zweifel hatte, ob sie darauf überhaupt bis zur Augsburger Stadtmauer kämen. Der davorgespannte Esel musste auch schon bessere Tage gesehen haben, denn die Knochen stachen wie Nägel aus seinem schmutzigen grauen Fell, und er bewegte sich so langsam, dass Emilia überzeugt war, zu Fuß flotter voranzukommen. Kurt weigerte sich, den Esel durch Hiebe voranzutreiben, was ihr wie ein Zeichen löblichen Mitgefühls schien, aber dazu führte, dass sie fast eine Stunde brauchten, um aus der Stadt zu kommen. Emilia konnte in Ruhe den Dom und das Rathaus betrachten, jene zwei Bauwerke, die sie von Kindheit an für die größten und prächtigsten der Welt gehalten hatte, bevor sie zum Fischertor hinausfuhren. Das dahinter liegende Viertel der Fischer bestand hauptsächlich aus ärmlichen und schmutzigen Hütten, die Emilia an Onkel Hayos schmales Holzhaus erinnerten. Wieder fühlte sie sich von Wehmut niedergedrückt, denn selbst ein solches Heim war einem schlichten Karren vorzuziehen. Sie hatte es seit der Abreise vermieden, Kurt anzusehen, und wollte ihm auch keine Fragen stellen, da die Tränen immer noch in den Tiefen ihrer Kehle lauerten. Daher hatte sie keine Ahnung, wohin es nun ging und wo sie die nächste Nacht verbringen würden.
Es schmerzte sie, wie wenig Menschen gekommen waren, um von ihr Abschied zu nehmen. Grete natürlich, die hatte sie umarmt, fest an sich gedrückt und alles Gute gewünscht.
„Ein kluges, fleißiges Mädchen wie du wird da draußen in der Welt schon zurechtkommen. Und der Kurt ist kein schlechter Kerl“, waren ihre Abschiedsworte gewesen, und Emilia wiederholte sie immer wieder in ihrem Kopf, um gegen Angst und Hoffnungslosigkeit anzukämpfen. Tante Irmgard hatte sie nur ermahnt, sich stets daran zu erinnern, wo ihr Platz in dieser Welt war, und die Nase nicht zu hoch zu tragen. Onkel Hayo hatte ihr schweigend die Hand gedrückt, denn alles, was es zwischen ihnen zu sagen gab, war schon gesagt worden. Dann war der Karren die schmale Gasse entlanggerollt, einige Nachbarn hatten neugierig gestarrt und getuschelt, doch mehr als ein knappes Kopfnicken hatte Emilia nicht zum Abschied erhalten. Dabei hatte sie die letzten fünf Jahre ihres Lebens in unmittelbarer Nähe dieser Menschen verbracht, mit ihnen am Brunnen Wasser geholt und schwere Körbe vom Markt heimwärts geschleppt. Trotzdem schien man sie nicht als einen Teil der Gemeinschaft zu betrachten, der nun herausgerissen wurde. Hatte Tante Irmgard am Ende recht gehabt, als sie ihr ständig Hochmut vorwarf? Die ganzen Jahre hatte Emilia darauf gewartet, ihr altes, so plötzlich ausgelöschtes Leben wieder aufnehmen zu können, und diese einfache Gegend nur als Übergangsort betrachtet, den sie irgendwann verlassen würde. Nun, da sie ihn tatsächlich verließ, war sie die Gefährtin eines Hausierers geworden! Wollte Gott sie verhöhnen oder Demut lehren? Sie zwang sich wieder einmal, ihren Blick in die Zukunft zu richten. Vielleicht würde sie auf diesem Umweg an ihr eigentliches Ziel gelangen und an irgendeinem unbekannten Ort, der noch vor ihr lag, Gewandschneiderin werden.
Die Türme Augsburgs waren noch als schwarze Spitzen am Horizont zu erkennen, doch vor ihnen lagen nur Felder und Bäume. Emilia wurde bewusst, dass sie die Mauern der Stadt bisher nur selten verlassen hatte, da es keine Veranlassung dafür gegeben hatte. Nun überkam sie ein Gefühl völliger Verlorenheit, und sie sehnte sich nach einer einzigen Hauswand oder Mauer, an der sie sich hätte abstützen können. Über ihr begann der Himmel sich bereits zu verdunkeln. Wo würden sie Schutz suchen können, wenn es völlig finster war?
Sie zwang sich, den Hausierer neben ihr auf dem Kutschbock endlich anzusehen. Sein Haar war immer noch von Fett verklebt, seine Kleidung schmutzig, aber niemand außer ihm konnte ihr hier draußen Schutz bieten, wenn ein Unglück geschah.
„Wo schlafen wir heute Nacht?“, fragte sie. Kurt wandte ihr den Kopf zu.
„Wenn es gut läuft, erreichen wir noch eine kleine Herberge, bevor es dunkel wird. Andernfalls“, er zuckte mit den Schultern, „übernachten wir irgendwo zwischen ein paar Bäumen, wo wir nicht gleich dem nächsten Straßenräuber ins Auge stechen.“
Es war zwar bereits Mai, doch die Nächte blieben frostig. Emilia straffte den Rücken, denn nun war es an der Zeit, sich durchzusetzen.
„Die Gewänder in deinem Besitz sind wertvoll. Draußen können sie jederzeit gestohlen werden, und das wäre ein erheblicher Verlust. Daher würde ich vorschlagen, dass wir uns beeilen, um die Herberge zu erreichen.“
Sie wandte sich um und zog eine alte Wolldecke, die Tante Irmgard ihr großzügigerweise mitgegeben hatte, aus ihrem Beutel. Sobald der raue Stoff auf ihren Schultern lag, fühlte sie sich etwas weniger schutzlos in dieser gottverlassenen Natur, deren Ausmaße ihr vorher nie bewusst gewesen waren.
„Na gut, dann beeilen wir uns“, hörte sie Kurt widerstandslos zustimmen und konnte nicht umhin, ihn nochmals anzusehen, denn mit einem so schnellen Erfolg hatte sie nicht gerechnet. Sein Blick war neckend, schelmisch, aber dennoch auf eine gewisse Art unangenehm, denn sie fühlte sich von ihm an Stellen berührt, die nur ihr allein gehörten.
„Ja“, erklärte sie überflüssigerweise. „Wir sollten uns beeilen.“ Dann sah sie nur noch geradeaus, musterte den mageren Rücken des Esels, um nicht die menschenleere Weite der Felder und die düsteren Schatten von Bäumen wahrnehmen zu müssen. Zum Glück vernahm sie nach einer Weile auch menschliche Stimmen, was ihr Gefühl völliger Verlorenheit etwas milderte. Bauern kamen von den Feldern zurück, einige von ihnen grüßten Kurt, ja fragten ihn gar, ob er etwas zu verkaufen hätte. Ein Hornkamm und eine Kette aus Holzperlen wurden gegen einen Laib Brot und drei Eier eingetauscht.
„Jetzt haben wir auch ein Abendbrot“, erklärte Kurt, als sie endlich weiterfuhren. Emilia fragte sich, wo sie die Eier kochen sollten, denn einen Herd gab es im Wald sicher nicht. Vielleicht ließ sich in der Herberge etwas machen, denn Kurt wollte ganz offensichtlich Geld sparen und sich daher keine Mahlzeit auftischen lassen. Ihr wurde unangenehm bewusst, dass sich bereits ein nagendes Hungergefühl in ihrem Magen breitmachte, doch war sie zu stolz, um ein Stück von dem Brot zu erflehen.
Es war bereits finstere Nacht, als sie die Herberge erreichten, ein schmales, wackeliges Holzhaus an einer Straßenkreuzung, dessen Fenster in der Dunkelheit leuchteten. Als sie eintraten, wehte ihnen der Geruch ranzigen Fetts entgegen. In einem kleinen Raum war eine alte Frau am Tisch eingeschlafen. Sie erhob sich bei Kurts Anblick, nahm zwei Münzen von ihm an und führte sie beide in ein Hinterzimmer.
„Der Raum ist noch frei“, knurrte sie und verschwand dann ohne weitere Kommentare. Emilia starrte stumm. Das Zimmer war bedrückend eng und schmutzig. In einer Ecke stand ein schmales Bett, daneben ein winziger Tisch. Das Fenster war mit einem Stück Leder abgedeckt, an dem der kühle Nachtwind vorbeiblies.
„Wo schlafe ich?“, fragte sie ratlos. Auf dem Boden kroch mit Sicherheit Ungeziefer herum, davon abgesehen würde sie dort erbärmlich frieren.
Kurt antwortete nicht gleich. Er setzte sich auf das Bett, brach den Laib Brot in zwei Teile, von denen Emilia einen erhielt. Sie biss gierig zu, denn auf einmal schien trockenes Brot ihr die köstlichste Mahlzeit der Welt. Kurt balancierte eines der Eier auf seiner Handfläche, dann stach er mit einem Messer ein Loch hinein und trank es roh.
„Anders geht es nicht. Wir haben kein Feuer“, erklärte er, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. Das zweite Ei wurde Emilia hingehalten, aber sie winkte ab.
„Morgen vielleicht. Für den Moment bin ich satt.“
Dann saß sie weiter stumm da, ein sicheres Stück von Kurt entfernt auf der Bettkante. In der Ecke des Zimmers stand ein Nachttopf, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn in Kurts Gegenwart zu benutzen. Die einzige andere Möglichkeit wäre, nach draußen zu gehen, doch ihr graute vor der einsamen Finsternis.
„Zeit zu schlafen, würde ich sagen“, erklärte Kurt und zog mit leisem Stöhnen seine Stiefel aus. Emilia verharrte wie zur Salzsäule erstarrt, beobachtete aus den Augenwinkeln jede seiner Bewegungen. Er streckte sich auf dem Bett aus, zog die Decke bis zu seinem Kinn und musterte sie abwartend.
„Na, komm schon. Ich lösche gleich die Kerze. Willst du im Sitzen schlafen?“
Sein freundlich neckender Tonfall war Emilia vertraut, aber nicht die Lage, in der sie sich jetzt befand. Sie verknotete ihre Finger und spürte ein Stechen in ihrem Rücken, da ihre Knochen dort zusammenzuwachsen schienen. Er hatte recht. Sie würde nicht im Sitzen schlafen können, ebenso wenig wie auf dem Boden.
Rasch streifte sie ihre Holzschuhe ab und legte sich auf die Matratze. Obwohl sie gern darauf verzichtet hätte, unter die Decke zu kriechen, war es dafür im Zimmer zu kalt. Sie rutschte so nah an die Bettkante, wie es nur möglich war, ohne dass sie auf den Boden fiel. In ihrem Rücken vernahm sie das leise Zischen, als Kurt die Kerze löschte, und schloss die Augen, dankbar für die Finsternis, in die sie eintauchen und ihre Lage vergessen konnte. Sie brauchte jetzt nur schnell einzuschlafen, und wenn sie ihre Augen wieder öffnete, wäre es bereits heller Tag.
Kurts Atem knarzte in ihrem Rücken. Sie bewegte sich noch ein Stück Richtung Bettkante, staunte, dass sein Schweißgeruch nun stärker in ihre Nase kroch als bisher, obwohl sie sich den ganzen Tag in seiner Nähe befunden hatte.
Als sie die Wärme seiner Hand auf ihrer Hüfte spürte, war ihr dies im allerersten Augenblick sogar angenehm, eine tröstliche Berührung in dieser erbarmungslosen Welt. Dann wanderten die Finger aufwärts, berührten ihre Taille und versuchten, unter ihr Mieder zu gleiten.
Emilia fuhr auf.
„Du hast gesagt, dass ich nichts weiter als deine Hilfskraft sein werde!“, rief sie empört. Seine Antwort war ein leises Seufzen.
„Sonst wärest du doch nicht mitgekommen. Du bist immer so … verbissen. Versuche doch, das Leben etwas leichter zu nehmen.“
Die Hand strich nun wieder über ihren Rücken, berührte jene Stelle, wo eine schmerzhafte Verhärtung sich zu verbreiten begann, und Emilia spürte, wie ihr Körper kurz von Wohlbehagen überflutet wurde, bis sich ihr plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Mit einer raschen, fast beiläufigen Bewegung hatte Kurt ihre linke Brust umfasst und hielt sie nun fest wie etwas, das ihm gehörte. Sie musste aufspringen, um sich seinem Zugriff zu entziehen.
„Ich will das nicht! Du bist nicht mein Gemahl. Ich werde auf dem Boden schlafen“, sagte sie und zwang sich, auf die harten Holzfliesen zu sinken. Ihr war kalt. Etwas krabbelte über ihre linke Hand, sie zuckte mit einem leisen Schrei zurück und spürte wieder Tränen in ihrer Kehle würgen. Würde der Rest ihres Lebens nun so verlaufen, dass sie nicht einmal mehr in Frieden schlafen konnte?
„Mein Gott, Emmy, ich bin kein Frauenschänder“, erklärte Kurt mit bemühter Nachsicht. „Komm wieder her. Du weißt einfach nicht, was du versäumst. Den meisten Frauen gefällt es am Anfang nicht, aber das ändert sich schnell.“
Emilia überkam der Wunsch, wild um sich zu schlagen, doch hätte sie in der Dunkelheit nichts und niemanden getroffen.
„Wenn ich sage, dass ich es nicht will, dann ist es auch so.“
Kurt schwieg eine Weile, dann vernahm sie einen leisen Gähnlaut.
„Meinetwegen, ich lasse dich in Frieden. Leg dich jetzt wieder hin, sonst bist du morgen wie gerädert, und du wolltest doch die Kleider herrichten.“
Sie tastete sich langsam zu dem Bett zurück, da sie ohnehin kaum eine andere Wahl hatte. Kurt war tatsächlich ein Stück zur Seite gerückt, sodass sie sich hinlegen konnte, ohne seinen Körper an dem ihren zu spüren. Nur ein Rascheln der Strohmatte verriet, dass er noch nicht zur Ruhe gekommen war.
„Unser nächstes größeres Ziel ist Wien“, erzählte er. „Eine große, prächtige Stadt, Sitz des Habsburger Kaisers. Es wird dir gefallen.“
Emilia verweigerte eisern eine Unterhaltung, doch spürte sie, wie Hoffnung in ihr aufkeimte.
„In Wien gibt es viele Kleinadelige und Theatertruppen, die einen guten Preis für ein gebrauchtes Fürstengewand zahlen“, hörte sie Kurt weiter sagen, und diese Worte entspannten endgültig ihren verkrampften Rücken. An einem solchen Ort würde sie ihr Können unter Beweis stellen und vielleicht eine Anstellung als Näherin finden. Bis dahin musste sie Kurt ertragen, doch mit der Aussicht, ihm bald schon zu entkommen, schien ihre Lage weniger verzweifelt. Sie fiel in den Schlaf wie ein Mensch, der plötzlich in eine Schlucht stolperte. Die dunkle Tiefe, von der sie empfangen wurde, war ihr angenehm, fast wie ein Ort der Erlösung.
Zehn Tage vergingen. Der Karren rollte Feldwege entlang, verirrte sich in dichte Wälder, von denen Emilia verschlungen zu werden glaubte, und machte manchmal in Dörfern und kleinen Ortschaften halt, wo sie Vorräte erwarben. Eine Nacht im Freien blieb Emilia erspart, da Kurt ihren Rat, keinen Diebstahl der Gewänder zu riskieren, wohl sehr ernst genommen hatte. Stattdessen suchten sie regelmäßig schäbige Herbergen auf, wo das Geld gerade mal für ein winziges Zimmer reichte. Dort versuchte sie, durch eine steife, unnahbare Haltung sämtliche Berührungen abzuwehren. Kurt war in der Tat nicht mehr so dreist wie in der ersten Nacht, doch rückte er manchmal näher an sie heran als notwendig, regte sich immer wieder, wenn sie endlich einzuschlafen hoffte, und ließ auch tagsüber keine Gelegenheit aus, ihr wie zufällig über den Arm zu streichen, sich gegen ihren Rücken zu pressen oder seine Finger in ihrem Haar zu vergraben. In Augsburg hätte sie sich kaum an diesen winzigen Augenblicken der körperlichen Nähe gestört, doch nach der ersten gemeinsamen Nacht war sie höchst empfindlich geworden. Ihr empörtes Zurückweichen, das zornige Funkeln ihrer Augen, mit dem sie ihn in Grenzen weisen wollte, lockten nur ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht.
Emilia richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Aufgaben, die zu erfüllen sie sich vorgenommen hatte. Sie nutzte die kostbaren Augenblicke, in denen sie genug Licht und Raum hatte, um die Gewänder auszubreiten und zu überlegen, wie sie sich ausbessern und umarbeiten ließen. An einem Bach setzte sie sich neben die Frauen aus dem benachbarten Dorf und schrubbte emsig mit einer Lauge aus Buchenasche, die sie von ihnen erhielt. In ihrem Elternhaus war Seife verwendet worden, um kostbare Stoffe zu reinigen, doch die konnte Kurt sich nicht leisten. Danach saß sie in den winzigen Räumen der Herbergen, manchmal auch im Freien auf dem Karren, wenn dichte Bewaldung ihr nicht das Licht raubte, flickte und nähte. Der steife Kragen wurde an dem grünen Seidenkleid befestigt, ein Wams mit samtenen Vierecken, die sie aus einem hoffnungslos von Motten zerfressenen Umhang geschnitten hatte, verziert, um hartnäckige Flecken zu verdecken. Fünf Unterröcke schrubbte sie, bis sie so weiß wie frisch gefallener Schnee waren. Im Sack fand sich noch eine Robe aus Brokat, die vorne zerrissen war, als hätte ein scharfes Schwert sie durchtrennt. Emilia nähte den Stoff so akkurat zusammen wie möglich, doch blieb der Schaden sichtbar. Sie grübelte eine Nacht lang, während Kurt in ihrem Rücken schnarchte. Dann opferte sie einen der blütenreinen Unterröcke, trennte die Naht wieder auf und legte eine Bahn aus feinem weißem Leinen dazwischen, die zum Saum hin immer breiter wurde. Am Ausschnitt formte sie Rosen aus ebenjenem Stoff. Der Makel wurde dadurch nicht verborgen, doch konnte man meinen, er sei dem Gewand mit Absicht zugefügt worden, um es auszuschmücken. Schließlich ging ihr das Garn aus, aber sie war mit ihrer bereits vollbrachten Leistung zufrieden. Ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen, Augustus, der einstige Verlobte, ebenso.
Als sie in Linz haltmachten, konnte Kurt sich nur noch einen großen Schlafsaal leisten, wo Männer und Frauen gemeinsam auf dem Boden lagen, durch einen Vorhang voneinander getrennt. Emilia ertrug die Nähe der stinkenden, furzenden und bis in die späte Nacht hinein miteinander flüsternden Gefährtinnen gut, denn wenigstens wurde sie von ihnen in Frieden gelassen. Am nächsten Morgen saßen sie vor der Herberge auf dem Boden und vertilgten einen Laib Brot, ein paar Äpfel und einen Humpen Bier. Es war ein angenehm warmer, sonniger Tag, und die Luft schmeckte draußen trotz allem besser als in der stickigen, überfüllten Herberge. Emilia war gespannt auf Wien, und je näher sie der Stadt kamen, desto mehr erhellte sich ihre Stimmung.
Kurt riss ein weiteres Stück von dem Laib Brot ab und kaute langsam.
„Wir können jetzt auf der Donau weiterfahren. Da sind wir schneller als auf dem Landweg“, sagte er dabei. Emilia bemerkte einen Brotkrümel zwischen seinen Vorderzähnen.
„Schön. Das ist gut. Können wir auch den Karren mitnehmen?“, fragte sie und überlegte gleichzeitig, wie sie ihre Habseligkeiten sonst transportieren könnten. Der Karren war ja schon alt, man konnte auf ihn verzichten, aber …
„Wir nehmen eine Fähre. Mit dem Karren“, erwiderte Kurt, und für einen Moment war sie ganz und gar zufrieden mit ihm. Dann rückte er ein Stück näher an sie heran.
„Siehst du den Kerl da vorn ganz rechts? Der ist ein Fährmann. Ich habe ihn gestern Abend im Schlafsaal kennengelernt.“
Emilia nickte. Der Fährmann hatte graues, schütteres Haar, trug ein völlig zerschlissenes Wams und schmutzige Kniebundhosen. Sie fand nichts Besonderes an ihm und fragte sich, warum Kurt weiterhin in seine Richtung starrte.
„Er nimmt uns natürlich nicht umsonst mit“, kam es nach einer Weile.
„Hast du noch genug Geld?“, fragte Emilia und nippte an dem Bierkrug. „Sonst könnten wir vielleicht schon hier etwas verkaufen.“
Kurt antwortete nicht gleich, sondern ergriff einen kleinen Stein, den er in seiner linken Hand zu drehen begann.
„Er hat dich bei unserer Ankunft kurz gesehen, und du gefällst ihm“, sagte er nachdenklich. „Ich glaube, wir könnten umsonst mitfahren, wenn du ein bisschen nett zu ihm bist.“
Er hob den Kopf und lächelte Emilia ins Gesicht. Wieder schien der Brotkrümel zwischen den Zähnen das Auffälligste an seinem Anblick. Emilia spürte den Zorn wie einen Ball in ihrer Kehle, an dem sie würgte, den sie aber nicht ausspucken konnte.
„Du hast kein Recht …“, flüsterte sie, denn die Lage war ihr so unangenehm, dass sie keine unerwünschten Zuhörer haben wollte. „Ich wurde dir als Hilfskraft mitgegeben. Onkel Hayo hat gesagt, dass …“
„Und wo ist er jetzt, dein Onkel Hayo? Willst du zu ihm laufen und dich beschweren? Ich bestimme unsere Route, und es kann sein, dass wir sehr lange nicht wieder nach Augsburg zurückkommen.“
Emilia spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und kämpfte sie tapfer nieder.
„Ich werde es nicht tun“, sagte sie. „Und das ist mein letztes Wort.“
Kurt ergriff ihr Handgelenk und drückte es so fest, dass es schmerzte.
„Und wenn ich dich einfach hier zurücklasse? Allein in Linz? Was machst du dann?“
Sie zerrte, bis sie ihren Arm freibekam. In Kurts Augen tanzte der Spott.
„Du weißt genau, dass ich dich zwingen könnte“, fuhr er genüsslich fort. „Denn falls du allein hierbleibst, hast du ohnehin keine andere Wahl, als dich an Männer zu verkaufen.“
Emilia schlang die Arme um ihre Knie. Es musste einen Weg geben, wie sie anderweitig zurechtkäme, dachte sie. Sie würde von Haus zu Haus gehen und um Arbeit bitten. Wenn sie genug Geld gespart hätte, könnte sie eine Möglichkeit suchen, wieder nach Augsburg zu kommen. Aber dann? Wie würde Tante Irmgard sie wohl empfangen?
„Ich werde dich nicht zwingen“, unterbrach Kurt plötzlich ihre Gedanken. Sein Grinsen wurde breiter, gleichzeitig gutmütiger. „Aber vergiss nicht. Ich hätte es tun können. Und nun müssen wir los.“
Die Erleichterung war wie ein kurzer, heftiger Regenguss, der kein echtes Wohlbehagen hinterließ. In Emilias Magen saß das Gefühl von Demütigung als schwerer, drückender Stein. Sie wechselte kein Wort mehr mit Kurt, während sie ihre Habseligkeiten wieder auf den Karren luden, der dann langsam zum Ufer der Donau rollte. Es war eng auf der Fähre, da sehr viele Menschen mitgenommen wurden, was sicher an dem günstigen Fahrpreis lag. Emilia saß neben zwei Frauen in Bauernkleidung, die einen großen Käfig mit Gänsen auf ihren Knien balancierten. Sie hatten Verwandtschaft in Wien, wie Emilia aus ihrem Gespräch aufschnappte, und bei der wollten sie nicht mit leeren Händen auftauchen.
Sie richtete ihren Blick auf die blauen Fluten der Donau. In Wien würde ihr Leben anders werden.