Читать книгу Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band - Tereza Vanek - Страница 11
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ОглавлениеLibussa ließ ihre Stute über die Lichtung galoppieren, und die hügelige, dicht bewaldete Landschaft zog an ihr vorüber. Das Gefühl völliger Freiheit war wie ein Rausch, der sie in ihren Erinnerungen schwelgen ließ – in ihren Erinnerungen an das Kupala-Fest vor einigen Wochen, bei dem sie zur Frau geworden war.
Wie alle jungen Mädchen und Frauen hatte sie Blumen in den Fluss geworfen und war anschließend selbst hinterhergesprungen. Bei Einbruch der Dämmerung war das rituelle Bad vorüber. Nun gab es Tänze ums Lagerfeuer und für diesen Festtag speziell gebraute Tränke. Auch Libussa griff nach einem Becher. Bald schon begann die Welt um sie herum zu verschwimmen, doch alles erstrahlte in einem hellen Licht, was von der Gegenwart zweier Götter zeugte: Morana und Jarilo, die Kinder der großen Sonnengöttin, feierten ihre heilige Hochzeit. So konnte das Land Früchte hervorbringen, um die Menschen zu ernähren. Da Jarilo der Sohn des Wassergottes Veles war und Morana den Herrn des Donners und der Lüfte, Perun, zum Vater hatte, trat durch diese Heirat Frieden ein zwischen zwei alten Erzfeinden. Es war der glücklichste Augenblick des Jahres. Denn bald schon würde Morana aus Eifersucht Jarilo töten und ihn so wieder zu seinem Vater in die Unterwelt zurückschicken. Doch ohne ihren Gemahl welkte Morana dahin. Sie wurde zur alten, bitteren Todesgöttin, und die Kälte des Winters legte sich über das Land. Erst mit dem nächsten Frühling kehrte Jarilo wieder unter die Lebenden zurück und umwarb Morana erneut.
Aber an all das hatte Libussa irgendwann an diesem Abend nicht mehr gedacht, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, die Heiligkeit dieses Festes keinen Augenblick zu vergessen. Sie wollte nicht sein wie so viele andere Mädchen, die bei dieser Gelegenheit nur Ausschau nach gut aussehenden jungen Männern hielten. Die heilige Hochzeit würde vollzogen, nichts weiter, hatte sie sich immer wieder gesagt, um ihre eigene Nervosität zu bekämpfen. Es war ihre erste Teilnahme an diesem bedeutenden Ritual, und danach würde sie in ihrem Volk als Frau anerkannt werden. Vor ihr lag der Eintritt in eine geheimnisvolle Welt. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.
Kazi, ihrer ältesten Schwester, gefielen diese Feste nicht. Sie begleitete ihre Familie nur aus Pflichtgefühl, und Libussa war nicht entgangen, wie ihr dunkler Haarschopf in der Sicherheit des Waldes verschwand, als Männer und Frauen immer ungezwungener aufeinander zugingen. Ganz anders Thetka. Sie liebte die Aufmerksamkeit der jungen Krieger aller anwesenden Stämme, drehte sich wie wild im Kreis und sprang mehrfach über das Feuer, damit auch niemand sie übersah.
Scharkas Töchter. Die Kinder der Fürstin der Cechen. Jeder angesehene Krieger, jeder männliche Spross eines fürstlichen Clans strahlte vor Stolz, wenn es ihm gelungen war, die heilige Hochzeit mit einer von ihnen zu vollziehen.
Aber genau das hatte Libussa nicht gewollt. Sie war in einem schlichten, nur mit Holzperlen verzierten Gewand gekommen, das ihre Kinderfrau Kveta früher getragen hatte. Ihr Haar hatte sie wie die Töchter der Bauern zu zwei Zöpfen geflochten und mit Blumen geschmückt. Von dem Schmuck, den ihre Mutter zu diesem Anlass freudig verlieh, wählte sie nur ein paar Armreifen aus Kupfer.
Wer immer er sein würde, er sollte sie nicht kennen. Jede Frau war bei diesem Fest die Göttin Morana, ebenso wie jeder Mann Jarilo verkörperte. Nichts weiter als das hatte Libussa sich zunächst gewünscht. Einen Fremden, den sie bald vergessen würde und der nicht damit prahlen sollte, dass sie bei der heiligen Hochzeit seine Gefährtin gewesen war.
Während des Tanzens schwand die Furcht allmählich. Der Trank zeigte seine Wirkung. Sie sprang und wirbelte herum wie die anderen, befreit durch das sichere Gefühl, Teilnehmerin an einem uralten Ritual zu sein. Noch nie zuvor hatte sie sich Morana so nahe gefühlt. Es war, als tanzte die Göttin selbst an ihrer Seite.
Vielleicht hatte Morana sie zu dem Jungen geführt. Der Gedanke gefiel ihr, auch wenn er vermessen war. Sie konnte sich erinnern, wie sie beschloss, Slavoniks Blicken zu entkommen. Er stammte aus dem fürstlichen Clan der Kroaten, ein fast so mächtiger Stamm wie die Cechen, und versuchte bei diesen Gelegenheiten stets, eine von Scharkas Töchtern zu verführen, um sich dadurch bei seinen Freunden aufzuspielen. Libussa wusste genau, dass heute sie an der Reihe sein sollte.
Er war genau das, was sie nicht wollte. Ein Mann, für den sie wie eine zusätzliche Tätowierung wäre, die ihn als Krieger von Rang und Namen auszeichnete. Sie zog sich weiter von den Lagerfeuern zurück, um nicht von ihm gesehen zu werden, als sie plötzlich ein anderes, völlig unbekanntes Gesicht vor sich erblickte. Der junge Mann mochte etwa in ihrem Alter sein und nahm vermutlich auch zum ersten Mal an diesem Fest teil. Er hielt sich im Hintergrund und beobachtete aufmerksam, wie aus dem Getümmel von Menschen bei den Feuern allmählich einzelne Paare entstanden. Als Libussa an seiner Seite auftauchte, wirkte er überrascht und lächelte sie verlegen an.
»Gefällt dir das Fest?«
Die Frage schien ihr unangemessen, denn Rituale sollten nicht gefallen, sondern die Götter ehren. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie daher ausweichend. »Ich habe noch nie zuvor daran teilgenommen.« Sie wollte nicht verraten, dass eben jener Teil des Rituals, der am wichtigsten, am heiligsten war, ihr Unbehagen einflößte. Wie kam es, dass Kazi davor flüchtete, während es Thetka doch zu gefallen schien?
»Ich bin auch zum ersten Mal hier«, bestätigte er ihre Vermutung. »Es ist, na ja, etwas, an das man sich gewöhnen muss.«
Einen Jungen an ihrer Seite zu wissen, dem Kupala noch ebenso fremd war wie ihr, schien beruhigend. Sie fühlte sich sicherer bei jemandem, der ihr Unbehagen teilte.
»Wer bist du? Kommst du aus einem Dorf in der Nähe?«, führte er die Unterhaltung beharrlich fort, als sei dies ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem Fremde nur miteinander redeten. Er konnte nicht im Gebiet der Cechen wohnen, sonst hätte er sie gekannt. Libussa war erleichtert. Vermutlich war er im Gefolge des fürstlichen Clans eines anderen Stammes gekommen. Der Junge trug die grobe Kleidung eines Bauern, aber sein feines nachdenkliches Gesicht verriet, dass er kein einfältiger Mensch sein konnte. Aus den braunen Augen sprach völlige Offenheit, vielleicht, weil ein Mann einfacher Herkunft nicht unter dem Druck stand, unbedingt Eindruck machen zu müssen. Er hatte hellbraunes Haar, das ihm knapp bis zu den Schultern reichte, denn nur Krieger wie Slavonik waren so eitel und verfügten über die Muße, sich Zöpfe zu flechten oder das Haar mit Schweinefett kunstvoll auf ihren Köpfen hochzutürmen, um den Frauen zu gefallen.
»Es ist nicht üblich, hier seinen Namen zu nennen«, beantwortete sie ausweichend seine Frage. Der Rausch schien durch die kurze Unterhaltung bereits nachgelassen zu haben. Warum nahm er sie nicht einfach an der Hand und zog sie mit zu den Feuern, wo sich andere Paare bereits in den Armen lagen? Dort wäre es einfacher, nur Teil eines Ganzen zu sein. Zu tun, was alle taten.
»Ich glaube, mir gefallen diese Feste nicht«, sagte er unerwartet. »Wir sind keine Tiere.«
Zorn wallte in Libussa auf, verstärkt durch die Wirkung des berauschenden Trankes. »Das ist ein heiliges Ritual!«, zischte sie ihn an. »Du redest wie die Christen, die sich ihrer Körper schämen, und beleidigst unsere Götter.«
Er hob abwehrend die Arme. »Darum geht es nicht. Ich finde nichts Verwerfliches an diesem Fest. Nur gefällt es mir nicht, mich vor allen Leuten auf eine Fremde zu stürzen. Das ist alles.«
Wenn sie ihm ihren Namen nannte, wären sie sich dann weniger fremd? Könnten sie mehr sein als nur die Stellvertreter Jarilos und Moranas bei einem jährlichen Ritual? Der Junge schien ein angenehmer Mensch zu sein. Doch sobald er wusste, wer sie war, würde sich sein Verhalten vielleicht ändern. Dennoch gefiel es ihr, dass er so offen mit ihr sprach.
Lange Zeit herrschte Schweigen. Libussa hatte Angst, den Fremden anzusehen. Er sollte nicht merken, welche Gedanken ihr durch den Kopf gingen, wie wohl sie sich in seiner Gegenwart fühlte, denn dadurch hätte sie mehr preisgegeben, als bei einem solchen Fest üblich war.
»Willst du mit mir in den Wald gehen, Mädchen ohne Namen?«, fragte er schließlich mit einem verlegenen Grinsen und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie reichte ihm die ihre. Seine Handflächen waren rau vor Schwielen. Er musste wirklich ein Bauer sein, doch in diesem Moment hatte das keine Bedeutung.
Abseits vom Lachen und Geschrei der Feiernden war der nächtliche Wald ein verzauberter Ort, das Reich der Geister und Vilas, unsterblicher, wunderschöner Frauen, die über ihn herrschten. Libussa mochte das Kratzen der Bauernhände, die sich auf ihr Gesicht legten.
»Das heilige Ritual also?«, murmelte er. Seine Augen blitzten spöttisch auf und sie hörte ihr eigenes nervöses Lachen.
»Wie auch immer du es nennen magst«, sagte sie. Sosehr sie sich bemühte, sie konnte in ihm nicht einfach eine Verkörperung des göttlichen Jarilo sehen. Und sie wollte jetzt nicht nur Morana sein, auch wenn sie immer noch die Gegenwart der Göttin fühlte. Der Rausch hatte nachgelassen, aber ihre Furcht kam nicht zurück. Der Junge flößte ihr Vertrauen ein. Bereitwillig ließ sie sich neben ihm auf der feucht duftenden Erde nieder.
»Ganz gleich, was wir jetzt tun, Mädchen ohne Namen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du sollst zunächst wissen, wer ich bin. Premysl aus dem Dorf Staditz. Es liegt am Fluss Beiina, im Gebiet des Lemuzi-Stammes. Ich wohne dort mit meiner Mutter und Schwester.«
Sie nickte und schlang ihre Arme um ihn. Er folgte der Ermunterung zaghaft, als habe ihn auf einmal der Mut verlassen. »Ich weiß, dass Männer manchmal zu grob sein können«, murmelte er, ohne sie dabei anzusehen.
Libussa verstand nicht, warum er so redete. Kazi gefielen diese Feste nicht. Doch fast alle anderen Fürstentöchter, die sie kannte, liebten Kupala. Nun, da sie sich an den warmen Körper dieses Fremden presste, stieg Sehnsucht nach noch größerer Nähe in ihr auf.
»Wenn ich etwas tue, das dir zuwider ist, dann musst du es sagen. Versprich es mir«, kam es wieder von dem Bauernjungen, diesmal mit mehr Entschlossenheit. Libussa lachte auf.
»Das verspreche ich. Und ich kratze dir die Augen aus, wenn du dann nicht aufhörst.«
Diese Worte schienen ihn zu beruhigen, denn er löste den Gürtel an ihrem Gewand, aus dem sie sich sogleich selbst befreite. Allmählich ergriff ein anderer Rausch von ihr Besitz, ein Sehnen in ihrem Unterleib, das immer stärker wurde, je länger sie die schwieligen Hände auf ihrer Haut spürte. Dafür also, dachte sie, hat mir die Göttin den Körper einer Frau geschenkt. Am nächsten Morgen erwachte Libussa neben dem Jungen, im Schutz des Waldes sicher und geborgen, aber sie wusste, sie würde dieses Reich der Geister bald verlassen müssen. Ihre Mutter, Kazi und Thetka suchten vermutlich schon nach ihr. Sie schlüpfte rasch in ihr Kleid. Premysl schlief noch. Sie küsste ihn zaghaft auf die Wange. Es war besser so gewesen als mit einem Fremden inmitten aller anderen Paare, auch wenn sie dadurch ein wenig gegen das Ritual verstoßen hatte. Der Junge hatte nicht einfach Scharkas jüngste Tochter in ihr gesehen, deren Verführung seinen Ruhm vergrößern sollte, sondern ein unbekanntes junges Mädchen.
Aber es war vorbei. Von einer unerklärlichen Angst erfüllt, lief Libussa fort und hoffte, dieser Premysl aus Staditz würde sie bald vergessen, denn er war nicht Teil ihrer Welt.
Sobald sie den Wald verlassen hatte, tauchte der Ort des Festes vor ihr auf. Schlafende, erschöpfte Körper lagen wie nachlässig hingeworfen um die erloschenen Feuerstellen. Libussa schritt über sie hinweg, denn sie hatte bereits die gesattelten Pferde der Cechen-Fürstin gesehen. Ihre Mutter verfügte über unerschöpfliche Energie, der eine Nacht im Taumel des Rausches nichts anhaben konnte. Auch Thetka saß bereits auf ihrem Pferd, und Kazi kletterte gerade hoch. Libussa eilte hinzu, strich über den Kopf ihrer Stute Steka und schwang sich in den Sattel.
»Wo bist du denn so lange gewesen, Kind?«, hörte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter. Sie gab eine ausweichende Antwort und war froh, dass Scharka von den Cechen das Zeichen zum Aufbruch gab, anstatt sie weiter auszufragen.
Während sie mit dem Gefolge Wälder und Wiesen durchquerte, schien das Geschehene bereits unwirklich zu werden. Dieser Junge war vielleicht kein echter Mensch gewesen, sondern ein Geist des Waldes, der menschliche Gestalt angenommen hatte. Der Gedanke beruhigte sie, denn die Erinnerung an diese körperliche Nähe zu einem fremden Bauernjungen war ihr auf einmal unangenehm. Besser, alles schnell zu vergessen. Sie flüchtete vor Thetkas neugierigen Fragen, indem sie Steka neben Kazis Pferd laufen ließ. Die älteste Schwester schwieg wie gewöhnlich, denn sie war nach dem Kupala-Fest stets schlechter Laune. Thetka schäkerte mit einigen Kriegern aus dem Gefolge, so dass sich Libussa erleichtert in ihre Gedanken versenken konnte. Sie wollte sich innerlich auf die Zeremonie vorbereiten, bei der sie vor allen Angehörigen des Stammes zur Frau erklärt werden sollte, sich von der Erinnerung an die letzte Nacht befreien, auch wenn sie ahnte, dass sie diesen Jungen nicht so schnell vergessen würde. Zunächst merkte sie nicht, dass das kräftige, große Pferd ihrer Mutter sich zu ihrer Stute Steka gesellte.
»Slavonik war verärgert«, riss Scharka von den Cechen sie dann plötzlich aus ihren Überlegungen.
»Was kümmert mich Slavonik?« Libussa fühlte Ärger in sich aufsteigen.
»Er gehört dem fürstlichen Clan eines mächtigen Stammes an. Wir brauchen die Loyalität der Kroaten.«
»Ich dachte, Onkel Krok hätte für Frieden gesorgt.«
»Kein Frieden dauert ewig, Libussa. Es kommen immer wieder neue Feinde.«
Libussa fühlte sich, als hätte man ihr die Haut abgezogen. Jeder Windhauch schmerzte sie. Die Erfahrung der vergangenen Nacht war zu innig, zu zärtlich gewesen, um auf die Ebene der Verhandlungen zwischen fürstlichen Clans herabgewürdigt zu werden.
»Hätte ich es mit Slavonik treiben sollen, damit er unser Verbündeter wird? Ist es nicht ein heiliges Ritual, im Namen der Göttin? Und du verlangst, dass ich es für deine persönlichen Ziele missbrauche! Du redest wie die Christen, die ihre Töchter als Pfand geben.«
Nun traf sie der Blick ihrer Mutter wie ein Faustschlag. »Sei froh, dass wir nicht wie die Christen sind. Dann würden wir dich mit Slavonik verheiraten, und du wärest ihm Untertan, bis einer von euch stirbt. Aber hier ging es nur um eine einzige Nacht, Libussa. Er ist ein gut aussehender junger Kerl. Was wäre so schlimm daran gewesen?«
»Ich kann ihn nicht leiden«, murrte Libussa und fand plötzlich selbst, dass sie sich wie ein bockiges Kind anhörte. Deshalb setzte sie zu einer Begründung an: »Er ist so sehr von sich eingenommen. Jedes Mal, wenn eine Frau ihn als Gefährten wählt, wissen sofort alle seine Freunde davon. Das ist für ihn wie ein Wettkampf unter Kriegern, den er gewonnen hat.«
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »So sind Männer eben. Glaub mir, ich kenne sie.«
»Es ist allgemein bekannt, wie gut du sie kennst.«
Kaum waren die bissigen Worte ausgesprochen, hätte Libussa viel darum gegeben, sie wieder zurücknehmen zu können. In den Augen ihrer Mutter lag plötzlich nicht nur Unzufriedenheit, sondern auch ein stummer Vorwurf. »Wir sind in diesen Dingen nicht wie Völker, in denen allein die Männer herrschen, mein Kind. Bei uns gehört eine Frau nicht einem einzigen Mann. Sie kann selbst entscheiden, mit wem sie ihr Lager teilt. Mir scheint, das hast du gerade eben vergessen.«
Libussa senkte den Kopf. Es hatte jetzt keinen Sinn, sich zu entschuldigen, dazu kannte sie ihre stolze, störrische Mutter zu gut. Ihren eigenen Ärger zu erklären wäre aber ebenso vergebliche Mühe gewesen. Scharka hatte mit vielen Männern das Lager geteilt, aber nur Thetkas Vater Jaromir war ihr so nahe gewesen, dass sie mit ihm zusammenleben wollte. Nach seinem tödlichen Jagdunfall hatte sie tief um ihn getrauert. Danach, vermutete Libussa, hatte ihre Mutter einfach nur Trost und Ablenkung gesucht, und so war ihre jüngste Tochter entstanden. Libussa störte sich nicht daran. Aber was ihre Mutter bei dem Fest von ihr erwartet hatte, wäre ein Missbrauch der heiligen Hochzeit und damit auch Verrat an den Göttern gewesen. Sie wusste genau, was ihre Mutter zu diesen Erklärungen sagen würde. »Bei allen Göttern und Geistern des Waldes, Kind! Warum musst du die Dinge immer so schrecklich ernst nehmen?«
»Weil das meine Natur ist«, erwiderte Libussa in Gedanken und ließ ihr Pferd hinter dem ihrer Mutter laufen, um weitere Gespräche zu vermeiden, bis sie endlich den Fluss Vltava erreicht hatten und die Wehrtürme von Chrasten vor ihren Augen auftauchten.
Während die Vorbereitungen für Libussas Weihe zur Frau im Gange waren, schien ihre Mutter verärgert und mied Gespräche. Libussa war erleichtert, denn so brauchte sie nicht zu erzählen, mit wem sie sich in den Wald geschlichen hatte. Für Thetka, die sie mit Fragen bedrängte, erfand sie die Geschichte von einem Unbekannten aus einem weit entfernt lebenden Stamm, vielleicht gar aus den Ländern Rus. Es sei kaum möglich gewesen, mit ihm zu reden, denn Menschen aus jener Gegend hatten eine merkwürdige Aussprache, auch wenn sie einst zum selben Volk gehört hatten wie die Behaimen.
Erst an dem Tag der Zeremonie sah Libussa wieder ein Lächeln auf den Lippen ihrer Mutter, denn das Herz einer jeden Frau, die ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, war bei diesem Anlass mit Stolz erfüllt. Durch Töchter, die zu Frauen wurden, bestand der Clan fort und konnte größer und mächtiger werden.
In einem Kleid aus weißem Leinen, das mit Stickerei und Glassteinen verziert war, schritt Libussa zum Schrein der großen Sonnengöttin Mokosch, wo man bereits Schalen mit Obst sowie geschlachtete Tiere neben der hölzernen Statue als Opfer dargebracht hatte. Sie spürte die Blicke der Anwesenden auf ihrem Rücken, während sie der Tradition entsprechend Mutter und Schwestern umarmte, Treue zum Clan und Einhaltung der alten Sitten bis zu ihrem Tode schwor. Anschließend ertönte der Gesang der Schamanen, junger Männer aus dem Volk, die aufgrund ihrer besonderen Verbundenheit mit dem Reich der Götter und Geister von der Hohen Priesterin für diese Ausbildung ausgewählt worden waren. Fürstin Scharka überreichte ihrer jüngsten Tochter die Kopfbedeckung erwachsener Frauen. Ihre Kindsmagd Kveta hatte sie aus rotem Tuch angefertigt und mit aufwändiger Stickerei verziert. Eine dünne Kette aus Silber wurde ihr dazu um die Stirn gebunden und am Hinterkopf befestigt. An dieser Kette hingen sechs Ringe. Libussa sollte jeweils drei davon an ihren Schläfen tragen, was sie als ungebundene, erwachsene Frau kenntlich machte.
Die Ringe wären nicht nötig gewesen. Der Stamm der Cechen war der angesehenste in der Gegend, und sein fürstlicher Clan rühmte sich der Verwandtschaft mit dem großen Samo, der die Behaimen einst vom Joch der Awaren befreit hatte. Nicht umsonst waren die fürstlichen Clans aller benachbarten Stämme zum anschließenden Fest im großen Saal von Chrasten erschienen, um Libussa als erwachsene Frau zu begrüßen. Bisher hatten deren Söhne um Thetka geworben, denn Kazi hatte sich mittlerweile den Ruf zugelegt, unnahbar und außerdem eine Zauberin zu sein. Jetzt sollte es neben der launischen, schwierigen Thetka, die sich viele Liebhaber wählte, ohne bei einem bleiben zu wollen, noch eine weitere mögliche Gefährtin geben.
Libussa ließ sich zwischen ihrer Mutter und Onkel Krok vor den versammelten Gästen nieder. Einen Augenblick genoss sie es sogar, im Mittelpunkt zu stehen. Slavonik, der gemeinsam mit seiner Mutter und seiner heranwachsenden Schwester Sylva neben Krok Platz gefunden hatte, sah zunächst finster in ihre Richtung. Sie wich seinem Blick aus, konnte aber nicht übersehen, dass er sich wie üblich herausgeputzt hatte. Der Gürtel, an dem Schwert und Kampfaxt hingen, war mit einer silbernen Schnalle besetzt, die den Kopf eines Drachens darstellte. Glassteine blitzten als Augen des Ungeheuers. Slavonik hatte von den Kelten die Angewohnheit übernommen, sein Haar blau zu färben. Durch Tierfett in Form gehalten, wand es sich auf seinem Kopf wie eine Schlange. Mit seiner Eitelkeit stellte der Kroaten-Sohn fast jede Frau in den Schatten. Ermutigt durch Libussas Aufmerksamkeit hob er nun den Weinbecher und lächelte sie an.
»Hat dir das Kupala-Fest gefallen, Libussa? Du warst irgendwann verschwunden«, meinte er, nun ganz ohne Ärger in seiner Stimme. Offenbar wollte er einen neuen Versuch wagen, sie für sich zu gewinnen. Der spöttische Unterton seiner Worte gefiel Libussa nicht, aber sie wusste, dass ihre Mutter es ungehörig fände, wenn sie zu dem Kroaten-Sohn allzu abweisend wäre.
»Wir haben uns eben aus den Augen verloren«, erwiderte sie ausweichend. Slavoniks Lächeln kündigte eine bissige Bemerkung an, und zunächst war Libussa erleichtert, als Thetka sich ihnen zuwandte.
»Libussa hat sich einfach mit einem Unbekannten aus dem Lande Rus davongeschlichen«, erklärte ihre Schwester und betrachtete dabei zufrieden den Unmut auf Slavoniks Gesicht. Dann hob sie ihren Weinbecher, um mit ihm anzustoßen. Libussa nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen, ob sie nicht mit jemand anderem ein Gespräch beginnen könnte.
Weiter hinten an der Tafel saßen die Mitglieder des fürstlichen Clans der Doudlebi, die derzeit keinen ungebundenen Sohn hatten und tatsächlich nur aus Respekt gegenüber Libussas Familie gekommen waren, außerdem noch die Lukaner neben den Leitmeritzern, die sich seit Generationen wegen Nichtigkeiten bekämpften, aber bei diesem Anlass friedlich miteinander feierten. Radka, die älteste Tochter der Lukaner-Fürstin, lächelte Libussa zu, als sich ihre Blicke trafen, und kam herbei.
»Macht ein bisschen Platz. Ich möchte mit der soeben zur Frau gewordenen Schönheit plaudern. Ihr Männer müsst bis zum nächsten Kupala-Fest warten, denn sie scheint mir gerade nicht auf eure Gesellschaft erpicht.« Der großen, kräftigen Radka fiel es niemals schwer, ihre Wünsche durchzusetzen. Selbst Slavonik rückte mürrisch zur Seite, wodurch er näher an Thetka heranrutschte, die zufrieden lächelte.
»Nun erzähl schon, du zarte junge Vila aus dem Reich der Geister. Wie war er, dein Fremdling?«, fragte Radka vorwitzig und ließ sich von der Magd einen weiteren Becher Met bringen. Libussa spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hasste es, vor anderen Menschen rot zu werden, doch je mehr sie sich deshalb schämte, desto schlimmer wurde es.
»Ich kann mich kaum erinnern. Du weißt, all diese Tränke, von denen sich einem der Kopf dreht. Das ist schlimmer als zu viel Wein oder Met. Ich habe fast alles vergessen«, erklärte sie. Radkas Augen blitzten spöttisch auf, aber sie schien Libussas Verlegenheit zu verstehen, da sie nicht weiter nachfragte.
»Sieh dir mal meinen Bruder an«, fuhr sie stattdessen fort. »Er verbrachte das Kupala-Fest mit Irina von den Leitmeritzern, was unsere Mutter ebenso wenig begeisterte wie die Leitmeritzer-Fürstin. Und jetzt habe ich so eine seltsame Ahnung, dass er kaum noch von ihrer Seite weichen kann. Edle, weise Libussa, nutze deine seherischen Fähigkeiten, die dich zur Schülerin der keltischen Priesterin gemacht haben, und sage mir, wohin wird all dies führen?«
Libussa überhörte bewusst den Spott in Radkas Stimme und richtete ihren Blick auf Lecho von den Lukanern. Er unterhielt sich angeregt mit der dunkelhaarigen, schmächtigen Irina. Die Augen der jungen Frau waren aufmerksam auf sein Gesicht gerichtet, als gäbe es niemanden außer ihm im großen lauten Saal. Libussa fühlte einen Stich in ihrer Brust. Die Nähe zwischen diesen zwei Menschen weckte ihre Sehnsucht nach einem Erlebnis, das sie vergessen wollte.
»Ich kann die Zukunft nicht auf Befehl voraussagen«, erklärte sie Radka, »aber vielleicht geht meines Onkels Wunsch nach Einheit zwischen allen Stämmen dadurch in Erfüllung, dass aus diesen beiden ein Paar wird.«
Radka nickte.
»Ja, das wäre nicht schlecht. Ich werde Lecho jedenfalls ermutigen, seine Wünsche durchzusetzen. Auch wenn unsere Mutter und ihr neuer Gefährte dagegen sein sollten.«
Libussa war froh, dass Radka sich so vernünftig zeigte. Der kurze Moment der Sehnsucht war so plötzlich vergangen, wie er gekommen war. Sie fühlte sich leicht und sorglos, völlig frei von dem Wunsch, selbst mit jemandem ein Paar zu bilden. Sie würde sein wie Thetka. Sich Zeit lassen mit der Wahl eines Gefährten. Und irgendwann wollte sie bei ihrer keltischen Lehrerin am Berg der Göttin leben. Nur konnte sie nicht verstehen, warum dieser friedliche Ort mit der Höhle und der plätschernden Quelle, wo die alte Frau ihre Weissagungen machte, nie in ihren Träumen auftauchte.
Die Mägde brachten das Essen. Hölzerne Schüsseln mit Gemüsebrühe wurden hereingetragen, und der Geruch von gebratenem Fleisch erfüllte die Luft. Fladenbrotscheiben erschienen auf dem Tisch, und die anwesenden Gäste streckten gierig ihre Hände aus. Libussa nahm sich einen Hähnchenschenkel und biss hinein, erfreut, dass ihr Appetit wiederkehrte. Es musste an der Aufregung wegen der bevorstehenden Zeremonie gelegen haben, dass sie in den letzten Tagen nur wenig gegessen hatte. Sie nahm etwas Fladenbrot und zog eine der dampfenden Schüsseln zu sich, während eine Magd erneut ihren Weinbecher füllte. Das Fest begann ihr allmählich zu gefallen.
»Was soll das, du kleine Schlampe!«, hörte sie plötzlich eine laute männliche Stimme und blickte erschrocken in die Richtung, aus der sie kam. Dort saß Fürstin Olga vom Stamm der Lemuzi, die wie immer mit Schmuck behängt und auffällig bunt gekleidet war. Ihr jüngerer Sohn Neklan hatte eine der Mägde an der Gurgel gepackt und schüttelte sie. Sein Bruder Vojtan war ebenfalls aufgesprungen, und Ludmilla, Fürstin Olgas einzige Tochter, saß mit ängstlich aufgerissenen Augen daneben.
»Neklan von den Lemuzi, lass das Mädchen!«, rief Krok und stürzte sich auf den jungen Mann. Er befreite die Magd mühelos aus Neklans Griff. Sie taumelte ein paar Schritte zurück und schnappte hustend nach Luft.
»Ich bitte um Vergebung, Herr!«, keuchte sie. »Aber Fürst Neklan, er ... er ist zudringlich geworden. Ich musste mich wehren.«
»Sie hat meinen Sohn gestoßen!« Fürstin Olga hatte ihren rundlichen Körper drohend aufgerichtet. »So ein Benehmen steht einer Dienstmagd nicht zu!«
Kroks Miene wurde finster. Er musterte die Anwesenden, ratlos, gegen wen sich sein Zorn wenden sollte.
»Dana ist ein gutes Mädchen, das stets seine Aufgaben erfüllt. Sie würde sich niemals ohne Grund schlecht benehmen«, kam es nun von Libussas Mutter, die ebenfalls hinzugekommen war.
Kroks dunkle Augen richteten sich Unheil verkündend auf Neklan. »Stimmt es, dass du diese Magd belästigt hast?«
Neklan sah wütend und beleidigt aus, doch er schwieg.
»Ganz gleich, was mein Sohn getan haben mag, dieses Mädchen sollte bestraft werden«, antwortete seine Mutter an seiner Stelle. »Es steht einer Bauernmagd nicht zu, ihre Hand gegen einen Fürsten zu erheben.«
Fürstin Scharka wandte sich nun an Ludmilla, die erschrocken zusammenfuhr, sobald sie angesprochen wurde.
»Stimmt es, dass dein Bruder sich ungehörig benommen hat?«
Ludmillas Stimme war ein heiseres Flüstern.
»Er ... er hat sie angefasst. Das ist wahr. Dann hat sie ihn geschubst. Aber nur leicht, fast wie im Scherz.«
Kroks Augen funkelten zornig, doch es gelang ihm, seine Stimme zu bändigen. Ein Streit im großen Saal sollte unter allen Umständen vermieden werden. »Ein Fürstensohn hat in seinem Verhalten ein Vorbild für alle Männer zu sein«, erklärte der Stammesführer laut. »Unsere Sitten und Traditionen geben ihm kein Recht, seine Macht über Untergebene zu missbrauchen. Wenn eine Dienstmagd belästigt wird, dann darf sie sich wehren. Ich schlage vor, dass wir diesen Vorfall alle vergessen.«
Neklan verzog angewidert das Gesicht, widersprach aber nicht, sondern setzte sich wieder an die Tafel neben Ludmilla. Vojtan folgte seinem Beispiel. Nur Olga von den Lemuzi blieb stehen, und ihre schrille Stimme hallte durch den Saal: »Das reicht. Wir fahren zurück nach Zabrusany. Ich dulde nicht, dass meine Söhne beleidigt werden, nur weil Ludmilla irgendeinen Unsinn erzählt.« Sie warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu, und als der Fürstenclan der Lemuzi geschlossen hinausging, trottete Ludmilla wie ein geschlagener Hund hinterher.
Es erhob sich ein Gemurmel, doch niemand schien die Lemuzi sonderlich zu vermissen. Libussa schmerzte es, dass Ludmilla wie üblich nicht in der Lage gewesen war, gegen ihre herrische Mutter aufzubegehren. Was für eine Fürstin sollte aus einem derart verängstigten Mädchen werden, das mit weit aufgerissenen Augen in eine Welt starrte, die es nicht begriff? Doch auf ihren Schultern würde einmal die Zukunft des Lemuzi-Stammes ruhen.
Und dann holte sie plötzlich die Erinnerung ein. Staditz. Gebiet der Lemuzi. Auf einmal glaubte sie, die rauen, warmen Hände wieder auf ihrem Körper zu spüren. Der Wein, den man zu ihren Ehren trank, verstärkte ihre Sehnsucht nach einer anderen Art von Rausch.
Sie wollte sein wie Thetka. Das bedeutete, sich einen neuen Liebhaber zu suchen. Slavonik wäre sicher nicht abgeneigt und ihrer Mutter würde es gefallen. Sie musste ihn ja nicht auf Dauer zu ihrem Gefährten machen.
Sie richtete ihre Augen auf das stolze Gesicht des jungen Mannes und sah, wie ihr Blick dort ein selbstgefälliges Grinsen hervorrief. Ich kann es nicht, dachte sie. Nicht mit einem Mann, den ich nicht einmal mag. Aber wie konnte ich es dann mit einem Fremden? Er war mir in dem Wald so nahe. Als würden seine Hände mehr berühren als nur meine Haut.
Nun, da Premysl sich wieder in ihren Kopf geschlichen hatte, verfolgte er sie die nächsten Wochen wie ein echter Waldgeist. Beim Ankleiden und Kämmen fragte sie sich, ob es ihm gefallen würde, sie in diesem Augenblick zu sehen. Oder ob er sie bereits vergessen hatte, so wie es ihr zunächst gelungen war, ihn aus ihrer Erinnerung zu verbannen, auch wenn er sich des Nachts manchmal in ihre Träume gedrängt hatte und dabei ihren Namen rief, den er doch nicht kannte. In diesen Träumen schien er ein Vertrauter, der ihr etwas mitteilen wollte. Dabei wusste sie nicht einmal, was für ein Mensch er wirklich war. Nur dass sein Gesicht ihr gefallen hatte und der Klang seiner Stimme und auch die Wärme, die von seinem sehnigen Körper ausging. Und das Gefühl, dass sie ihm selbst als Fremde nicht gleichgültig gewesen war.
Die Sehnsucht und ihre Träume wurden zu einem so starken Fieber, dass Libussa schließlich tat, was Kranke zu tun pflegen. Sie wandte sich an die Heilerin. Kazi, ihre schweigsame älteste Schwester, konnte zuhören und zeigte außerdem die Bereitschaft, sich auch um andere Dinge als ihre eigenen Sorgen und Vorlieben zu kümmern.
Als Libussa Kazis Kammer betrat, saß diese mit ihrem Kater auf dem Boden. Ein Stück hinter ihr lag der riesige Hund, gleich neben dem Käfig mit der blinden Drossel. Diese Tiere waren die steten Begleiter der Heilerin. Den Hund hatte sie vor Jahren gerettet, als er noch ein Welpe war. Eine Bisswunde an seinem Bein, vermutlich Folge eines Zweikampfs mit einem Wildtier, war vereitert, und er schien ein hoffnungsloser Fall, den man erschlagen wollte. Kazi probierte ihre Heilkünste an dem kleinen Tier aus, das später zu ihrem riesigen humpelnden Schatten wurde. Er tollte kaum herum wie andere Hunde, als fürchte er, Kazi könne plötzlich wieder aus seinem Leben verschwinden, wenn er nicht ständig Acht gab. Die Drossel war Kazi durch ihr wirres, zielloses Flattern aufgefallen, und sie hatte sich ihrer angenommen. An ihrer Blindheit war nichts zu ändern, so dass Kazi ihr aus Holz einen Käfig baute, in dem sie in Sicherheit war und sich zurechtfinden konnte. Manchmal summte sie dem Vogel Melodien vor und behauptete, er tanze dazu. Sie war der einzige Mensch, der in seinen Käfig greifen konnte, ohne bei dem Tier Panik auszulösen. Den Kater hatte sie noch nicht lange. Da er bereits fast alle Zähne verloren hatte, taugte er nicht als Mäusefänger und wäre in einem Sack in den Fluss geworfen worden, hätte die verrückte Heilerin ihn nicht im letzten Moment noch an sich gerissen. Sie fütterte ihn mit Milchbrei und schnitt Fleisch in kleine Stückchen, die er schlucken konnte. Des Nachts war er ihr Kopfkissen und sein lautes Schnurren füllte den Raum. Nun lag er ausgestreckt vor ihren Füßen, umgeben von Tonschüsseln mit verschiedenen Kräutern und Tränken, die Kazi untereinander zu mischen begann.
»Mein alter Meister Zahnlos hat eine üble Bisswunde«, erklärte sie Libussa zur Begrüßung. »Er hielt sich für unbesiegbar und hat sich mit einem Wiesel angelegt.«
Libussa äußerte Mitgefühl und strich dem verletzten Kater über den Kopf. »Kazi«, begann sie dann vorsichtig, »bei deinem ersten Kupala-Fest, da ... da hast du doch auch ...«
»Ich habe das Ritual vollzogen, das ist richtig. Das war meine Pflicht damals.«
Der Kater hatte zu zappeln und zu wimmern begonnen, als Kazi seine Wunde auswusch. Sie schloss ihn zur Beruhigung in die Arme. Die Liebe, die aus ihren Gesten sprach, schien Libussa wärmend wie ein Herdfeuer.
»Weißt du noch, wer es war? Denkst du manchmal an ihn?«
»Natürlich weiß ich, wer es war. Aber wieso sollte ich daran denken? Es ist vorbei.« Kazi sprach widerwillig wie von einer unangenehmen Erinnerung.
Libussa hatte das Gefühl, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. »Thetka hat nach dem ersten Mal ständig davon geredet und auch jetzt kann sie den Mund nicht halten«, meinte sie daher.
»Thetka hört sich allgemein gern reden. Außerdem hat sie eine Schwäche für Slavonik, mit dem sie bei ihrem ersten Kupala-Fest zusammen war«, erwiderte Kazi, ohne den Blick von ihrem Kater abzuwenden. Libussa nickte. Thetkas Benehmen beim letzten Fest bestätigte Kazis Annahme.
»Warum wirbt Slavonik nicht um Thetka, wenn sie ihm zugetan ist?«, fragte sie daher verwirrt. »Ich hatte immer den Eindruck, dass er es auf eine von uns dreien abgesehen hat, weil wir zu dem angesehensten Fürstenclan der Behaimen gehören.« Es war Libussa peinlich, ihr eigentliches Anliegen auszusprechen, und so kam ihr die kurze Abschweifung sehr gelegen.
»Ja, das stimmt. So sehe ich Slavonik auch«, meinte Kazi. »Ich glaube, er will warten, bis feststeht, welche von uns die Nachfolge unserer Mutter antreten wird. Vorher wollte er uns alle drei beim Kupala-Fest ausprobieren. Nur dich hat er dabei nicht bekommen, das hat mir gefallen.«
Kazi grinste, während sie eine Salbe auf der Wunde des ruhig daliegenden Katers verteilte. Die Frage nach dem Partner bei ihrem ersten Fest war damit beantwortet. Libussa beschloss, ohne weitere Umwege endlich auf ihr Ziel zuzugehen.
»Ich war mit einem anderen zusammen, das ist richtig«, sagte sie. »Und jetzt kann ich diesen Jungen nicht vergessen. Die Erinnerung verfolgt mich. Nachts, da erscheint er mir im Traum, und dann wirkt er so vertraut, als würde ich ihn schon seit Jahren kennen. Ich sehe dann noch andere Dinge. Ein kleines Dorf, an dem nichts Ungewöhnliches ist. Zwei... zwei Ochsen ...«
Sie verstummte aus Angst, sich lächerlich zu machen. Doch wer Tiere so liebte wie Kazi, fand wohl nichts Dummes daran, von ihnen zu träumen.
»Ich sehe einen Fluss«, fuhr Libussa fort. »Und einmal, da... da trafen Männer aus Chrasten dort ein. Bohumil, der Älteste der Schamanen, du weißt schon, er war der Erste, den unsere Mutter für diese Aufgabe auswählte, führte sie an. Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll, aber es muss irgendwie mit diesem Jungen zusammenhängen.«
Sie musste sehr gequält geklungen haben, denn Kazi hielt bei ihrer Arbeit inne, was sie so gut wie nie tat.
»Du hast den Wunsch, den Jungen wiederzusehen, das wäre die einfachste Erklärung für diese Träume. Dann geht es dir wohl wie Thetka mit Sklavonik. Mach es ihr nach und suche dir andere Männer. Das hilft vielleicht.«
Libussa seufzte. »Ich will keinen anderen, verstehst du nicht? Ich fühle mich zu keinem anderen hingezogen. Nur dieser Junge, der...«
»Er kann aber nicht so fühlen wie du«, unterbrach Kazi sie barscher als notwendig. »Sonst wäre er doch schon längst mit Geschenken beladen hier aufgetaucht und würde um dich werben. Warum auch nicht? Du bist neben Thetka die beste Partie in unseren Ländern.«
Sie streichelte dem Kater noch einmal über den Kopf und ließ ihn dann laufen. Das Gespräch schien für sie beendet, doch Libussa setzte nun zur Erklärung an.
»Der Junge weiß nicht, wer ich bin. Er ist ein Bauer aus einem Dorf, das zum Besitz der Lemuzi gehört. Mich hatte er vorher noch nie gesehen und ich habe ihm meinen Namen nicht genannt. Und selbst wenn er ihn herausfände, wie soll er mit Geschenken hierherkommen? Ein Bauer hat weder Silber noch Pferde.«
Kazi fuhr sich mit der Hand über die Stirn, ein Zeichen, dass die Neuigkeit sie verwirrte und ihr nicht sogleich ein Rat einfiel. Das geschah selten.
»Kennst du denn den Namen des Dorfes, in dem er lebt?«, fragte sie schließlich.
Libussa nickte.
»Na, dann reite hin.« Kazi begann, ihre Utensilien in einen Beutel zu packen. Gespräche waren für sie nie ein Grund zur Untätigkeit gewesen.
»Einfach so?« Libussa fühlte sich verwirrt. Der Rat klang einleuchtend und war dabei ungeheuerlich. Männer begaben sich zu Frauen, nicht umgekehrt. So forderte es die Tradition.
»Wie anders als einfach so? Du nimmst ein Pferd, setzt dich drauf und reitest los. Was ist so schwer daran?«
»Vielleicht denkt er nicht mehr an mich?«, murmelte Libussa.
»Das«, erklärte Kazi schulterzuckend, »wirst du nur herausfinden, wenn du zu ihm reitest. Außerdem kennst du ihn noch kaum. Vielleicht siehst du etwas in ihm, das er gar nicht ist. Die Wirklichkeit ist meist ein besseres Heilmittel gegen schwärmerische Sehnsucht als alle Tränke, die ich dir zur Beruhigung anbieten könnte. Sieh dir den Jungen genauer an, vielleicht ist der Spuk dann auch schon vorbei. Du kannst natürlich auch weiter schmachten und dich quälen, wenn es dir so lieber ist. Ich muss jetzt aber gehen. Kveta hat mir erzählt, dass ihre Schwester einen schlimmen Husten hat, und ich habe versprochen, nach ihr zu sehen.«
Sie machte sich rasch und zielstrebig auf den Weg, wie es ihre Art war. Manchmal schien sie wie ein Wesen aus anderen Gefilden, das sich in diese Welt verirrt hatte und nicht aufhören konnte, über das merkwürdige Verhalten ihrer Bewohner den Kopf zu schütteln.
Libussa ritt bereits am nächsten Tag nach Staditz. Sie hatte eine Nacht wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen, ob sie Kazis Rat befolgen sollte oder nicht. Allein das Wissen, dass ihr noch weitere solche Nächte bevorstanden, wenn sie länger wartete, drängte sie zu handeln. Sie kannte Zabrusany, die Festung der Lemuzi, wo sie als Kind einige Male zu Besuch gewesen war, doch zog sie es vor, dort nicht mit derart ungewöhnlichen Fragen aufzutauchen. Fürstin Olga wäre sofort neugierig geworden und hätte die Geschichte überall herumerzählt. Libussa tauschte ihre verzierte Kopfbedeckung gegen das schlichte Tuch, das die Bäuerinnen trugen. Auch die silberne Kette verbarg sie in einer Kiste bei ihrer Bettstatt. In den Beinkleidern, ihren geschnürten Stiefeln und der Tunika eines Reiters machte sich Libussa auf den Weg, noch bevor ihre Familie aufgewacht war. Sie erzählte den Wachen am Tor, sie sei zu der keltischen Priesterin unterwegs, und schämte sich sogleich für ihre Lüge.
Der Weg erschien ihr endlos. Sie erreichte das Gebiet der Lemuzi zwar rasch, doch musste sie sich von Ort zu Ort durchfragen, um Staditz zu finden. Dabei gab sie vor, ein Bauernmädchen aus dem Land der Polanen zu sein, das weit entfernt lebende Verwandte besuchte. Einige der Bauern schüttelten den Kopf und nannten sie waghalsig, weil sie allein unterwegs war. Libussa zeigte ihnen den Dolch an ihrem Gürtel. Alle drei Töchter der Fürstin Scharka hatten gelernt, mit Waffen umzugehen, auch wenn nur Thetka sich wirklich dafür begeistern konnte. Doch die Bauern waren wenig beeindruckt von einem bewaffneten Mädchen. Sie solle zu allen Göttern beten, dass sie nicht den jungen Fürstensöhnen der Lemuzi in die Hände fiel, sagten sie.
Libussa wunderte sich, dass man sie vor Vojtan und Neklan warnte. Sie war stets davon ausgegangen, dass dank den Bündnissen ihres Onkels, des Stammesführers, nun Frieden im Land der Behaimen herrsche. Aber die wachsende Nervosität, als Staditz immer näher rückte, verdrängte diese Überlegungen.
Ein paar Holzhütten tauchten vor ihr auf, und Libussa sah Bauern Vieh in eine davon treiben, die vermutlich als Stall diente. Sie schwangen Gerten und schrien. Libussa erkannte Premysl an seinen gelassenen Bewegungen. Er machte den Tieren keine Angst, sondern lenkte sie in einer ruhigen Art, die sie wohl als natürlich empfanden. So war er auch in ihrer gemeinsamen Nacht gewesen. Sonst hätte Libussa vielleicht nie den Mut gefunden, das Ritual mit ihm zu vollziehen. Auf einmal empfand sie tiefe Zuneigung für den Unbekannten. Sie wusste, dass Kazi diesen Jungen mögen würde, denn ihre älteste Schwester achtete jeden, der gut mit Tieren umzugehen verstand. Libussa lächelte und trieb das Pferd voran. Als sie die Hütten erreicht hatte, machte Premysl ein paar zögernde Schritte in ihre Richtung.
»Das Mädchen ohne Namen! Woher kommst du auf einmal?« Aus seiner Stimme sprach keine Freude, nur Überraschung.
»Ich komme aus Chrasten, der Festung des Stammes der Cechen.«
Er stieß einen Pfiff aus, der ihr nicht gefiel. Es lag Spott darin. »Du dienst der Hohen Priesterin und dem Anführer aller Stämme! Es muss eine Ehre sein, in Chrasten zu wohnen.«
»Es ist eine Festung wie jede andere. Die Fürstin Scharka und der Stammesführer Krok tragen oft eine schwere Last.«
»Es ist schön für dich, dass du deine Herrschaften so verehrst«, bemerkte Premysl nicht mehr ganz so spöttisch. Er trat auf sie zu.
»Du hast einen weiten Weg gemacht.«
Als sie vom Pferd sprang, streckte er ihr die Hand entgegen. Libussa fühlte das Kratzen seiner Handfläche auf der ihren. Sie dachte daran, wie viele Stellen ihres Körpers dieser spöttische Fremde schon berührt hatte, und wünschte sich auf einmal weit weg. Die neugierigen Blicke der anderen Bauern missfielen ihr.
»Wollen wir zu meiner Hütte gehen, Mädchen ohne Namen?«
Libussa war froh, den Zuschauern zu entkommen, auch wenn sie sich das Wiedersehen anders vorgestellt hatte. Premysl wohnte in einer der kleinen Holzhütten, deren Boden man tiefer in die Erdoberfläche eingegraben hatte. Es gab einen Herd darin, doch weder Tisch noch Bänke. Einfaches Volk saß beim Essen in der Hütte wohl auf dem Boden, wo einige Decken aus gegerbtem Leder herumlagen. Libussa fragte sich, wo sie schliefen, denn sie konnte nirgends eine Bettstatt entdecken. Diese Überlegungen wurden von einer kleinen runzligen Frau unterbrochen, die ihnen entgegentrat. Sie musterte Libussa misstrauisch, als stünde vor ihr eine der Vilas, die in guter oder böser Absicht kommen konnten.
»Meine Mutter«, sagte Premysl. Dann stellte er Libussa seine Schwester vor. Sie hatte ein breites Gesicht und auffallend schmale, etwas schräg stehende Augen, als stamme sie von den Awaren ab. Sabber lief ihr übers Kinn, sobald sie unverständlich zu brabbeln begann. Obwohl Premysls Schwester bereits ausgewachsen sein musste, konnte sie nicht verständlicher sprechen als ein kleines Kind.
Libussa kam sie vor wie ein Wechselbalg aus der Welt der Geister. Sie wusste, dass manche Leute behaupteten, diesen Kindern mangele es nur an Verstand. Manchmal wurden sie deshalb getötet. Premysls Mutter hatte es wohl nicht fertiggebracht.
»Meine Mutter hat drei Söhne geboren, aber nur ein einziges Mädchen. Sie ist eine Frau, die noch in den alten Sitten denkt. Nichts wünschte sie sich sehnlicher als eine Tochter«, meinte Premysl, als hätte er ihre Gedanken gehört. Libussa nickte und bemühte sich, das seltsame Geschöpf freundlich anzulächeln. Das Mädchen wirkte fröhlich, es lachte laut und schien hier die sorgloseste Person zu sein. Ganz anders als seine Mutter, deren Falten und gebeugte Haltung von Erschöpfung zeugten. Sie verbreitete eine Niedergeschlagenheit um sich, die jeden Winkel der kleinen Hütte auszufüllen schien. Libussa wünschte sich plötzlich weit weg von diesem Ort. Nichts war, wie sie es sich erträumt hatte, denn es herrschte keinerlei Vertrautheit zwischen ihr und dem Bauernjungen. Er und seine Familie erschienen ihr fremd. Sie gehörte nicht zu ihnen.
Premysl erlöste sie von ihrem Unbehagen: »Wir können nach draußen gehen, wenn du willst. Meine Mutter bereitet inzwischen das Abendessen vor.« Libussa folgte ihm erleichtert. Sie verließen das Dorf und ließen sich am Waldrand auf einem gefällten Baumstamm nieder.
»Woher hast du das Pferd und die Kleidung eines Reiters?«, fragte Premysl, ohne Libussa anzusehen.
»Ich habe sie mir ausgeliehen.« Sie hasste es zu lügen und staunte, wie leicht es ihr dennoch fiel. Premysl hatte einen Ast in die Hand genommen und stocherte damit verlegen in der Erde herum. Libussa überlegte, ob sie wieder gehen sollte. Sie spürte, dass er sich ebenso unwohl fühlte wie sie. Im Wald, da waren sie verzaubert gewesen, doch das hier war die Wirklichkeit. Aber sie konnte nicht so einfach fortlaufen, ohne sich lächerlich zu machen. Zwar wusste er nicht einmal, wer sie war, aber die Vorstellung, ihm als Närrin mit wechselnden Launen in Erinnerung zu bleiben, missfiel ihr.
»Warum hast du das Kupala-Fest beim Stamm der Cechen gefeiert? Die Lemuzi veranstalten ihr eigenes Fest, wie man mir erzählt hat«, begann Libussa, um das quälende Schweigen zu unterbrechen.
»Ja, das tun sie. Aber mir stand nicht der Sinn danach, die fürstliche Familie zu sehen.«
Libussa lachte auf, etwas zu laut, wie es ihr schien. »Was findest du so schlimm an der Fürstin Olga? Sie ist eine sehr lebendige, lustige Frau.« Kaum hatte sie die Worte gesprochen, erschrak sie. Premysl würde sich wundern, warum sie eine Fürstin so gut zu kennen schien. Aber er fragte nicht nach.
»Gegen die alte Fürstin hatte ich zunächst nichts. Ich habe vor einigen Jahren auf ihrer Festung gedient, um als Krieger ausgebildet zu werden«, sagte er stattdessen. »Sie stellte manchmal jungen Männern nach und konnte aufdringlich werden, aber damit ließ es sich leben. Warum sollte eine ältere Frau sich anders verhalten als viele Männer? Aber seit die zwei Söhne das Sagen haben, ist es in unserer Gegend ungemütlich geworden.«
Libussa erinnerte sich an die Warnungen der Bauern und wurde hellhörig. Auf einmal brauchte sie nicht mehr verzweifelt nach Fragen zu suchen, damit kein peinliches Schweigen aufkam. »Vojtan und Neklan? Was haben sie getan, um dich so gegen sie aufzubringen?«
Er warf den Ast von sich, als ziele er damit auf einen unsichtbaren Gegner. »Sie benehmen sich wie diese Fürsten, von denen mir einmal ein fahrender Händler erzählt hat. Ein Rad an seinem Wagen brach in der Nähe unseres Dorfes, und ich habe es für ihn gerichtet. Er erzählte mir dann Geschichten über andere Länder, von fernen, stets warmen Gegenden, wo die Fürsten von ihren Dienern verlangen, sich vor ihnen auf die Erde zu werfen. Wer es wagt, den Fürsten anzusehen, dem wird der Kopf abgeschlagen.«
»Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass Vojtan und Neklan solche Dinge tun?« Mit diesen Worten holte sie ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Nein, das wagen sie nicht. Aber als mein älterer Bruder sie einmal daran hindern wollte, eine Magd zu schlagen, da verprügelten sie ihn vor den Augen all ihrer Krieger, die johlend zusahen. Niemand griff ein. Ich war damals noch ein halbes Kind, doch als ich meinen Bruder mit gebrochenen Rippen sah, da ging ich zu der alten Fürstin, um Anklage zu erheben. Sie meinte dazu nur, ihre Söhne hätten sich richtig verhalten und mein Bruder wäre frech gewesen. Deshalb verließ ich damals die Festung, um wieder als Bauer zu leben.«
Libussa fröstelte, obwohl die Sonne schien. Sie rief sich das breite genusssüchtige Gesicht der alten Fürstin in Erinnerung. Olga von den Lemuzi hatte immer ihren eigenen Kopf gehabt, aber derart boshaft war sie in Chrasten nie gewesen. Doch die Erinnerung an den Zwischenfall mit der Magd beunruhigte sie. Ein Mädchen zu berühren, das keine Berührung wünschte, zu so etwas neigten junge Männer, die noch nicht gelernt hatten, auf geschicktere Weise um weibliche Gunst zu werben. Aber Neklan hatte die Magd gewürgt, nachdem sie ihn von sich stieß! Wäre nicht der Stammesführer, sondern ein einfacher Mann dazwischengegangen, was hätte dann noch alles geschehen können? Sie ahnte, dass die eigentliche Schuld bei Olga lag, die ihre Söhne stets verteidigte, ganz gleich, wie sie sich verhielten. Ihre Tochter Ludmilla hingegen konnte ihr nie etwas recht machen. »Haben Vojtan und Neklan oft solche Dinge getan?«, fragte sie verunsichert.
Premysl blickte weiter starr in den Wald hinein, während er erzählte: »Die Lemuzi verlangen immer höhere Abgaben von den Bauern. Wer sich weigert, ihnen seine Vorräte zu geben, dessen Hütte wird des Nachts überfallen und angezündet. Die Fürstin Olga mag Schmuck und schöne Kleider. Letzten Winter war ein Pelzhändler aus dem Land Rus hier. Er bot herrliche Felle an, von silbernen Füchsen, die es angeblich in Ländern gibt, wo ewiger Frost herrscht. Dafür gab ihm die Fürstin alle Getreidevorräte und das Vieh auf der Festung. Er zog mit mehreren Karren fort. Ihre Söhne holten sich dann unser Vieh und plünderten die Getreidespeicher. Danach konnten wir kaum noch unsere Mägen füllen.«
»Aber das entspricht nicht den Regeln!«, rief Libussa empört. »Ein Volk braucht Fürstinnen, die Recht sprechen, und männliche Oberhäupter, um Krieger auszubilden und Angriffe abzuwehren. Doch mehr als ein Zehntel der Ernte müssen die Bauern ihnen nicht geben, und zu Notzeiten nicht einmal das. Getreidevorräte auf der Festung dienen zur Absicherung und werden an die Bauern verteilt, wenn Hunger herrscht. Fürstin Olga tut unrecht. Ihr solltet nach Chrasten gehen und euch bei dem Stammesführer Krok beschweren oder bei der Fürstin Scharka. Sie ist Hohe Priesterin des ganzen Volkes der Behaimen.«
Diesmal war es an Premysl, laut aufzulachen. »Und du meinst, das würde uns helfen? Krok ist ein kluger Mann. Er weiß, dass zwischen allen Stämmen Einigkeit herrschen muss, damit kein anderes Volk uns überfallen kann. Glaubst du wirklich, er verärgert die Fürstin Olga wegen ein paar unzufriedener Bauern und riskiert so eine Fehde mit den Lemuzi? Vielleicht bekommt sie eine Ermahnung, aber ändern wird das nichts. Im Gegenteil, die Lemuzi gehen immer härter vor gegen Leute, die aufmucken.«
Libussa versetzte der Erde zu ihren Füßen einen Tritt. Sie hätte Premysls Behauptungen gern widerlegt. Seine Geschichten widersprachen allem, was man sie über Sitten und Ordnung in ihrem Volk gelehrt hatte. Doch sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Olga sich bei einer Zurechtweisung ihrer Söhne verhielt.
»Und ich furchte, es wird noch schlimmer werden, wenn die alte Fürstin stirbt«, fuhr Premysl auch schon fort. »Dann reißen Neklan und Vojtan die ganze Macht an sich. Am Ende bekriegen sie sich noch untereinander, denn sie sind Hitzköpfe.«
»Es steht nur Ludmilla zu, die Nachfolge anzutreten. Ihre Brüder dürfen nicht ohne ihr Einverständnis handeln«, flüsterte Libussa, nun weitaus unsicherer als am Anfang.
Premysl schüttelte den Kopf. »Du kennst Ludmilla wohl nicht. Sie ist ein lieber Mensch, die Netteste in ihrer Familie, doch sie kann sich nicht durchsetzen. Allein hat sie gegen ihre Brüder keine Chance. Und ihre Mutter erlaubt ihr nicht, sich einen Mann zu nehmen. Alle Bewerber wurden fortgeschickt. Die Fürstin Olga will, dass ihre Söhne an die Macht kommen. Das sind die neuen Sitten. Bei den germanischen Stämmen ist es bereits so. Die Zlicani haben jetzt auch einen männlichen Fürsten, hat man mir erzählt.«
Libussa nickte. Krok und ihre Mutter hatten das geduldet, weil kein geeignetes Mädchen zur Verfügung stand. Aber vielleicht hatte Premysl recht. Womöglich war eine innere Angelegenheit eines anderen Stammes es ihrem Clan nicht wert gewesen, eine Fehde zu riskieren. Sie musterte den klugen jungen Mann an ihrer Seite, der immer noch in die Ferne sah, als fürchte er sich vor ihrem Blick. Wie viel Zorn und Bitterkeit aus seinen Worten sprach! Plötzlich hatte sie den Wunsch, ihn zu berühren, fürchtete aber, er würde sie zurückweisen. Bisher hatte er keinerlei Freude über ihr Kommen gezeigt. Vermutlich hatte er ganz andere Sorgen, als einer Liebesnacht im Wald nachzuhängen. Und wenn er wüsste, wer sie war, vielleicht würde er sie ebenso verabscheuen wie den Fürstenclan der Lemuzi. Sie suchte nach einer Entschuldigung, wie sie noch vor dem Essen verschwinden könnte, doch auf einmal spürte sie Premysls Hand an ihrem Arm. Eine leichte Berührung, als habe der Wind sie gestreift.
»Du siehst unzufrieden aus. Ich langweile dich, nicht wahr?«
Nun sah er sie endlich an, doch sein Blick wirkte niedergeschlagen und Libussa verspürte den Wunsch, ihn aufzuheitern.
»Nein, du langweilst mich nicht. Ich habe gerade an die Fürstin der Lemuzi gedacht. Thetka, die Tochter der Hohen Priesterin, vergleicht sie wegen ihrer rundlichen Figur immer mit einem Ei. Meistens trägt Olga bunte Kleidung, und deshalb meint Thetka, sie sei wie die Eier, die wir jedes Jahr im Frühling bemalen. Beim letzten Korochun-Fest im Winter ist Olga in Chrasten mit ihren Silberfellen aufgetaucht. Thetka flüsterte allen Umstehenden zu, dem Ei sei plötzlich ein Pelz gewachsen.«
Premysl lachte und Libussa stimmte erleichtert ein. Noch einmal berührte seine Hand ihren Unterarm, wo sie zaghaft eine Weile liegen blieb.
»Verrätst du mir jetzt deinen Namen? Ich konnte dich meiner Familie gar nicht vorstellen.«
Fieberhaft überlegte Libussa, ob sie ihm nicht einfach einen falschen Namen nennen sollte, aber dann schien es ihr auf einmal verkehrt, diesen Jungen zu belügen. »Ich diene einer hohen Herrin«, begann sie zaghaft. »Sie wäre nicht froh, mich hier zu wissen. Es ist daher besser, wenn niemand weiß, wer ich bin.« Das kam der Wahrheit am nächsten. Es schmerzte sie, als Premysl seine Hand wieder zurückzog.
»Nun gut, Mädchen ohne Namen. Ich denke, das Abendessen müsste jetzt fertig sein.«
Sie saßen zu viert am Boden der Hütte, deren Enge Libussa nun weniger bedrückend schien. Premysls Mutter verteilte eine dünne Suppe auf Holzteller. Dann riss sie einen kleinen Laib Brot in vier Teile.
Sie haben wenig zu essen, weil die Lemuzi es ihnen nahmen, dachte Libussa. Jetzt geben sie mir davon. Ich werde das nächste Mal etwas aus Chrasten mitbringen, nur darf es nicht wie eine milde Gabe wirken, denn das würde sie verletzen ...
Doch sie war sich noch immer nicht sicher, ob sie wirklich wiederkommen wollte.
Das Mahl verlief schweigend. Premysl half seiner Mutter beim Hinsetzen und Aufstehen, denn die alte Frau hatte Schmerzen in den Gelenken. Seine Schwester mit dem runden Gesicht ließ ihr Brot immer wieder fallen, bis er es in kleine Stücke riss und auf ihren Teller legte. Libussa überlegte, dass sie ihr Leben lang umsorgt worden war. Premysl musste sich um andere kümmern. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich auf einmal minderwertig. Die Suppe schmeckte überraschend gut, aber Premysls Mutter musterte sie gelegentlich mit einem misstrauischen Blick, als ahne sie, dass die Fremde etwas zu verbergen hatte. Schließlich nahm die alte Frau den Rest der Suppe, legte einen weiteren Laib Brot dazu und sagte: »Eine Gabe für die Waldgeister und Vilas. Damit sie uns in Frieden lassen. Kannst du das hinausbringen, mein Junge?«
Premysl runzelte die Stirn. »Es sind nicht die Geister, vor denen wir uns schützen müssen. Das Essen brauchen wir für uns selber.«
»Sei vernünftig, Sohn«, murmelte die Alte und versuchte, allein aufzustehen. Libussa erhob sich rasch und sagte: »Lass gut sein, ich werde eine Gabe bringen.« Sie nahm eines ihrer Kupferarmbänder ab und ging hinaus. Die eingezäunten runden Flächen am Waldrand, wo die Bauern den Geistern Geschenke darbrachten, kannte sie bereits aus dem Umland von Chrasten und fand sie auch hier sehr schnell.
»Vielleicht sind die Geister aber klüger als die Menschen und wissen, dass man Schmuck nicht essen kann«, begrüßte Premysl sie bissig, als sie wieder in die Hütte trat. Libussa fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schössen.
»Du hast eine böse Zunge, mein Sohn. Das Mädchen hat es richtig gemacht. Die Vilas lieben schönen Schmuck, so wie alle Frauen«, sagte Premysls Mutter, als habe sie den Schmerz ihres Gastes gespürt. Ihr zahnloses Lächeln schien Libussa das erste Zeichen echter Freundlichkeit in dieser Hütte.
»Ich danke für eure Gastfreundschaft. Aber jetzt muss ich gehen«, meinte sie.
»Es ist gefährlich nachts im Wald«, erklärte Premysls Mutter. »Die Geister!«
»Es gibt Schlimmeres im Wald als die Geister, Mutter. Aber du hast recht. Wir schicken keine Frau in der Dunkelheit allein hinaus.«
»Ich habe keine Angst und komme schon zurecht«, erwiderte Libussa und ging eilig zur Tür.
Wieder legte sich Premysls Hand wärmend auf ihren Arm. »Bleibe bis morgen! Es ist wirklich besser.« Seine Augen schienen um Verzeihung zu bitten. Libussa zögerte. Sie sah, wie die alte Frau das Essgeschirr säuberte und wegräumte. Dann trug sie die Strohmatten herbei, die an der Wand lehnten. Libussa hatte sich in Chrasten lange einen Raum mit ihren Schwestern geteilt, doch der war größer gewesen. Die Enge der Bauernhütte nahm ihr fast den Atem.
»Wir sollten dein Pferd im Stall festbinden. Es ist noch draußen«, erklärte Premysl entschlossen.
»Steka läuft nicht weg.«
»Darum geht es nicht. Jeder kann das Pferd auf der Wiese sehen.«
Libussa ging davon aus, dass er Wölfe meinte, und folgte ihm hinaus. Sie brachten Steka in den Dorfstall, wo ein Schwein, drei Ziegen und zwei Ochsen standen. Mehr hatten die Krieger der Lemuzi-Fürstin offenbar nicht übrig gelassen. Der Anblick der Ochsen verwirrte Libussa allerdings. Einer von ihnen hatte weiße Stellen von der Stirn über den Rücken und auch an den Hinterbeinen, ganz wie das Tier in ihren Träumen.
»Willst du dich noch waschen, bevor du dich schlafen legst?«, fragte Premysl, als sie den Stall verlassen hatten. Wieder schien er mit den Bäumen in der Ferne zu sprechen. »Wir können in den Wald gehen, ans Flussufer. Ich werde dich dorthin begleiten, wenn du willst.«
Libussa nickte, doch auf dem Weg fiel ihr ein, dass es im Dorf sicher auch einen Brunnen gab. Ihr Herz klopfte schneller. Offenbar wollte Premysl nun mit ihr in den Wald gehen, ein Ort, an dem sie sich einmal so nahe gewesen waren. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie wusste nicht, ob aus Angst oder aus Freude.
Sie betraten den Wald schweigend. Es war nicht wie damals beim Kupala-Fest. Kein Ritual bestimmte, was sie zu tun hätten, und so gingen sie einfach weiter. Als das Rauschen des Flusses zu hören war, blieb Premysl unschlüssig stehen. »Ich werde hier warten, bis du fertig bist. Dann gehen wir zurück.«
Libussa fühlte Enttäuschung in sich aufsteigen. Sie sollte tatsächlich nur im Fluss baden, bevor sie beide zurück zur Hütte gehen würden. Kazi hatte wohl recht, die Wirklichkeit war das beste Heilmittel gegen verliebtes Schwärmen. Aber sie lehnte sich noch einmal gegen diese Erkenntnis auf. »Meinst du wirklich, dass die Macht eines Tages auch bei uns ganz den Männern gehören wird?« Diese Frage hatte sie schon eine Weile beschäftigt und sie schien eine Möglichkeit, ein Gespräch zu beginnen, um die Rückkehr zur Hütte hinauszuzögern.
Premysl setzte sich bereitwillig. »Wer weiß das schon genau? Aber ihr Frauen solltet auf der Hut sein. Ich habe Geschichten gehört, dass unsere Leute im Lande Rus die Sitten der wilden Nordmänner übernommen haben, die ihre Nachbarn sind. Wenn ein Fürst stirbt und man seinen Leichnam verbrennt, dann wirft man gleich noch ein paar seiner Gespielinnen mit in die Flammen, damit er sich im Totenreich nicht langweilt.«
Libussa schauderte, so wie damals, als Krok ihr davon erzählt hatte. Welcher Mann würde einer Frau, die er liebte, einen solchen Tod wünschen? »Ich habe auch davon reden hören«, erwiderte sie. »Soviel ich weiß, handelte es sich dabei um Sklavinnen.«
Jetzt sah Premysl sie endlich an. Seine Augen funkelten zornig. »Und weil du glaubst, dass es dir nicht geschehen kann, ist es weniger schlimm?«
Seine Worte waren wie eine Ohrfeige. Was erlaubte sich dieser Bauer? Libussa kauerte sich nieder und schlang die Arme um ihren Körper. Jetzt war keine alte Frau hier, die sie anlächelte. »Lass uns zurückgehen. Ich werde mein Pferd nehmen und wieder zu meiner Herrin reiten«, murmelte sie.
Ein Geräusch rüttelte sie auf. Premysl hatte einen Ast in die Hand genommen und schlug damit gegen eine Baumwurzel. »Ich bin ein Narr«, sagte er und seine Augen ruhten nun auf Libussa. »Ich war so froh, als du plötzlich vor mir standest. Ich habe oft an dich gedacht und mir vorgestellt, wie es wäre, dich wiederzusehen. Aber ich hätte nie geglaubt, dass du kommen würdest. Du hast mir deinen Namen nicht verraten und bist einfach verschwunden. Das überraschte mich nicht weiter. Du bist ein auffallend hübsches Mädchen. Beim Kupala-Fest haben die Krieger und Söhne der Fürstenclans dich mit ihren Augen verschlungen. Ich konnte kaum glauben, dass du mich gewählt hast. Und jetzt bist du zu mir gekommen, und was mache ich? Langweile dich mit meinen Geschichten und fange Streit an.«
Der Ast flog in den Wald. Libussa bewegte sich zögernd auf Premysl zu. Seine Arme hießen sie willkommen.
Er war zurückhaltender als beim ersten Mal, umarmte sie nur zaghaft, als habe er Angst, sie zu zerbrechen. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Wange.
»Und dann, als du von deinem Pferd gestiegen bist in deiner Reiterkleidung ... Ich wusste schon damals im Wald, dass du keine Bäuerin sein kannst, denn deine Hände sind zart. Und Pferde haben nur die hohen Herrschaften und ihre Krieger.«
So viel zu meiner Verkleidung, dachte sich Libussa. Premysls Finger strichen ihr durchs Haar. Er zitterte und sie drängte sich noch enger an ihn, um ihn zu wärmen.
»Ich dachte, wenn sie sieht, wie ich hier lebe, dann sitzt sie schneller wieder auf ihrem Pferd, als ich bis drei zählen kann«, sagte Premysl leise.
Libussa lachte. Das Glück war ein noch stärkerer Rausch als alle Tränke beim Kupala-Fest. »Du hast dir auch wirklich Mühe gegeben, mich zu vertreiben.«
Er nickte. »Ich dachte, dann würde dein Fortgehen mir weniger ausmachen. Aber das stimmt nicht.«
Die Sehnsucht war wieder da, diesmal verstärkt nach all der Zeit der Unsicherheit. Libussa schob ihre Hände sanft unter Premysls Hemd und hörte ihn seufzen. Seine Berührungen wurden fordernder.
»Sag mir, wer du bist, Mädchen ohne Namen.«
Sie erstarrte. Warum musste er jetzt alles verderben? Einen Augenblick war sie versucht, ihren Namen zu nennen, doch die Angst vor Zurückweisung lähmte ihre Zunge. Sie küsste ihn. »Frag mich das nicht. Bitte frag mich das nie wieder. Ich habe gute Gründe, es dir nicht zu sagen. Und belügen will ich dich nicht. Sieh mich so, wie ich jetzt bin.«
Er zögerte einen endlosen Augenblick und Libussa war wie versteinert, bis sie endlich das Kratzen seiner Hände unter ihrer Tunika fühlte.
Am nächsten Morgen holte Premysl ihr Pferd aus dem Stall und sie stieg auf. Er streichelte Stekas Kopf, und Libussa meinte spüren zu können, wie sehr dies der Stute gefiel. Kazi würde ihn achten, aber sonst niemand in ihrer Familie, dachte sie.
Dann strich er zärtlich mit der Hand über ihr Bein. »Kommst du wieder, Mädchen ohne Namen?«
Sie nickte und ritt los, um dem Schmerz, der ihr die Kehle zuschnürte, zu entfliehen.
»Mutter, darf ich kurz mit dir reden?«
Libussa betrat zögernd die Kammer und sah Fürstin Scharka auf einem Schemel sitzen. Zwei Mägde flochten ihr langes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar zu kunstvollen Zöpfen. Die Fürstin der Lukaner war gestorben und als Hohe Priesterin der Behaimen sollte Libussas Mutter die feierliche Beisetzung leiten. Auch ihre Töchter würden mitgehen. Thetka wurde ebenfalls aufwändig frisiert, während Kazi sich versteckt hatte, um der verhassten Prozedur zu entkommen. Libussas Haar war bereits fertig.
Fürstin Scharka wandte ungeduldig den Kopf.
»Na gut, wenn es nicht zu lange dauert.«
Libussa fühlte, wie ihr die Worte im Hals stecken blieben. Vermutlich hatte sie einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt, denn ihre Mutter war meistens gereizt, wenn an ihrem Äußeren herumgezupft wurde. Sie bewegte sich am liebsten im Freien, jagte und trug Wettkämpfe aus. Frauenarbeit war ihr verhasst, ebenso wie das endlose Sitzen, während sie für öffentliche Auftritte hergerichtet wurde.
»Es geht um die Fürstin der Lemuzi«, begann Libussa dennoch, da sie wusste, dass sie nur selten Gelegenheit hatte, in Ruhe mit ihrer Mutter zu reden. »Ich habe seltsame Gerüchte über sie gehört, von einer Magd, deren Namen ich versprochen habe, nicht zu nennen.«
»Was sollen das für Gerüchte sein? Hat sie einen Liebhaber, der diesmal nicht nur ihr Sohn, sondern gar ihr Enkel sein könnte?«
Fürstin Scharka lächelte spöttisch. Diese Vorstellung schien ihre Laune ein wenig zu verbessern. Libussa fiel ein, dass ihre Mutter die Fürstin Olga trotz ihres manchmal unpassenden Benehmens durchaus schätzte. Scharka mochte Frauen, die es verstanden, ihren eigenen Kopf durchzusetzen.
»Nein, das ist es nicht. Es geht um die Art, wie sie ihre Bauern behandelt«, setzte Libussa ihre Rede fort. Sie schämte sich, wie zaghaft ihre Stimme klang. Nach ihrem Abschied von Premysl hatte sie den halben Heimritt damit verbracht, sich auf dieses Gespräch vorzubereiten und nach geeigneten Worten zu suchen, um ihre Empörung über Olgas Verhalten klar zum Ausdruck zu bringen. Doch jetzt fühlte sie sich plötzlich befangen. Die Angst, von ihrer stets bewunderten Mutter enttäuscht zu werden, lähmte sie.
»Was ist denn mit diesen Bauern? Fass dich bitte kurz. Wie gesagt, ich habe nicht viel Zeit.« Die Stimme ihrer Mutter klang wieder gelangweilt und ungeduldig.
»Sie verlangt von ihren Bauern höhere Abgaben als üblich und tauscht sie dann gegen Schmuck und schöne Kleider ein«, erklärte Libussa nun frei heraus.
Fürstin Scharka runzelte die Stirn. »Du befasst dich mit merkwürdigen Dingen, Kind. Es geht nicht immer gerecht zu auf der Welt. Und alle Tränen, die man darüber vergießt, ändern nichts daran.«
Die Gleichgültigkeit dieser Worte ließ Libussa endlich wieder zornig und mutig werden. »Dann sollte man eben nicht nur weinen, sondern handeln, um das Unrecht abzuschaffen. Als Neklan diese Magd schlecht behandelte, da bist du ihr auch zu Hilfe gekommen, ebenso wie Onkel Krok.«
Ihre Mutter tat einen tiefen Seufzer und musterte Libussa gequält. »Dana gehört zum Stamm der Cechen und lebt auf Chrasten. Sie untersteht meinem Schutz. Außerdem weiß ich, dass Diener besser arbeiten, wenn sie zufrieden sind und sich gerecht behandelt fühlen. Aber es steht weder dir noch mir zu, sich in Olgas Angelegenheiten einzumischen. Die Bauern des Lemuzi-Stammes gehen uns nichts an. Außerdem ist Olga zwar selbstsüchtig und eitel, aber nicht dumm. Sie wird ihre Bauern schon nicht verhungern lassen, denn wer bewirtschaftet dann ihre Felder?«
Verzweifelt setzte Libussa noch einmal zum Widerspruch an: »Aber sie haben kaum noch Fleisch und Brot, weil man ihnen alles weggenommen hat. Diese Leute arbeiten hart, und es bleibt ihnen gerade genug, um den größten Hunger zu stillen. Unsere Knechte und Mägde essen doch kaum schlechter als wir. Und sie bekommen genug, um gelegentlich Tauschgeschäfte mit Händlern zu machen. So sind die Regeln, das hast du selbst einmal gesagt. Die einfachen Leute ernähren uns, damit wir ihnen gegenüber unsere Pflichten erfüllen können. Das bedeutet nicht, dass wir uns auf ihrem Rücken ein schönes Leben machen.«
»Hör zu, Kind«, begann ihre Mutter, nun plötzlich mit sanfter, verständnisvoller Stimme. »Es heißt, es gab einmal eine Zeit, da wir alle gleich waren. Bei den Behaimen, den Polanen und sogar bei den wilden Leuten im Lande Rus gab es nur Priesterinnen, Schamanen und gelegentlich Häuptlinge, die aber wieder abgesetzt wurden, wenn ein Kampf vorbei war. Dann fielen die Awaren über uns her und jagten uns wie Jäger die Hasen. Erst Samo, ein Franke, befreite uns von dem Joch der Sklaverei. Von ihm lernten wir, wie wichtig es ist, eine klare Ordnung im Volk zu haben und Leute, die stellvertretend für alle die wichtigen Entscheidungen treffen. Seitdem hat jeder Stamm einen fürstlichen Clan. Da unser Clan der angesehenste und mächtigste ist, bin ich die Hohe Priesterin und dein Onkel das Oberhaupt der Stämme. Er kann entscheiden, wann wir alle in den Krieg ziehen. Aber was Olga von den Lemuzi in ihrem eigenen Gebiet macht, geht uns nun einmal nichts an, selbst wenn wir es nicht richtig finden.«
»Welchen Einfluss hast du denn überhaupt als Hohe Priesterin, wenn du nicht einmal durchsetzen kannst, dass sie sich an die Regeln unseres Volkes hält?«, rief Libussa empört. »Du könntest ihr drohen, sie mit einem Bann zu belegen!«
Nun schlug Scharka mit der Hand gegen ihren Schemel, als sei ihre Geduld endgültig erschöpft. »Und sag mir, was würde das bringen? Olga ist stolz und dickköpfig. Es käme zu einer Fehde. Vor kurzem hat in Mähren ein Fürst alle anderen Stämme unterworfen und nennt sich jetzt König. Wer solchen Machthunger hat, will meist noch mehr Land und Untertanen. Dein Onkel Krok macht sich Sorgen wegen der Franken. Von allen Seiten droht uns Gefahr. Angeblich haben Olgas Söhne neue Krieger angeworben, die nicht alle aus unserem Volk stammen, sondern ihre Kunst im Umgang mit Waffen gegen Entlohnung zur Verfügung stellen. Wilde Nordmänner und andere Fremdlinge. Sie sollen unglaublich harte Kämpfer sein, denn sie haben ihr Leben lang nichts anderes getan. Wenn wir angegriffen werden, dann möchte ich diese Krieger lieber auf unserer Seite sehen und nicht auf der unserer Feinde.«
Libussa senkte den Kopf, denn ihr war klar, dass jeder weitere Widerspruch vergeblich war. Die Welt schien den harten Regeln zu folgen, die auch Premysl ihr beschrieben hatte. Sehnsucht nach dem Berg der Göttin stieg in ihr auf, nach einem stillen, friedlichen Ort, wo diese Regeln keine Gültigkeit hatten.
»Nun schau nicht so traurig, Kind!«, meinte ihre Mutter sanft und strich ihr über die Wange. »Du bist ein junges Mädchen und solltest dein Leben genießen, anstatt immer so viel zu grübeln.«
Libussa nickte und verließ den Raum. Bevor sie Premysl getroffen hatte, war alles ganz einfach gewesen. Ein zurückgezogenes Leben als Schülerin der keltischen Priesterin hätte sie glücklich gemacht, auch wenn dies der Vorstellung ihrer Mutter von einem erfüllten Dasein nicht entsprach. Doch nun konnte sie vor der unschönen Wirklichkeit nicht mehr fliehen. Der ernsthafte, kluge Bauernjunge wartete auf sie, und sie wusste, dass es ihr nicht möglich war, ihn aufzugeben. Ihre Schicksale waren miteinander verwoben, so wie sie es in ihren Träumen gesehen hatte.
Bei ihrem nächsten Besuch in Staditz brachte Libussa Brot und Schinken mit. Vieh wäre vermutlich besser gewesen, da es sich vermehrte, doch konnte sie es kaum unauffällig aus Chrasten fortschaffen. Sie ritt nun zielstrebiger und sorgloser. Premysls Gesicht, als er im Wald ihre Tunika abgestreift hatte, stieg in ihrer Erinnerung auf, das Strahlen und Staunen in seinem Blick, als könnte er noch immer nicht glauben, dass sie wirklich zu ihm gekommen war. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen anderen Menschen derart glücklich gemacht zu haben. Das mitgebrachte Essen überreichte sie, als er nicht zusah. Seine Mutter verstand. Es lag keine Dankbarkeit in ihrem Blick, doch sie nahm an, was ihr gegeben wurde.
»Eine Gabe der Geister«, erklärte die alte Frau das plötzlich nahrhaftere Abendmahl. Premysl runzelte kurz die Stirn, und Libussa wartete schon auf eine bissige Bemerkung über ihre Großzügigkeit. Doch er beschränkte sich darauf, vier Scheiben von dem Schinken abzuschneiden. »Der Rest«, sagte er, »ist für die anderen Leute im Dorf.«
Zwei Wochen später schenkte er ihr ein in Holz geschnitztes Bildnis der Göttin Morana. Libussa ließ ihre Finger über die feinen Gesichtszüge und weich fallenden Locken gleiten. Die Göttin sah aus wie eine junge wunderschöne Frau, so lebendig, dass man wartete, sie würde jeden Augenblick zu sprechen beginnen. »Ich weiß, wie wichtig dir der Dienst an den Göttern ist. Und damals, beim Kupala-Fest, da warst du meine Morana«, murmelte Premysl unsicher, als zweifle er, ob ihr sein Geschenk gefiele.
Sie musterte ihn staunend. »Wie kommt es, dass du so gut schnitzen kannst?«
»Ich habe es von Kindheit an getan, wenn ich Zeit hatte. Es macht mir Freude.«
Libussa versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Jemand, der so etwas kann, sollte nicht auf den Feldern der Lemuzi arbeiten müssen. Hast du schon mal überlegt, mit diesen Schnitzereien Tauschgeschäfte zu machen? Ich glaube, du könntest davon leben, so wie dieser Händler mit seinen Pelzen.« Sie erschrak, als sie sah, dass sein Gesicht sich verfinsterte.
»Ich arbeite gern im Freien und sehe wachsen, was ich gesät habe. Außerdem kann ich meine Mutter und Schwester nicht verlassen. Meine Brüder sind bereits fortgegangen, als unsere Mutter noch bei Kräften war. Jetzt käme sie allein nicht mehr zurecht, und meine Schwester Magda kann niemals die Hütte übernehmen, wie es eigentlich Sitte wäre. Ich hätte auch kein Verlangen, mit Fürsten wie den Lemuzi Tauschgeschäfte zu machen. Es tut mir leid, wenn es dich stört, dass ich ein gewöhnlicher Bauer bin.«
Die Schärfe seiner Stimme schmerzte nicht mehr so sehr wie am Anfang, denn allmählich begriff Libussa, welche Unsicherheit sich dahinter verbarg. »Ich verachte die Bauern nicht, aber du die Fürsten, Premysl. Unser aller Schicksal bestimmen die Götter, heißt es. Und auch wenn es nicht so wäre, so kann doch niemand entscheiden, als was er geboren wird.«
Eine Weile schienen ihre Worte ihn nachdenklich zu stimmen. Dann legte er seinen Arm um ihre Schulter. »Ich weiß selbst nicht, was mich manchmal überkommt. Es muss an meiner Wut auf die Lemuzi liegen. Du dienst selbst einer Herrin und bist ihr zugetan. Sie behandelt dich nicht schlecht, wie es scheint. Lass uns nicht mehr darüber reden.«
Niemals würde sie ihm sagen können, wer sie war, dachte Libussa betrübt. Doch dann hörte sie das Plätschern des Flusses. Sie näherten sich dem vertrauten Ort im Wald, und in ungeduldiger Freude schmiegte sie sich an ihn. Er blieb stehen und sie fühlte, wie seine Finger über ihre Hüfte glitten. »Kannst du mit diesem Dolch eigentlich umgehen?«, fragte er unerwartet.
Sie nickte und legte ihre Waffe selbst auf den Boden. »Man lernt viele Dinge bei einer Fürstin. Aber sage mir, wundert sich deine Mutter nicht, warum ich immer eine ganze Nacht brauche, um ein Bad im Fluss zu nehmen?«
Dann kam die Erntezeit und er musste bis zum Anbruch der Dunkelheit arbeiten. Libussa bot sich zögernd an mitzuhelfen, doch Premysl lehnte ab. »Die Söhne unserer Fürstin reiten manchmal an den Feldern vorbei. Sie sollten ein Mädchen wie dich besser nicht sehen.«
Sie wusste nicht, weshalb er Bedenken hatte, sah aber selbst gute Gründe, Neklan und Vojtan nicht zu begegnen. So saß sie mit seiner Mutter und Magda in der Hütte. Das Mädchen brabbelte vor sich hin und hüllte sich in die bunte, mit Holzperlen bestickte Tunika, die Libussa in Chrasten für sie gewebt hatte. Libussa empfand dieses eigenartige Geschöpf nicht mehr als unangenehm. Anders war es mit Premysls Mutter, die sie seit jenem ersten Abend nie wieder angelächelt hatte. Erst nach einer langen Zeit drückenden Schweigens begann die alte Frau auf einmal zu reden: »Mein Sohn ist ein guter Junge, fleißig und mutig. Ich gab ihm zunächst den Namen seines Vaters, Dalimir, doch als er heranwuchs, da fiel allen Leuten auf, wie schnell er Lösungen für unsere Schwierigkeiten fand. Und dann nannte man ihn immer häufiger Premysl: Einer, der nachdenkt. Es gibt an diesem Ort keinen schlaueren Kopf als ihn.«
»Das weiß ich.« Libussa bemühte sich, freundlich zu klingen.
»Viele andere Mädchen im Dorf wissen das auch und haben ein Auge auf ihn geworfen.«
Die Worte stachen wie ein Messer.
»Aber eine geheimnisvolle Fremde, die kommt und geht, wie es ihr gefällt, scheint ihm aufregender.«
Libussa fuhr zornig auf. »Ich komme, wann ich kann, und gehe, weil ich muss. Ich habe auch meine Pflichten im Leben.«
Die alte Frau nickte. »Ich will keinen Streit mit dir, Mädchen«, fuhr sie mit etwas sanfterer Stimme fort. »Meinem Jungen tust du gut. Er ist weniger zornig und bitter, seit er dich kennt. Du hast Glück in sein Leben gebracht. Außerdem versorgst du uns mit Essen und machst meiner Tochter Geschenke. Das würde nicht jede hohe Dame tun.«
Libussa musste nach Luft schnappen, bevor sie sprechen konnte. Ihr war, als drückte ihr eine kalte Hand die Kehle zu. »Ich habe gesagt, dass ich einer hohen Herrin diene. Macht mich das selbst zu einer hohen Dame?«
Premysls Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, das tut es nicht. Aber du hast nicht die Wahrheit gesagt. Ich habe selbst einmal auf der Festung der Lemuzi gedient, und glaube mir, ich erkenne eine Dame, wenn ich eine sehe. Selbst Kindsmägde oder Zofen haben nicht die Zeit und Mittel, eine solche Tunika zu weben, wie du sie meinem Mädchen geschenkt hast. Vielleicht in anderen Ländern, wo die Fürsten bereits reicher sind und ihre engsten Diener besser leben können, aber nicht bei uns. Ich ahnte es schon gleich wegen deiner feinen Hände und deinem Benehmen. Du stammst aus einem Fürstenclan, Mädchen.«
Libussa senkte den Kopf. Auf einmal fühlte sie sich zu erschöpft, um nach Ausflüchten zu suchen. »Weiß Premysl davon? Hast du mit ihm gesprochen?«, flüsterte sie nur.
Die alte Frau seufzte tief. »Nein, denn ich will mich nicht einmischen. Ich habe im Leben gelernt, dass man die schönen Zeiten genießen muss, solange sie dauern. Sie kommen selten genug. Es gibt nur eine Sache, um die ich dich bitten möchte.« Sie rückte näher an Libussa heran. Ihr Blick war frei von Vorwürfen oder Feindseligkeit. »Wenn die Zeit kommt, da du genug von diesem Abenteuer hast und dein Vergnügen anderweitig suchst, dann verletze meinen Sohn bitte nicht zu sehr. Er hat es schwer genug, weil er sich immer wieder gegen die Fürstin Olga und ihre Söhne auflehnt, auch wenn das nur zu weiteren Schikanen führt. Deine Besuche hier machen ihm Freude. Aber wenn du nicht mehr kommen willst, vielleicht könntest du dann einfach wegbleiben, damit er nicht erfährt, wie du ihn getäuscht hast. Dann könnte er dich als schöne Erinnerung behalten.«
Libussa fror plötzlich. Die alte Frau stellte sie als so hässlich hin, so selbstsüchtig und gemein. »Genauso gut könnte Premysl doch einmal die Lust an mir verlieren«, meinte sie unsicher, doch die alte Frau war nicht zu überzeugen.
»Ich kenne diese Welt, mein Mädchen. Dein Leben ist voller Möglichkeiten, die Premysl nicht hat.«
Noch während sich Libussa fragte, was denn so besonders an ihrem Leben sein sollte, öffnete sich zu ihrer Erleichterung endlich die Tür und Premysl trat ein. Er musste sich bereits am Dorfbrunnen gewaschen haben, denn sein Haar war nass. Wieder einmal vermied er es, sie anzusehen, was sie nun als Zeichen von Verlegenheit deutete. Vermutlich schämte er sich für seine schmutzige Kleidung und die vom langen Schwingen der Sichel aufgerissenen Handflächen. Aber Krieger sahen auch nicht besser aus, wenn sie von einem Wettkampf kamen. Sie stand auf und umarmte ihn zur Begrüßung, was sie sonst vor seiner Mutter nie gewagt hatte. »Lass uns etwas Brot und Schinken nehmen. Dann können wir draußen am Flussufer essen«, sagte sie, denn die Gegenwart der alten Frau war ihr unangenehm geworden. Premysl sah überrascht aus, aber er willigte ein, nachdem er sich bei seiner Familie entschuldigt hatte.
Er schwieg den ganzen Weg über, doch sobald sie an der gewohnten Stelle waren, riss er sie an sich. Bei den letzten Treffen waren seine Berührungen immer sicherer und geschickter geworden, aber nun spürte sie einen unbändigen Hunger in ihm. Libussa gefiel es. Sie gab seinem Drängen nach, das vertraute Gefühl von leidenschaftlicher Erregung durchströmte ihren Körper und ließ sie schließlich aufschreien.
Nach einer Weile hörte sie, wie Premysls Atem an ihrer Seite allmählich ruhiger wurde. »Es tut mir leid«, flüsterte er, »ich bin über dich hergefallen.«
Libussa lachte. »Das hat mich nicht gestört, wie du vielleicht gemerkt hast.« Sie rollte sich auf ihn und spürte klebriges Nass unter ihrer rechten Hand. Es fühlte sich nicht an wie Wasser. Als der Mond hinter den Wolken hervorkam, sah sie das Blut. An Premysls Schulter klaffte eine offene Wunde.
»Du bist verletzt. Das muss verbunden werden«, sagte sie erschrocken und dachte sofort an Kazis ruhige heilende Hände.
»Es ist nichts Schlimmes. Meine Mutter wird sich morgen darum kümmern.«
Die Erwähnung der alten Frau rief Libussa deren Worte in Erinnerung, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
»Waren die Söhne der Lemuzi-Fürstin bei den Feldern?«
»Ja. Gemeinsam mit ihren Kriegern. Sie beobachten jetzt schon, wie die Ernte ausfällt, damit wir nichts vor ihnen verstecken können. Es wird so sein wie im letzten Jahr. Sie wollen uns gerade das Nötigste lassen, damit wir nicht verhungern und sie ihre Arbeitskräfte nicht verlieren.«
Libussa ließ sich wieder auf den Rücken fallen. Vielleicht konnte sie mit Onkel Krok reden, der schon von seiner Reise zu den Wilzen zurück sein musste. Er hatte jede Ungerechtigkeit stets gehasst. Doch die vage Hoffnung verschaffte ihr keine Erleichterung. Premysl hatte sich aufgerichtet und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich kann nicht hierbleiben. Diese Wut, das ist, als würde es in mir brennen. Ich nehme mir vor, mich zurückzuhalten, aber es gelingt mir nicht.«
Libussa streichelte seinen Rücken. Er hatte lange nicht mehr mit ihr über den Lemuzi-Fürstenclan gesprochen. Sie wusste so wenig von seinem Leben. Die alte Frau hatte recht, sie war eine Fremde, die einfach kam und ging.
Premysl legte sich wieder an ihre Seite und zog sie an sich. »Hör zu, ich habe nachgedacht. Schon vorher, aber vor allem heute auf den Feldern. Was du damals gesagt hast über die Schnitzerei. Vielleicht hast du recht. Ich könnte versuchen, davon zu leben. Außerdem kann ich Räder und Werkzeug richten. Die anderen Bauern kommen deshalb oft zu mir.«
Libussa nickte und fühlte ein vages Unbehagen. Wohin wollte er denn gehen, wenn er sein Dorf verließ?
»Ich dachte mir, wir wahren die alten Sitten. Dass der Mann zu der Frau kommt und nicht umgekehrt, verstehst du? Ich kann schlecht von dir verlangen, in eine Bauernhütte zu ziehen, denn du bist Besseres gewöhnt. Das kann jeder sehen.« Diesmal lag keinerlei Spott in seiner Stimme. »Ich weiß immer noch nicht, wer du bist«, fuhr er fort, »und du hast sicher gute Gründe, es mir nicht zu sagen, aber wenn du willst, dann ... dann ... könnte ich versuchen, mich in Chrasten oder in der Nähe niederzulassen. Ich erwarte nicht, dass du mit mir die Hochzeitszeremonie vollziehst. Wir müssten auch nicht gleich zusammenleben, aber wir könnten uns öfter sehen, damit wir einander besser kennen lernen.«
Libussa war wie gelähmt. Ein Teil von ihr wollte am liebsten tanzen vor Freude, aber sie durfte ein solches Gefühl nicht zulassen. »Was ist mit deiner Mutter und Magda?«, flüsterte sie.
»Mit meiner Mutter habe ich schon gesprochen. Sie sieht ein, dass ich hier kein Leben habe. Natürlich werde ich die beiden mitnehmen. Wie gesagt, wir müssen nicht alle unter einem Dach wohnen, wenn du nicht willst.«
Ihre Tränen kamen so plötzlich, dass sie selbst völlig überrumpelt wurde. Sie flossen über ihre Wangen, und sie wandte sich von Premysl ab. Ich verdiene ihn nicht, dachte sie verzweifelt, und ich bin eine feige Lügnerin.
»Was ist mit dir? Das kommt sehr plötzlich, ich weiß. Du musst dich nicht sofort entscheiden«, beschwichtigte sie Premysl sanft. Er schloss sie wieder in seine Arme. Libussa ließ es geschehen, obwohl sie sich in diesem Augenblick weit fort wünschte.
»Ruh dich erst einmal aus. Du hattest einen harten Tag«, murmelte sie. »Morgen reden wir darüber.«
Ihr Kopf lag auf seiner Brust, und sie spürte, wie er allmählich einschlief. Sie beneidete ihn um seine Erschöpfung, denn sie selbst konnte keine Ruhe finden, und die Worte seiner Mutter wirbelten in ihrem Kopf herum. Die alte Frau hatte gewusst, was er plante, deshalb hatte sie so eindringlich mit ihr gesprochen. Jetzt musste sie tun, worum seine Mutter sie gebeten hatte: fortgehen und nicht wiederkommen. Er würde enttäuscht sein, aber verstehen. So wäre es am besten. Er sollte nicht erfahren, wie sie ihn belogen hatte.
Die Tränen kamen nochmals mit größerer Heftigkeit. Sie bebte innerlich, als sie vorsichtig aufstand, sich anzog und zum Dorf schlich, um Steka zu holen.
Die Stute trabte ruhig aus Staditz in den finsteren Wald hinein. Die Nacht, das unheimliche Reich der Geister, erschien Libussa nun zu unwichtig, um bedrohlich zu sein. Sie wischte sich nochmals die Tränen ab, aber es kamen sogleich neue. Der Schmerz glich einem Schwert, das tief in ihr steckte, aber das war wohl erst der Anfang. In den nächsten Tagen würde es noch schlimmer werden.
Sie sehnte sich nach Kazis nüchterner Klarheit. Ihre älteste Schwester wusste stets Rat, wenn andere verzweifelt waren. Was würde sie wohl sagen, wenn sie jetzt hier wäre? Sie hatte von Anfang an gemeint, dass diese Heimlichtuerei Libussa eines Tages Schaden bringen würde: »Sag es ihm so bald wie möglich«, das war ihr Rat gewesen. »Und kannst du damit leben, einen Bauern zum Gefährten zu haben? Unserer Mutter wird es nicht gefallen, auch wenn ich nicht glaube, dass sie es dir verbieten wird. Sie schätzt ihre eigene Freiheit zu sehr, um unsere einzuschränken. Aber man wird in Chrasten Witze über dich reißen, denk an Thetkas böse Zunge.«
Thetka, die sich nach Slavonik sehnte, ohne von ihm beachtet zu werden. Libussa wusste, sie hatte Glück, weil Premysl sie ebenso wollte wie sie ihn. Er war ein besserer Mann als Slavonik. Und dennoch sollte sie ihn verlassen?
Am Waldrand brachte sie das Pferd zum Stehen. Vielleicht hatte seine Mutter sie gebeten zu gehen, weil sie ahnte, dass er ihr vergeben würde? Sie sähe ihren Sohn sicher lieber mit einem der Dorfmädchen. Vielleicht sollte sie doch mit ihm reden?
Unschlüssig ritt sie weiter und ließ das Pferd wie von selbst in jene Richtung laufen, wo Premysl schlief. Wenn er aufwachte, dann würde sie ihm die Wahrheit sagen. Er sollte nach Chrasten kommen, wenn er wollte, und sie würde sich nicht für ihn schämen. Sie spürte eine Woge der Erleichterung durch ihren Körper ziehen. Auf einmal fühlte sie sich schwerelos und trieb Steka ungeduldig voran.
Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren, das Wiehern eines Pferdes, und bald schon knackten Zweige in ihrer Nähe. Die Geister! Aber hatte Premysl nicht gesagt, es gäbe hier noch Schlimmeres?
Der dunkle Wald spuckte drei Reiter aus, die sich vor Libussa aufbauten. Sie trugen Speere und Schilde, als zögen sie in den Kampf. »Wohin des Weges, schönes Mädchen?«, meinte der Kleinste von ihnen.
Trotz seiner nicht unfreundlichen Worte lief Libussa ein Schauer über den Rücken. Die Fremden hatten Augen wie hungrige Wölfe.
»Ich bin auf dem Heimweg. Seid bitte so freundlich und lasst mich vorbei.«
Sie wollte weiterreiten, doch die Männer kreisten sie ein. Steka schnaubte nervös und Libussa streichelte sie zur Beruhigung. »Was wollt ihr? Lasst mich bitte gehen. Ich habe nichts, das ich euch geben könnte.«
Sie lachten. »Oh doch, das hast du, schönes Mädchen.«
Die Männer redeten in der Sprache der Behaimen, doch der Größte von ihnen sah fremdländisch aus. Seine Statur war riesig und die wilde Haarmähne schimmerte rötlich im Mondlicht. Ein dichter Bart verbarg sein Gesicht. Konnte er einer jener Nordmänner sein, die Fürstin Olga ins Land geholt hatte?
Sie hörte das Hämmern ihres Herzens. »Nimm den Dolch! Wehre dich!«, flüsterte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Aber was konnte sie ausrichten gegen drei bewaffnete Krieger?
Ein Angriff würde sie vielleicht nur zorniger machen. Sie musste versuchen, geschickt und beherrscht vorzugehen. »Ihr könnt mein Pferd haben, wenn ihr wollt. Ich laufe zu Fuß weiter«, bot sie mit freundlicher, möglichst furchtloser Stimme an.
Die Vorstellung, Steka diesen unheimlichen Fremden zu überlassen, schmerzte so sehr, dass sie fast erleichtert war, als Antwort nur grölendes Gelächter zu hören. »Das Pferd nehmen wir uns schon noch. Aber erst einmal nehmen wir dich.«
Sie wusste, dass sie eine Fluchtmöglichkeit abpassen musste, aber panische Angst lähmte ihren Körper und ihren Verstand.
»Los, Vojmir. Du bist als Erster dran. Hol die Kleine vom Pferd!« Diesmal hatte der Riese gesprochen. Die Worte klangen hart und unmelodisch aus seinem Mund. Er musste wirklich ein Fremder sein. Der Mann namens Vojmir stieg ab und kam auf sie zu. Als er seine Hand nach ihrem Bein ausstreckte, gewann Libussa endlich die Beherrschung über ihren Körper wieder zurück. Sie trat mit ihrer Stiefelspitze nach dem Fremden und sah mit Freude einen Schwall Blut aus seiner Nase strömen.
»Lasst mich in Ruhe! Verschwindet!«, schrie sie aus Leibeskräften. Sie versuchte, Steka an den anderen Pferden vorbeizutreiben, aber ein starker Arm legte sich um ihre Taille, und die Zügel wurden ihr aus der Hand gerissen.
»Na, dann bin eben ich der Erste, der die Kleine bekommt«, flüsterte der Riese ihr ins Ohr. Er roch nach Schweiß und Met, und sie zappelte hilflos in seiner Umklammerung, die wie eine eiserne Fessel war.
Hoffentlich läuft Steka weg, bevor sie sie mitnehmen können, schoss es Libussa durch den Kopf. Sie schloss die Augen und sehnte sich nach Bewusstlosigkeit. Dann öffnete sich die eiserne Fessel plötzlich.
»Reite weg! Schnell!« Premysls Stimme schien von weit her zu kommen, doch als sie ihre Augen öffnete, stand er dicht neben ihr. In seiner Hand hielt er einen dicken Ast, mit dem er nach dem Riesen geschlagen haben musste. Libussa regte sich nicht. Auf einmal war alles nur noch ein schrecklicher Traum, aus dem sie nicht erwachen konnte.
Alle drei Krieger stürzten sich auf Premysl und kreisten ihn ein. Sie hieben und stachen mit ihren Speeren nach ihm, heftig genug, um ihm Wunden zuzufügen und ihn manchmal auch stürzen zu lassen, aber sie gaben ihm die Zeit, sich wieder aufzurappeln. Manchmal gelang es ihm, einen von ihnen mit dem Ast zu treffen. Dann war der nächste Speerstich etwas heftiger. Sie hätten ihn auf der Stelle töten können, doch das Spiel schien ihnen Freude zu bereiten.
Etwas in ihr zerbarst. Sie hörte einen lauten, wilden Schrei durch den Wald dringen. Es war der uralte Schlachtruf ihres Volkes, den ihre Mutter sie einst gelehrt hatte. Damals war er ihr albern vorgekommen, doch nun begriff sie seinen Sinn. Die Macht ihrer eigenen Stimme trieb sie voran. Sie riss den Dolch aus ihrem Gürtel und raste auf jenen Krieger zu, dessen Speer gerade auf Premysl gerichtet war. Es gelang ihr, den Dolch in seinen Rücken zu rammen. Ihre Hand färbte sich rot. Dann war alles wie ein Rausch. Sie hieb und duckte sich, um Angriffen auszuweichen, während das Blut in ihren Ohren toste.
Der Überraschungsangriff hatte ihr einen kurzen Vorteil verschafft, denn keiner der drei Männer schien mit ihrer Einmischung gerechnet zu haben. Sie waren zu verblüfft, um ebenso heftig zurückzuschlagen, doch das änderte sich schnell. Stechende Schmerzen schössen durch ihren Körper, als die Speerspitzen sie immer wieder trafen. Die Kraft in ihrem Arm ließ langsam nach. Sie hatte nie gelernt, so zu kämpfen wie Thetka. Die Kampfausbildung hatte ihr nicht gefallen. Doch selbst Thetka hätte sich nicht gegen diese drei Männer behaupten können. Premysl hieb an ihrer Seite mit dem Ast um sich, kräftig und geschickt wie ein zorniger Dämon. Es stimmte wohl, dass er einst zum Krieger ausgebildet werden sollte, aber trotzdem war ihr beider Kampf aussichtslos. Sie hatte davon geträumt, mit ihm gemeinsam leben zu können. Und jetzt starben sie zusammen.
Eine Speerspitze raste auf sie zu. Libussa duckte sich, doch eine andere näherte sich ebenso schnell, dass sie nicht zurückweichen konnte. Dann ertönte ein Schrei. Premysls Ast hatte den Arm des Angreifers getroffen, und er ließ seine Waffe fallen. Auf einmal steckte der Speer in der Hüfte des Kriegers. Premysl zog ihn rasch wieder heraus, und Libussa sah, wie der Fremde vom Pferd fiel. Auch Vojmir wirkte geschwächt, da ihr Dolch ihn getroffen hatte. Jetzt war nur noch der Riese eine Gefahr, und es gab vielleicht Hoffnung.
Das Horn schreckte sie auf. Der am Boden liegende Krieger blies kräftig hinein und Libussas Hoffnungen wurden von herannahendem Hufgetrappel zerstört. Es war vorbei. Woher kamen all diese Räuber, von denen Onkel Krok nichts wusste? Nun saß sie ruhig auf ihrer Stute. Es hatte keinen Sinn, weiterzukämpfen. Auch der Riese regte sich nicht, sondern musterte erwartungsvoll die zwei Reiter, die auf ihn zukamen.
Der junge Mann brachte sein Pferd zum Stehen. Libussa erkannte das runde, von hellblondem Haar umrahmte Gesicht sofort. Sie verstand aber nicht, warum die Räuber diesen Mann nicht angriffen.
Als Neklan sie ansah, zuckte er zusammen, als habe ihm jemand einen Hieb versetzt. »Ihr Hornochsen!«, schrie er und sprang vom Pferd, um dem am Boden liegenden Krieger ein paar Tritte zu versetzen. »Habt ihr keinen Verstand im Kopf?«
Der getretene Krieger stöhnte, während Vojmir sich unauffällig zu entfernen versuchte, als habe er selbst Angst vor Schlägen. Nur der Riese musterte das Geschehen mit abfälliger Miene. »Wir taten, was du befahlst, Herr. Schnappten uns die Kleine. Der Mistkerl ging dazwischen, aber wir hätten ihn schon noch kaltgemacht. Ich schaffe das auch allein.«
»Bitte schweig, Tyr«, erwiderte Neklan in durchaus respektvollem Ton. »Du weißt nicht, worum es hier geht.« Dann wandte er sich wieder den beiden anderen Kriegern zu, vor denen er offenbar weniger Achtung hatte. »Wisst ihr Schwachköpfe denn nicht, wer dieses Mädchen ist? Wollt ihr, dass Krok von den Cechen und alle anderen Stämme über uns herfallen wie ein Schwarm wütender Hornissen? Habt ihr keine Augen in euren hohlen Köpfen? Seht sie doch an! Ist das etwa eine Bauernschlampe, die da vor euch auf dem Pferd sitzt?« Er verteilte noch mehr Tritte und Libussa fand es an der Zeit, dieses Schreien und Toben zu beenden.
»Ich bin die jüngste Tochter der Fürstin Scharka von den Cechen. Mein Name ist Libussa.«
Fassungslose Blicke hingen an ihr. Nur der Nordmann grinste spöttisch, und sie fragte sich, ob er überhaupt vor etwas Achtung hatte.
Doch auf einmal erfüllte sie rauschende Freude, so dass sie alle Schmerzen vergaß: Der Tod, der Eintritt in das Reich des Veles, war so nahe gewesen, dass sie seine kalte Berührung spüren konnte. Doch sie lebten beide noch! Libussa sprang vom Pferd und lief auf Premysl zu, der blutend am Boden kauerte. Aus seinen Augen sprachen nur Zorn und Schmerz. Als sie die Hand nach ihm ausstreckte, wich er zum ersten Mal vor ihrer Berührung zurück.
Jetzt hat das Mädchen einen Namen, dachte sie und fühlte, wie ihre Beine schwach wurden.
Das Gesicht über ihr wirkte rund wie der volle Mond, die Augen waren schwarz umrandet und der Mund leuchtete unnatürlich rot. Kupferfarbenes Haar hing an beiden Seiten herab, am Ansatz kam bereits wieder Grau zum Vorschein. Trotz all ihrer Mühen gelang es Olga von den Lemuzi nicht, so frisch und jung auszusehen wie Scharka von den Cechen. Aber Libussa verstand nicht, warum ausgerechnet die Lemuzi-Fürstin ihr im Traum erschien.
»Wie geht es dir, Mädchen? Möchtest du etwas trinken?«
Die schrille, heitere Stimme schreckte Libussa auf. Sie erkannte hölzerne Wände um sich, viele Tische, auf denen Geschirr aus Bronze stand, sogar einige Silberbecher, die in Chrasten nur bei besonderen Anlässen verwendet wurden. Überall erblickte sie bestickte Tücher. Libussa begriff, dass sie in Zabrusany sein musste, der Festung der Lemuzi. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch die Schmerzen schössen durch jedes Glied ihres Körpers.
»Bleib ein bisschen liegen. Du musst dich erholen. Ich kann dir meinen Sänger vorbeischicken. Er ist wirklich gut. Dann gibt es hier noch eine alte Frau, die wunderschöne Geschichten erzählen kann, über Geister und Helden. Und wenn du Hunger hast, dann ...«
»Wie bin ich hierhergekommen, Olga?«
Dichter Nebel trübte Libussas Bewusstsein. Dahinter lauerte etwas Hässliches, das sie nur dunkel erahnen konnte.
»Wir reden darüber, sobald du wieder bei Kräften bist. Jetzt brauchst du erst einmal einen Schluck Wein.« Olga wandte sich zu einem der zahlreichen kleinen Tische und griff nach einem Krug. Währenddessen drangen männliche Stimmen aus dem Nebenraum an Libussas Ohr: »Woher sollte ich denn wissen, dass die Kleine, die regelmäßig zu ihm rennt, ausgerechnet Libussa von den Cechen ist?«
»Nein, wie solltest du auch? Wo doch jede Bauernschlampe ein Pferd hat.«
Olgas Söhne. Neklan und Vojtan. Der Nebel begann, sich zu lichten.
»Hier, mein Mädchen. Nach einem Becher mit gutem Wein fühlst du dich gleich besser«, meinte Olga unnötig laut, als wolle sie die Unterhaltung im Nebenraum übertönen. Allmählich erstanden in Libussas Kopf klare Bilder und lösten ein Entsetzen aus, das stärker war als aller Schmerz. Sie fuhr auf. »Wo ist Premysl?«
Olga reichte ihr den Wein und Libussa unterdrückte ihren Wunsch, den Becher an die Wand zu werfen. Zu sehr saß ihr die Erziehung zur Fürstentochter in den Knochen.
»Beantworte meine Frage, Olga! Was habt ihr mit Premysl gemacht?«
Die Lemuzi-Fürstin verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln. In ihren Augen meinte Libussa Unsicherheit zu erkennen. »Er ist in der Küche bei den Knechten und Mägden. Meine Heilerin hat sich um ihn gekümmert. Er hat schwerere Verwundungen als du, aber er wird durchkommen.«
Erleichtert nahm Libussa einen Schluck aus dem Weinbecher. In ihrem Kopf drehte sich alles. Seit ihrer frühen Kindheit hatte sie Olga von den Lemuzi gekannt. Eine eitle, launische Frau, deren Aufmachung meist lächerlich war. Trotzdem nahm Libussa sie stets vor Thetkas erbarmungslosem Spott in Schutz. Olga schien schwierig, aber harmlos. Wie kam es, dass sie ihr auf einmal solchen Widerwillen einflößte?
»Wie konnte das geschehen, Olga?«, murmelte sie fassungslos.
»Was meinst du?« Fürstin Olga rutschte auf ihrem Stuhl herum.
»Diese Männer, die mich im Wald angegriffen haben, das waren doch die Krieger deiner Söhne?«
Olga nickte und wirkte sehr bemüht, dabei auf natürliche Weise zu lachen. »Aber ja, Kindchen, doch sie kannten dich nicht. Du bist sie ganz schön angegangen. Vojmir ist schwer verwundet. Es war alles ein dummes Missverständnis, deshalb wird es keine Folgen haben. Auch nicht für diesen Bauern, der auf unsere Männer eingeprügelt hat. Ich werde ihm vergeben.«
Libussa atmete tief durch, um nicht zu schreien. »Aber du duldest das Verhalten dieser Krieger, die eine Frau so einfach überfallen?«
»Krieger sind eben Krieger, Mädchen. Es war ganz schön dumm von dir, so allein durch den Wald zu reiten. Man soll bissige Hunde nicht reizen.«
»Krieger«, wiederholte Libussa Kroks Lehren, »sollten in ihrem Verhalten ein Vorbild für andere Männer sein. Es würde dem Stammesführer nicht gefallen, was du ihnen erlaubst. Und auch die anderen Dinge, die du tust, verstoßen gegen die Regeln unseres Volkes. Du beutest deine Bauern aus, anstatt für sie zu sorgen.«
Olgas Augen begannen zu funkeln, auch wenn sie weiterhin lächelte. »Vielleicht haben dein Onkel und ich unterschiedliche Vorstellungen über das Verhalten von Herrschenden. Oder aber du glaubst zu sehr an schöne Worte und verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Du bist noch sehr jung, Libussa, und verstehst nichts vom Regieren. Ich herrsche schon seit vielen Jahren über mein Land und habe einiges gelernt im Laufe der Zeit.«
»Was hast du gelernt?«, zischte Libussa. »Wie man anderen das Brot nimmt, um selbst rund und fett zu werden? Wie man aus seinen Kriegern eine Meute wilder Hunde macht, die über Schwächere herfallen? Sind das die Zeichen deiner Weisheit?«
Olga seufzte gequält, als falle es ihr ebenso schwer, die Beherrschung zu wahren. »Ein Fürst braucht Ansehen in der Welt. Wir gelten bei reicheren Völkern als Barbaren, weil wir kaum besser aussehen als unsere Bauern. Händler erzählten mir von den prächtigen Burgen in anderen Ländern, dem teuren Schmuck und der edlen Kleidung in fürstlichen Familien. Es ist notwendig, dass auch wir endlich anfangen, etwas darzustellen. Wenn deine Mutter das anders sieht, dann ist das natürlich ihr Recht. Aber ich habe gute Gründe für mein eigenes Verhalten.«
»Vielleicht haben die Händler dir auch etwas eingeredet, um mit dir gute Geschäfte zu machen. Denn weißt du, Olga, alle in Chrasten lachen über deine angeblich so prächtige Aufmachung. Thetka sagt, du bist wie ein bunt bemaltes Ei.«
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, erschrak Libussa. Sie hatte noch niemals im Leben so boshaft mit einem anderen Menschen gesprochen. Doch Olga wirkte nicht verletzt. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und begann zu reden. Zum ersten Mal lag keine gekünstelte Fröhlichkeit in ihrer Stimme.
»Ich höre Premysl aus dir sprechen. Und ich verstehe dich besser, als du glaubst. Auch als alte Frau erkenne ich einen hübschen jungen Mann, wenn ich ihn sehe. Aber du solltest nicht vergessen, wer er ist. Ein unzufriedener Bauer, der seine Chance zu einem Aufstieg in meinen Diensten selbst weggeworfen hat. Glaube ihm nicht jedes Wort. Wenn man so jung ist wie du, dann verschenkt man sein Herz sehr schnell.«
»Und in deinem Alter hat man vielleicht keines mehr, das man noch verschenken könnte.«
Olgas Gesicht verfinsterte sich. »Es ist schon gut«, fuhr sie fort. »Ich verstehe, dass du aufgebracht bist. Aber jetzt lass uns dieses dumme Missverständnis einfach vergessen. Wir werden uns gemeinsam eine Geschichte ausdenken, wie du zu deinen Verletzungen gekommen bist, damit deine Mutter nichts von deinem Abenteuer erfährt. Du weißt, dein Onkel nimmt es sehr ernst mit unseren Traditionen. Es würde ihm nicht gefallen, dass du einem Mann nachgelaufen bist, anstatt ihn zu dir kommen zu lassen. Aber er muss ja nichts davon wissen. Wir schweigen einfach beide, einverstanden?«
Libussa nahm die unterschwellige Drohung zur Kenntnis.
»Vielleicht«, begann sie, »wird mein Onkel wütend auf mich sein. Und sogar meine Mutter. Aber trotzdem müssen sie von dem Benehmen deiner Söhne erfahren. Jemand sollte sie zurechtweisen. Du selbst tust es offenbar nicht.«
»Aber ich habe doch schon mit ihnen gesprochen! Es tut ihnen sehr, sehr leid, was vorgefallen ist. Sie werden sich persönlich bei dir entschuldigen, wenn du darauf bestehst.«
Libussa rieb sich die Schläfen, um das Hämmern in ihrem Kopf zu vertreiben. »Auf so eine verlogene Entschuldigung kann ich verzichten! Wenn ich zu Hause bin, dann rede ich selbst mit meiner Mutter und Onkel Krok. Aber jetzt will ich zu Premysl. Ich muss sehen, wie es ihm geht.«
Olga rutschte auf ihrem Stuhl herum. Als sie zu reden begann, war ihr Blick gesenkt. »Es ist, wie ich sagte. Er hat schwere Verletzungen, aber meine eigene Heilerin kümmert sich um ihn. Das täte ich nicht für jeden Bauernjungen.« Dann schwieg sie einen Augenblick, als falle es ihr nicht leicht fortzufahren. »Libussa, bevor du dir überlegst, was du in Chrasten erzählen wirst, solltest du eine Sache nicht vergessen. Dein Premysl lebt weiter auf meinen Ländereien. Es könnte ihm vielleicht ein Unglück geschehen.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts Bestimmtes. Nur, dass der Wald voller Gefahren ist, wie du selbst mitbekommen hast. Außerdem ist der Junge schwer verletzt. Es kann Wochen dauern, bis er wieder fest auf den Beinen steht. Dann ist es vielleicht schon zu spät für ihn, die Ernte einzubringen. Was soll aus seiner Mutter und Schwester werden? Wenn du mir entgegenkommst und keine bösen Geschichten über mich oder meine Söhne verbreitest, verspreche ich dir, dass meine Heilerin Premysl gesund pflegen wird und dass ich auch für seine Familie sorgen werde. Allerdings würde es mir nicht gefallen, wenn du weiter verkleidet in meinen Ländereien herumschleichst, verstehst du?«
Libussa versuchte, sich zu erheben und stöhnte dabei auf. Die Wunde an ihrem Oberschenkel begann wieder zu bluten. Als Olga die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie entsetzt zurück. Die alte Freundin ihrer Mutter schien ihr nun fremd, als sei sie die ganze Zeit nur ein böser Geist in Menschengestalt gewesen. Die Begegnung mit Premysl hatte ihre Welt verändert. Oder nur die Art, wie sie diese Welt sah. »Ich will deine Hilfe nicht«, wies sie Olga von sich. »Sag mir, wie ich zu Premysl komme. Ich möchte noch einmal mit ihm reden, damit er mich versteht. Danach reite ich nach Hause. Ich werde schweigen, wie du es wünschst. Und auch nicht mehr wiederkommen. Auf deine Gesellschaft verzichte ich gern.«
»Nimm wenigstens ein Kleid von meiner Tochter! Deine Tunika ist zerrissen.«
Libussa musterte die blutbefleckten Fetzen an ihrem Körper und nahm das Angebot widerwillig an. Olga rief nach einer Magd, die sogleich mehrere bunt bestickte Gewänder brachte.
»Nimm das Blaue, es passt zu deinem Haar«, flötete Olga nun, als wollte sie die Feindseligkeit dadurch überwinden. Wahrscheinlich würde sie als Nächstes anbieten, noch etwas von ihrem Schmuck zu verleihen. Libussa ging so schnell wie möglich hinaus, denn Olgas Freundlichkeit schien ihr noch unerträglicher als alle vorherigen Drohungen.
Libussa erkannte den kleinen Holzbau, den Olga ihr als die Küche beschrieben hatte. Sie bewegte sich so schnell wie möglich vorwärts, obwohl bei jedem Schritt ein Messer in ihren rechten Oberschenkel stach. Die anderen Wunden waren erträglich, aber sie würde noch einmal den Verband an ihrem Bein wechseln lassen müssen, bevor sie den Heimritt antrat. Vielleicht befand sich die Heilerin noch bei Premysl und konnte es gleich erledigen.
Ihr wurde langsam klar, dass es ein Fehler gewesen war, Streit mit der Lemuzi-Fürstin zu beginnen. Sie hätte nicht drohen dürfen, sich bei ihrem Onkel zu beschweren. Aber nun war es nicht mehr zu ändern. Sie musste sicherstellen, dass Premysl außer Gefahr blieb, dann nach Möglichkeiten suchen, wie sie sich trotz der widrigen Umstände weiter sehen konnten. Diese Entschlossenheit half ihr, die aufkeimende Angst und Verzweiflung zurückzudrängen. Ihr Wille war ein Ast, auf den sie sich stützte.
Kaum hatte sie die Küche betreten, blickten mehrere Augenpaare sie staunend und verunsichert an. Plötzlich fühlte sie sich unwohl in dem fein gewebten, mit Stickereien verzierten Kleid Ludmillas. Es machte mehr als deutlich, zu welchen Leuten sie gehörte.
Premysl lag auf einer Strohmatte in der Mitte des Raumes. Ein junges Mädchen war im Begriff, ihm eine Brühe einzuflößen. Er schien hauptsächlich aus Verbänden zu bestehen, die sich bereits rot gefärbt hatten. Sein Gesicht war aschfahl, und er musste bereits viel Blut verloren haben. Libussa sehnte sich nach Kazis Gegenwart.
»Ich muss mit ihm reden«, beantwortete sie die stumme Frage, die in den Augen aller Anwesenden zu lesen war. Niemand rührte sich, nur die Blicke wurden feindseliger.
»Es ist in Ordnung. Lasst mich mit ihr allein«, murmelte Premysl und die Leute gingen hinaus. Das Mädchen mit der Brühe musterte Libussa dabei so hasserfüllt, dass ihr Tränen in die Augen schössen.
»Bist du hier, um Abschied zu nehmen, Libussa von den Cechen? Das ist edel, aber unnötig. Du wolltest doch ohnehin fortreiten, als sie dich im Wald aufhielten.« Zum ersten Mal sprach er ihren Namen aus, doch seine Worte schmerzten mehr als jede ihrer Wunden. Sie begann zu ahnen, wie ihr heimliches Fortgehen auf ihn gewirkt haben musste. Was machte es noch für einen Sinn, ihm zu versichern, sie hätte es sich bald schon anders überlegt? Eine solche Beteuerung würde sie an seiner Stelle auch nicht glauben. »Dein Angebot kam so unerwartet«, erklärte sie leise. »Es machte mir Angst. Aber ich habe unüberlegt gehandelt. Es tut mir leid, vor allem wegen der Folgen, die es für uns beide hatte.«
Premysl schüttelte den Kopf. »Der Überfall hat nichts mit dir zu tun. Sie hatten es auf mich abgesehen, schon seit längerem. Du bist da nur mit hineingeraten, weil sie wussten, dass du mein Mädchen warst. Wie sollten sie denn ahnen, welch edlen Besuch ich regelmäßig bekam? Ich wusste es ja nicht einmal selbst.«
Sein spöttisches Lachen traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie trat einen Schritt zurück. Wie dumm sie sich die ganze Zeit benommen hatte! Wie eine unreife, verwöhnte Fürstentochter auf der Suche nach ein bisschen Aufregung. Ihr graute vor dem Bild, das er nun von ihr haben musste. Olga von den Lemuzi vermochte ihre Beziehung nicht zu zerstören, doch wenn Premysl selbst es wollte, konnte sie daran nichts ändern.
»Es tut mir leid. Ich hätte dir gleich sagen sollen, wer ich bin, aber du sprachst so schlecht von den fürstlichen Familien, dass ich es nicht wagte.« Ihre Stimme klang kleinlaut, und sie kam sich dadurch noch ein wenig dümmer vor.
»Es ist schon gut, Libussa«, meinte er in etwas versöhnlicherem Ton. »Ich hätte mich nicht einzulassen brauchen mit einem Mädchen ohne Namen. Lass uns in Frieden auseinandergehen.«
Seine Augen blickten starr zur Decke. Sie hatte Angst zu sprechen, denn es brauchte nun ihre ganze Kraft, die Tränen zurückzuhalten.
»Was ist? Gibst du mir noch einmal die Hand, Mädchen ohne Namen?« Er richtete sich stöhnend auf. Libussa kam langsam näher. Sie musste es hinter sich bringen.
Als sie vor ihm stand, schien er vor einer Berührung zurückzuschrecken, ebenso, wie er ihren Anblick vermied. »Du hast gekämpft wie eine zornige Vila. Scheinbar bringen Fürstinnen ihren Töchtern auch nützliche Dinge bei.«
Es gelang ihr zu lächeln. »Mehr nützliche Dinge, als du denkst. Aber sag mir, warum hatten es Olgas Söhne auf dich abgesehen?«
Er wirkte erleichtert, dass sie die Unterhaltung fortsetzte, anstatt zu gehen. »Ich habe mit den Leuten aus meinem Dorf geredet und auch mit Bauern in der Nachbarschaft. Wir wollten uns alle gemeinsam auflehnen, wenn die Lemuzi-Fürsten wieder höhere Abgaben verlangen, als Sitte ist. Es geht so nicht weiter, Libussa. Sie machen es uns sogar schwer, ihre Ländereien zu verlassen, denn angeblich sind Bauern bei anderen Völkern das Eigentum der Fürsten. Wohin soll das führen? Wenn sie damit durchkommen, werden die fürstlichen Clans der anderen Stämme es ihnen mit der Zeit nachmachen. Dann hat es bald nicht einmal mehr Sinn, an einen anderen Ort zu gehen.«
»Dann hast auch du Dinge vor mir verborgen«, sagte sie, ermutigt durch seine Redseligkeit.
»Ich wollte dich nicht mit hineinziehen. Diese Geschichte betraf dich nicht. Außerdem glaubte ich, dass du einer hohen Herrin dienst, und da dachte ich, dass ... dass ...«
»Dass du mir nicht trauen kannst, nicht wahr?«
Sein Schweigen war eine deutliche Antwort auf ihre Frage. Libussa setzte sich neben ihn auf den Boden. Sie wagte ein weiteres Lächeln und sah mit Erleichterung einen Funken von Wärme in seinen Augen.
»Als du gesagt hast, du wolltest nach Chrasten gehen, was war da mit deinem Aufstand?«
Sein Gesicht verschloss sich wieder vor ihr. »Ich wäre danach gekommen. Zuerst wollte ich den anderen helfen, denn sie betrachten mich als ihren Anführer.«
Libussa nickte. »Dann solltest du jetzt vorsichtig sein. Olgas Söhne werden dich beobachten. Sie haben es vorher schon getan, und so bin ich ihren Kriegern in die Arme gelaufen. Wäre ich nicht die Tochter der Cechen-Fürstin, dann hätten sie uns beide umgebracht. Ich glaube, wenn ich meiner Mutter und meinem Onkel erzähle, was mir hier widerfahren ist, bekommen Olga und ihre Söhne ernsthafte Schwierigkeiten. Dann braucht es keinen Bauernaufstand mehr. Aber ich kann nicht darüber reden, solange du in ihrer Gewalt bist. Du musst fortgehen, so wie du es vorhattest.« Libussa fühlte, wie ihre Hände schweißnass wurden.
Er ließ sich endlos Zeit mit seiner Antwort. »Und wohin schlägst du vor, dass ich gehe, weise Tochter einer Fürstin?«, kam es schließlich mit dem vertrauten spöttischen Unterton.
»Du könntest immer noch nach Chrasten gehen. Ich wäre sehr froh, dich dort zu sehen.«
Jetzt sah er ihr ins Gesicht. Sein Blick war ungläubig und voller Misstrauen. »Ist das ein schlechter Scherz? Ich dachte damals, du wärest eine Dienerin.«
»Ich bin derselbe Mensch wie vorher.«
»Ich will kein Hund sein, der dir nachläuft, Libussa von den Cechen«, sagte Premysl leise.
»Nein, aber du könntest in Chrasten mein Gefährte sein, wenn du es willst. Wenn wir uns weiter gut verstehen, können wir auch die Hochzeitszeremonie vollziehen. Ich bin nur die jüngste Tochter der Fürstin. Meine Schwester Thetka wird einmal Nachfolgerin meiner Mutter werden. Das wissen alle. Ich selbst wollte mein Leben immer dem Dienst an der großen Göttin weihen. Ich sehne mich nicht nach Macht, und es kümmert mich nicht, was andere Leute von mir denken.«
Als er über ihren Arm strich, beruhigte sie das Kratzen seiner schwieligen Handfläche. »Vielleicht stellst du es dir leichter vor, als es sein wird. Weiß deine Familie denn schon von deinem Abenteuer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde es meiner Mutter sagen, sobald ich in Chrasten bin. Das verspreche ich. Wenn du kommst, werden alle über dich Bescheid wissen.«
Er griff nach ihrer Hand. »Nun gut, sobald ich wieder auf den Beinen bin, werde ich einen Weg suchen, unbemerkt nach Chrasten zu ziehen, obwohl es mit meiner Mutter und mit Magda nicht leicht sein wird. Aber du hast recht, ich kann hier nicht länger bleiben. Und vielleicht unternimmt Fürstin Scharka wirklich etwas gegen unsere Fürstin, wenn sie erfährt, wie man hier mit ihrer Tochter umgesprungen ist. Bis dahin haben wir beide Zeit nachzudenken, wie es mit uns weitergehen soll. Du bist mir zu nichts verpflichtet, auch wenn ich zu dir komme.«
Sie nickte und strich ihm übers Gesicht. »Ich werde einen Weg finden, wie ich mit dir leben kann.« Es überraschte sie selbst, wie sicher sie sich ihrer Worte war. Das freudige Aufleuchten seiner Augen wärmte sie.
»Wir werden sehen. Aber versprich mir nur eines«, murmelte er mit einem Grinsen im Gesicht. »Mach bitte niemals einen Fürsten aus mir.«
Sie lachte. »Da besteht nun wirklich keine Gefahr.«