Читать книгу Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band - Tereza Vanek - Страница 16

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Acht Jahre waren ins Land gezogen, für die Libussa den Göttern Dank schuldete. Ihr Leben hatte sich in einen breiten ruhigen Strom verwandelt, ganz wie die Vltava, die vor ihren Augen vorbeifloss, wenn sie vom Wehrturm hinuntersah. Die Zeit der reißenden Strudel und Stromschnellen lag lange zurück. Zufrieden tauchte sie nun frisch gesponnenes Garn in mit Wasser gefüllte Holzeimer. Kveta hatte die Blüten und Kräuter gesammelt, die anschließend zerrieben und zum Färben verwendet wurden. Das große Fest des Gottes Perun würde bald stattfinden, und Libussa wollte dabei ihre Kinder in leuchtenden Gewändern vorführen.

Eigentlich war es nicht Perun, sondern Mokosch, die große Mutter, der sie ihr Lebensglück verdankte, doch hatte sie ihre Gebete und Opfergaben an Mokoschs Schrein bereits dargebracht, nachdem ihr der erste Sohn geboren wurde. Zwei Jahre darauf folgte endlich die lang ersehnte Tochter und vertrieb die letzte dunkle Wolke, die ihr Zusammenleben mit Premysl noch verdüstert hatte.

Der Kindersegen trat vielleicht ein, weil ich das Richtige tat, als ich den kleinen Hunnen hier aufnahm, dachte Libussa, doch es gab niemanden mehr, dem sie solche Überlegungen noch mitteilen konnte. Die alte keltische Priesterin war vor einem Jahr gestorben. Bei Libussas letztem Besuch hatte sie ihren Tod bereits angekündigt und ihr den Eingang zu einer Höhle gezeigt, wo Frauen ihrer Art sich zurückzogen, wenn die Göttin sie zu sich rief. Nur Eingeweihte wussten davon. Libussa verstand diese Geste, ohne zu fragen. Auch ihr sollte der Weg in diese Höhle eines Tages offenstehen. Doch bis dahin, so hoffte sie, war noch viel Zeit. Sie suchte den Berg der Göttin nur noch selten auf. Die Nachfolgerin ihrer langjährigen Vertrauten, ein junges Keltenmädchen, war eine Fremde für sie und es fehlte ihr an der nötigen Muße, sie besser kennen zu lernen.

Sie deckte die Eimer zu und wusch sich die Hände. Leuchtendes Blau, aus Färberwaid gewonnen, sollte die Farbe des Garns sein, aus dem sie Gewänder für sich und ihre dreijährige Tochter Scharka spann. Es passte zu ihrer beider Blondhaar. Mnata hingegen brauchte eine kräftigere Farbe, wie jene, die Kveta aus Karotten gewann. Premysl beschränkte sich immer noch am liebsten auf das Braun der Bauern, auch wenn er mittlerweile einige Stickereien duldete und seine Tunika mit einer Silberfibel zusammenhielt. Sie würde den gemeinsamen Sohn Lidomir ähnlich einkleiden, denn er schien ihr ein Ebenbild seines Vaters.

Nun sollte das Garn bis zum nächsten Morgen in den Farbeimern liegen. Libussa trat in den Hof hinaus, um sich noch etwas die Zeit zu vertreiben, bevor die ersten Bittsteller und Gäste zu ihr kamen. Sie fühlte das angenehme Brennen der Sommersonne auf ihrer Haut. Premysl war hinunter zum Fluss gegangen, wo er warme Tage gern mit Angeln und Schnitzen verbrachte. Sie überlegte, sich für eine Weile zu ihm zu gesellen, und sah sich nach den Kindern um.

Mnata kam ihr entgegen. Er hatte sich mit einigen Söhnen der ansässigen Handwerker angefreundet, nachdem Vlasta als dauerhafte Spielgefährtin aus seinem Leben verschwunden war. Thetka hatte gemeinsam mit Eric ihr eigenes Zuhause erbaut und ihre Tochter mitgenommen. Im Gegensatz zu Kazi gab sie sich nicht mit einem bescheidenen Heim zufrieden, sondern bestand auf einem großen Anwesen mit Schutzwall, das sie Tetin nannte. Dort errichteten sie einen Schrein zu Ehren eines nordischen Gottes, von dem Eric erzählt haben musste. Thetkas Gefährte erfreute sich zunehmender Achtung bei den Kriegern, da er ihr Handwerk hervorragend beherrschte. Krok vertraute bei der Ausbildung junger Männer nun auf seine Hilfe. Dementsprechende Verehrung wurde auch seinem Gott zuteil, nachdem Libussa ihre Genehmigung erteilt hatte, den neuen Kult einzuführen. Sie wusste, wie sehr Thetka sich nach Anerkennung sehnte, und sah in einer neuen Gottheit keine Gefahr für die Religion ihrer Vorfahren, die ein Fremdling nicht so einfach verdrängen würde. Die Rolle der Priesterin einer kriegerischen Gottheit stand Thetka wie ein prächtiges Gewand, das sie mit Freuden trug.

Mnata führte Lidomir und Scharka mit sich. Die Nachricht ihrer ersten Schwangerschaft hatte den Jungen damals in eine stumme Statue verwandelt. Erst als Premysl ihm erzählte, dass Geschwister ebenso viel Freude wie Ärger bereiten konnten, wenn man sich an ihre Gegenwart gewöhnt hatte, kam wieder ein Funken Leben in das kleine Hunnengesicht. Lidomir nahm er hin, doch die kleine Scharka begeisterte ihn, und er gefiel sich in der Rolle ihres Beschützers.

Alle erzählten Libussa, die Tochter sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie fragte sich, ob sie selbst einst ein derart zartes schreckhaftes Kind gewesen war und deshalb so oft besorgtes Stirnrunzeln bei ihrer Mutter hervorgerufen hatte. Scharka schrie aus Leibeskräften, sobald sie sich allein gelassen fühlte oder fremden Menschen vorgestellt wurde, und Libussa hatte Bedenken, ob ihre ängstliche Tochter einmal zu einer geeigneten Nachfolgerin heranwachsen würde. Aber sie wollte das Kind nicht durch unnötige Härte verschrecken, denn die Schroffheit ihrer eigenen Mutter, nach der sie ihre Tochter benannt hatte, war ihr noch gut in Erinnerung.

Mnata störte sich nicht an Scharkas Empfindsamkeit. Er tröstete und beruhigte sie, wann immer er konnte. Sobald sein Anblick ein Lächeln auf das Mädchengesicht zauberte, schien er selbst dadurch zu wachsen.

Libussa winkte alle drei Kinder heran und machte sich mit ihnen auf den Weg zum Flussufer. Sie ließ sich an Premysls Seite nieder, während Mnata die kleineren Geschwister Lidomir und Scharka an einer flachen Stelle des Ufers ermunterte, ihm ins Wasser zu folgen. Er beobachtete Lidomirs erste Schwimmversuche und war bemüht, den jüngeren Knaben keiner Gefahr auszusetzen, doch seine wahre Aufmerksamkeit galt wie gewöhnlich Scharka. Lachend hing sie an Mnatas Hals, als er ein paar Schwimmzüge machte, um weiter in die Mitte des Flusses zu gelangen.

»Ein vorbildlicher Bruder«, hatte Libussa einmal zu Kveta gesagt, doch die Kindsmagd musterte sie nachdenklich.

»Er ist aber nicht Scharkas Bruder, Herrin. Und wenn diese Innigkeit zwischen beiden anhält, wird sie in ein paar Jahren vielleicht ganz andere Formen annehmen. Willst du deine Tochter einem Hunnen überlassen?«

Libussa fand den Gedanken der Kinderfrau eigenartig, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Zwar konnte sie das Verhalten ihrer Leute beeinflussen, aber nicht immer ihr Denken. An Premysls Schulter gelehnt, genoss sie einen Augenblick völliger Ruhe im warmen Sonnenlicht. In ein paar Tagen würden die ersten Gäste für das Fest eintreffen, und dann war es mit dieser vertrauten Zweisamkeit erst einmal vorbei. Sie schloss die Augen.

»Libussa, ich glaube, da kommt jemand«, schreckte Premysl sie aus ihren Träumereien. In der Ferne, am anderen Ufer der Vltava, erblickte sie winzige Reiter, die allmählich wuchsen, je näher sie an Praha herankamen. Bald schon bebten die Bretter der Brücke unter den Hufen ihrer Pferde.

Krok betrat entschlossen den Saal. In seiner Gefolgschaft erkannte Libussa Eric sowie noch drei andere Krieger, in die er großes Vertrauen setzte. Die übrigen Männer hatte sie nie zuvor gesehen. Sie trugen die verzierte Kleidung von Kriegern, doch fehlten die in ihrem Volk üblichen Kreuzstickereien und roten Farbtöne. Ein sehr großer, kräftiger Mann, dessen Haar zu kunstvollen Zöpfen geflochten war, stand unmittelbar neben Krok. Er hatte das raue Gesicht eines erfahrenen Kämpfers und musterte Libussa skeptisch, als könne er nicht verstehen, wie der Stab eines Fürsten in ihre zarten Hände gelangt sein konnte.

»Das ist Dragoweill, Anführer der Wilzen«, stellte Krok den Unbekannten vor. »Die drei Männer neben ihm sind Gesandte Widukinds, eines sächsischen Fürsten. Sie sind bei den Wilzen eingetroffen und baten um Unterstützung. Dragoweill wandte sich an mich, da ich sein Volk vor einiger Zeit besucht hatte. Mein Entschluss ist bereits gefällt, doch bitte ich gemäß unserer Tradition um dein Einverständnis, Libussa. Dann kann ich die fürstlichen Clans, die bald für das Fest hier eintreffen werden, auffordern, mir in den Krieg zu folgen.«

Die hölzernen Wände des Saales schienen zu wanken. Kriege ließen sich nicht vermeiden, wie ihre Mutter immer gesagt hatte. Doch seit sie selbst Fürstin und Hohe Priesterin war, herrschte Frieden in ihren Ländern. Sie fürchtete sein Ende. Tief in ihr erwachten die Erinnerungen an böse Träume, in denen Schwerter aufblitzten. Libussa riss sich zusammen und begrüßte die Gäste mit einem Kopfnicken.

»In welchen Krieg willst du ziehen, Onkel?«, fragte sie dann.

Krok winkte einen der Fremden zu sich heran. »Dies ist ein Mann aus dem Volk der Wilzen, der auch die Sprache germanischer Stämme versteht. Er kann für dich übersetzen, was die Abgesandten Widukinds erzählen.«

Der Sachse begann, in einer rauen Sprache zu sprechen. Danach ergriff der Übersetzer das Wort. »Vor einigen Jahren kam ein Mönch der Christen zu uns, um unser Volk zu bekehren. Das hatten bereits einige vor ihm ohne großen Erfolg versucht. Doch dieser Mann sprach nicht einfach von seinem Glauben, er drohte uns. Sollten wir uns weiter dem Christengott verweigern, der nur unser Bestes will, so stünde schon ein irdischer König bereit, um in unser Land einzudringen, zu rauben und zu verwüsten. Er würde uns vertreiben oder töten und unseren Besitz denen geben, die er dafür ausersehen hat.«

Beide Redner machten eine kurze Pause. Libussa fühlte Kroks ernsten Blick auf sich ruhen. Eben das hatte er seit längerem befürchtet. »Wir nahmen ihn zunächst nicht ernst. Plötzlich fielen fränkische Krieger in unser Land ein. Sie verwüsteten unser größtes Heiligtum, die Weltsäule, die das Himmelsgewölbe trägt. Dann nahmen sie Geiseln aus unseren Fürstenfamilien und verschleppten sie in die Fremde. Sie wollten uns ihren Glauben aufzwingen und ermordeten jeden, der sich ihnen widersetzte. Unser Land nennen sie jetzt Teil ihres Reiches. Doch Widukind, ein mutiger Mann, hat nun Krieger um sich versammelt, um uns von diesem Joch zu befreien.«

»Der Frankenkönig geht im Augenblick gegen die Sorben vor«, mischte sich Krok in den Bericht ein. »Auch sie sollen gewaltsam unterworfen und bekehrt werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir an der Reihe sind. Doch Widukind will die Gelegenheit nutzen, um die Franken aus seinem Land zu vertreiben. Wir sollten ihm dabei helfen, bevor die Franken im Namen ihres Christengottes auch anfangen, alle slawischen Völker zu unterjochen.«

Libussa saß völlig regungslos. All diese Völker waren Fremde. Sollten die Krieger der Behaimen für ihre Befreiung sterben? »Hat dieser Widukind denn versprochen, auch uns im Ernstfall zu helfen?«, hörte sie Premysl fragen. Krok runzelte nur leicht die Stirn. Er hatte sich an Premysls Bauernkleidung ebenso gewöhnt wie an seine respektlosen Unterbrechungen.

»Wir müssen eine Einheit gegen diese machtgierigen Christen bilden«, erklärte er. »Ihr Gott ist ein eifersüchtiger Tyrann, der keine Rivalen neben sich duldet.«

Libussa holte Luft. »Die Sachsen gehören zu den Germanen. Nicht zu unserem Volk. Sie sind uns fremd, und es heißt, dass auch sie von Raubzügen leben. Warum sollen wir ihretwegen das Leben unserer Krieger gefährden? Sollte der Frankenkönig uns tatsächlich angreifen, dann brauchen wir unsere besten Kämpfer hier in unserem eigenen Land.«

Die anwesenden Wilzen musterten sie missbilligend. Der Übersetzer flüsterte dem Sachsen etwas zu, so dass auch dessen Blick unfreundlich wurde. Libussa straffte die Schultern. Mittlerweile störte es sie nicht mehr, wenn sie sich unbeliebt machte.

»Die Sachsen beten ebenso wie wir die Götter ihrer Vorfahren an«, begann Krok nun. »Sie halten an ihren uralten Traditionen fest. Jetzt will der Frankenkönig ihnen eine neue Religion aufzwingen. Wer Christ wird, kann nicht mehr ins Totenreich zu seinen Ahnen gehen. Sie müssen Abgaben an die Franken zahlen. Vorher ist er ebenso mit den Langobarden umgesprungen. Und jetzt mit den Sorben. Irgendwann sind auch wir an der Reihe, Libussa. Allein können wir keinen Kampf gegen die Franken gewinnen, aber wenn alle Völker, die noch dem alten Glauben anhängen, sich vereinen, dann ...«

»... und wie viele Völker glaubst du, vereinen zu können, Onkel?«, unterbrach Libussa. »Bisher sind es nur die Wilzen und unsere Clans, die den Sachsen helfen sollen.«

Krok wandte sich zu seinen Begleitern. »Ich werde einen Boten zu den Polanen schicken. Die Mähren scheinen zurzeit mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, denn es gibt Widerstand gegen die Allmacht des Stammesführers, der sich zum Alleinherrscher erklären ließ. Du könntest noch mit den Abodriten reden, Dragoweill. Ich bin letztes Jahr bei ihnen gewesen und sie haben mich angehört.«

Dragoweills Gesicht drückte Unbehagen aus. »Wir haben schon seit langer Zeit Zwist mit den Abodriten. Es geht da um eine uralte Fehde und etwas Land.«

»Dann beende diesen Zwist. Mache Zugeständnisse, um sie für uns als Verbündete zu gewinnen. Wenn du das erledigt hast, können wir ein weiteres Treffen vereinbaren und besprechen, wie wir vorgehen.«

Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf den Anführer der Wilzen. Er nickte nach einigem Zögern. »Ich werde ihnen jenen Streifen Land überlassen, wegen dem wir uns seit Generationen bekriegen«, versprach er.

Libussa erhob sich langsam. Es klang alles so einfach, so einleuchtend, doch an ihr nagten Zweifel. »Mir gefällt das alles nicht, Onkel Krok«, begann sie zögernd. »Wir mischen uns in einen Krieg ein, der nicht der unsere ist. Aber der Sinn deiner Worte leuchtet mir ein. Wir werden das alles mit den anderen fürstlichen Clans besprechen, wenn sie eintreffen, um das Fest zu Ehren Peruns in Praha zu feiern. Erst dann entscheide ich, ob ich meine Zustimmung zu diesem Krieg geben werde.«

Sie stand langsam auf und verließ mit Premysl den Saal. Sobald sie wieder in ihrer Kammer war, streckte sie sich erschöpft auf ihrer Bettstatt aus. Premysl wollte die Pläne ihres Onkels besprechen, aber sie bat ihn, das auf den nächsten Tag zu verschieben. Eine unsichtbare Last drückte sie nieder, die Ahnung von etwas Bösem und Bedrohlichem. Wieder tauchte das Gesicht des ernsten, klugen Mannes hinter ihren geschlossenen Lidern auf, sie sah es jedes Mal, wenn sie an die Franken dachte. Nur verstand sie nicht, warum gleichzeitig mit diesem Unbekannten in ihren Träumen immer wieder blutbefleckte Schwerter eine Rolle spielten, denn er sah nicht aus wie ein Mensch, der Gewalt liebte. Die hohe Stirn drückte Weisheit aus. Nichts an ihm erinnerte an den gewalttätigen Tyr, ja, manchmal hatte sie sogar das Gefühl, dass dieser Mann ihre Achtung erringen würde, sollte er ihr je begegnen.

Dennoch erwachte sie am nächsten Morgen schweißgebadet. Jedes Glied ihres Körpers schmerzte, so wie beim Bau von Praha. Doch plötzlich, als die Magd ihr einen Krug Wasser brachte, erhellte ein klarer Gedanke die dunkle Wirrnis in ihrem Kopf. Onkel Krok wollte gegen einen Riesen kämpfen. Den König der Franken. Konnten Zwerge ihn besiegen, selbst wenn sie zahlreich waren? Die Hilfe anderer Riesen könnte es leichter machen. Die Riesen. Obori. Die Awaren. Sie hingen ebenso wie ihr eigenes Volk einem alten Glauben an. Falls die Befürchtungen ihres Onkels stimmten, dann drohte auch ihnen Gefahr durch die christlichen Franken. So ungeheuerlich die Vorstellung, sich mit den alten Unterdrückern und Erzfeinden zu verbünden, auch war, in diesem Augenblick schien ein solches Vorgehen die Aussichten auf einen Sieg deutlich zu verbessern.

Libussa sprach nicht von ihrer Eingebung, nicht einmal mit Premysl. Sie wollte den richtigen Moment abwarten, um ihren Vorschlag darzulegen.

Zwei Wochen später hatten die fürstlichen Clans sich im großen Saal versammelt. Libussa stand zwischen Onkel Krok und Premysl und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Radka und Lecho, der diesmal Irina an seiner Seite hatte, der Zlicani-Fürst Hostivit mit seiner heranwachsenden Schwester Drahomira, die Leitmeritzer und alle anderen waren eingetroffen, um das Fest zu Ehren Peruns zu feiern. Libussa erkannte unter den Ankömmlingen das Gesicht ihres alten Feindes Neklan. Laut Gerüchten hatte er einige Bauernmädchen auf seine Festung geholt, die für Nachwuchs sorgten. Vojtan gehörte nun die andere Hälfte des Lemuzi-Landes. Slavoniks Schwester Sylva lebte mit ihm zusammen und beide hielten sich meist in der Festung der Kroaten auf.

Krok ließ wieder, mit Hilfe eines Übersetzers, die Sachsen sprechen. Dann trug er seinen Plan vor und drängte Dragoweill nochmals zu dem öffentlichen Versprechen, Frieden mit den Abodriten zu schließen. Daraufhin folgte das übliche Stimmengewirr. »Kannst du uns versichern, dass die Polanen uns im Ernstfall zu Hilfe kommen?«, fragte der vorsichtige Lecho.

»Ich habe mit ihnen verhandelt. Vertraue auf meinen Einfluss«, erwiderte Krok energisch. Als angesehenster Mann unter den Behaimen verstand er sich darauf, Widerspruch mit der Kraft seiner Stimme zu ersticken. Niemand stellte seine Aussage in Frage, nur Radka drängte Dragoweill zu einer genaueren Aussage, wie er das geplante Bündnis mit den Abodriten schaffen wollte, wenn ihre Völker doch schon seit so langer Zeit verfeindet waren. Dem Anführer der Wilzen schien diese Frage unangenehm, aber er versprach nochmals, bald schon Boten zu schicken, die ein Friedensangebot unterbreiten sollten.

»Ich finde es eine großartige Vorstellung, den christlichen Kuttenträgern eine Tracht Prügel zu verpassen«, mischte sich auf einmal Thetka ins Gespräch. »Es heißt, dass sie unsere Götter stets als blutrünstig und böse bezeichnen. Was bilden die sich eigentlich ein mit ihrer ans Kreuz genagelten Holzfigur?«

»Wir werden nicht gegen jene paar Kuttenträger kämpfen«, erwiderte Libussa, »sondern gegen fränkische Krieger. Und ihre Schwerter gelten als besonders scharf und unzerstörbar.«

Thetka schnaubte, aber sie schwieg. Einige der Krieger musterten Libussa missbilligend. »Wir scheinen eine sehr ängstliche Fürstin der Cechen zu haben«, kam es spöttisch von Slavonik.

»Es gibt einen Unterschied zwischen Vorsicht und Feigheit«, meldete Premysl sich unerwartet zu Wort. »Libussa ist die Mutter ihres Volkes. Warum darf sie sich keine Sorgen um sein Wohlergehen machen? Ein Krieger träumt nur von seinem eigenen Ruhm, doch er vergisst leicht, welche Opfer dafür gebracht werden müssen. Bei einem Kampf mit den Franken könnten viele von uns sterben. Den Familien werden die Söhne fehlen. Und wenn wir gegen die Franken verlieren, sind wir ihnen vielleicht ausgeliefert. Warum ein großes, gefährliches Tier unnötig herausfordern?«

»Weil es uns früher oder später von selbst angreifen wird«, donnerte Kroks Stimme durch den Saal. »Wir sollten uns nicht als schwache Opfer sehen. Mit genügend Verbündeten können wir die Gefahr bannen, den Frankenkönig in seine Schranken weisen.«

Jubelrufe hallten durch den Saal. Libussa wusste, dass sie den Lauf der Dinge nicht aufhalten konnte. Es war bereits Nacht geworden, als die Abstimmung stattfand. Stumm beobachtete sie die vielen Hände, die sich hoben, um Kroks Plan zuzustimmen. Sie krallte ihre Finger um den Rand des schweren Tisches, als könne sie aus dem Holz Kraft ziehen.

»Nun, da der Krieg beschlossen wurde«, verkündete sie so laut wie möglich, »wäre es vielleicht an der Zeit, noch über weitere mögliche Verbündete zu sprechen. Nicht nur über jene kleinen Völker, die uns umgeben. Vielleicht schicken sie uns ein paar Krieger, die gewiss nützlich sein werden, doch wir wollen schließlich gegen einen großen, gefürchteten Feind antreten. Ein ebenso starkes Volk an unserer Seite könnte es uns erleichtern, ihn schnell zu besiegen.«

Es war still geworden. Viele Augenpaare ruhten verwirrt und erwartungsvoll auf Libussa. Selbst von Premysl traf sie ein staunender Blick.

»Welches Volk meinst du?«, sprach Krok jene Frage aus, die alle Anwesenden beschäftigte.

Libussa holte tief Luft und wagte es endlich, die Ungeheuerlichkeit auszusprechen: »Wir könnten einen Boten ins Khaganat der Awaren schicken. Er soll dem Khagan unsere Pläne schildern und bezeugen, dass die christlichen Franken eine Gefahr für alle Völker darstellen, die weiter ihre alten Götter und Sitten wahren wollen. Denn dies gilt auch für die Awaren.« Sie hörte empörte Rufe und das schallende Lachen Slavoniks. Radka blickte sie fassungslos an, als hätte Libussa soeben die Existenz der Götter geleugnet. Nur Premysl wirkte nachdenklich.

»Dieser Vorschlag klingt nicht einmal schlecht, Herr«, sagte er zu Krok. »Man muss sich nur an den Gedanken gewöhnen, mit den Awaren zu verhandeln. Das ist alles.«

»Die Awaren sind schrägäugige Dämonen. Sie kamen aus der Fremde und raubten Land, das ihnen nicht gehörte«, fegte der Stammesführer diesen Vorschlag beiseite.

»Taten wir das nicht auch einmal, Onkel? Dieses Land ist nicht unsere ursprüngliche Heimat. Vor uns lebten hier Kelten und dann Germanen«, widersprach Libussa. Krok runzelte die Stirn.

»Es gibt nichts, was uns mit den Awaren verbindet. Sie sind schon immer unsere Feinde gewesen«, erklärte er mit Nachdruck.

»Aber vielleicht wird der Frankenkönig sie auch eines Tages angreifen«, verteidigte Libussa beharrlich ihre Meinung. »Es wäre auch für sie von Vorteil, sich gleich mit uns zu verbünden.«

Dragoweill von den Wilzen musterte sie nachsichtig, als sitze ein unreifes Mädchen vor ihm. »Vertraue dem Urteil erfahrener Krieger, Fürstin der Cechen«, sagte er. »Der Frankenkönig wird es nicht wagen, das Khaganat anzugreifen, denn jeder weiß, wie reich und stark die Awaren sind. Sie haben Verbindungen zu anderen Reitervölkern aus ihrer fernen Heimat. Sorgen slawischer und germanischer Stämme werden den Khagan nur zum Lachen bringen.«

»Und außerdem«, warf Slavonik ein, »weiß ein jeder von uns, der etwas vom Kämpfen versteht, dass die Awaren von Natur aus hinterhältig sind. Es wäre ein Fehler, ihnen zu trauen, denn sie verstehen unsere Vorstellung von Ehre nicht. Wären diese Riesen sonst mordend und plündernd über uns hergefallen?«

Zustimmende Rufe machten aus der bunt zusammengewürfelten Menge eine geschlossene Einheit. Libussas Kampf schien verloren. Sie überlegte, Slavonik zu fragen, ob er sich jemals mit einem Awaren unterhalten hatte, als sich plötzlich die Tür zum großen Saal öffnete. Mnata betrat zögerlich den Raum und zog überraschte Blicke auf sich.

»Ich möchte an diesem Kampf teilnehmen«, erklärte er mit gepresster Stimme. »Ich will auf eurer Seite sein.«

»Du bist noch viel zu jung, um in eine Schlacht zu ziehen«, meinte Krok entschieden.

»Du hast mich selbst den besten deiner Schüler genannt«, erwiderte Mnata. »Lass mich mit euch gehen. Ihr könnt jeden guten Krieger gebrauchen.«

Als Libussa hörte, dass Krok endlich widerwillig zustimmte, schloss sie die Augen. Mnata war für sie stets das älteste ihrer Kinder gewesen, auch wenn sie ihn nicht selbst zur Welt gebracht hatte. In seiner stillen, einsichtigen Art war er ihr mit jedem Jahr stärker ans Herz gewachsen, da er dankbar war für alles, was Lidomir und Scharka für selbstverständlich hielten. Doch eben jene Dankbarkeit war es auch, die ihn zu diesem tollkühnen Entschluss getrieben hatte. Libussa hob den Stab, um die Versammlung aufzulösen. Nichts konnte die bevorstehende Gefahr mehr aufhalten.

Der Deckel der Truhe, in der sie ihren Schmuck aufbewahrte, fiel laut zu. Libussa warf neues Holz in die Feuerstelle, da der Raum ihr frostig schien. Sie überlegte, Kazi um ein Gebräu aus Fenchel zu bitten, das den Schlaf erleichtern würde. Aber als Premysls Hände sich auf ihre Schultern legten, verwarf sie diesen Gedanken.

»Es ist beschlossen«, sagte er. »Du kannst es nicht mehr verhindern.«

»Ich könnte meinen Segen verweigern«, meinte sie unsicher.

Premysl schüttelte den Kopf.

»Ein Zwist zwischen deinem Onkel und dir würde unser Volk entzweien. Du konntest ihn nicht überzeugen. Er will seinen Krieg, und offen gesagt verstehe ich seine Gründe. Das Verhalten dieses Frankenkönigs gefällt mir nicht.«

»Du hast Kämpfe stets verabscheut«, widersprach sie.

»Nicht alle Kämpfe. Ich wollte mich gegen die Lemuzi-Fürsten auflehnen, als ich keine andere Möglichkeit mehr sah. Gegen die Christen sind wir in einer ähnlichen Lage.«

Libussa schüttelte den Kopf. »Das sind Gerüchte. Wir wissen nichts über die Franken. Warum sollten sie uns angreifen?«

»Weil sie schon so viele andere Völker angegriffen haben. Die Römer haben es ebenso gemacht. Wenn sich damals alle rechtzeitig gegen die Römer vereinigt hätten, wäre es vielleicht möglich gewesen, sie aufzuhalten. Warum bist du so sehr gegen den Plan deines Onkels, Libussa?«

»Wir sind zu wenige«, sagte sie dann. »Ich habe kein gutes Gefühl. Es wird Unheil über uns kommen. Jedes Mal, wenn mein Onkel von diesem Frankenkönig spricht, überkommen mich Visionen. Ich sehe einen Mann, der nicht einmal bösartig wirkt. Doch um ihn herum, da ist überall Blut und ich höre entsetzliche Schreie. Vielleicht ist dieser Mann der Frankenkönig. Ich weiß es nicht.«

Premysls Arme umschlossen sie, und einen Lidschlag lang fühlte sie sich geborgen.

»Ich habe inzwischen Achtung vor deinen Träumen, auch wenn ich zuerst nicht an solche Dinge glaubte. Vielleicht siehst du den Frankenkönig. Blut und Schreie gehören zu einer Schlacht. Das heißt nicht, dass wir gegen ihn verlieren werden.«

Sie rührte sich nicht, obwohl ihr Zweifel kamen. Der Mann aus ihren Träumen, er sah nicht aus wie ein Verlierer. Trotz aller tiefen Ernsthaftigkeit sprach Siegesgewissheit aus seinem Blick.

»Ich muss dir etwas sagen, Libussa«, begann Premysl plötzlich. Mit einer düsteren Ahnung zog sie sich aus seiner Umarmung zurück.

»Ich werde mit in diesen Kampf ziehen«, erklärte er dann.

Sie starrte ihn an, als stünde ein Fremder vor ihr. »Du wolltest dich nicht zum Krieger ausbilden lassen. Es war dir zuwider.«

»Aber ich habe deinem Onkel versprochen, ihn zu unterstützen, wenn es um einen wichtigen Kampf ginge, der uns alle betrifft. Soll ich jetzt als Einziger hierbleiben? Ich käme mir schäbig vor. Die Ziele deines Onkels scheinen mir lobenswert. Deshalb muss ich für sie kämpfen, so wie alle anderen.«

Libussa lehnte sich zurück. Ihr Herzschlag war so laut, dass sie meinte, auch Premysl müsse ihn hören. War es nicht genug, dass Mnata sein Leben aufs Spiel setzen wollte, um seine Treue unter Beweis zu stellen? Die Pläne ihres Onkels waren wie ein finsteres Loch, das geliebte Menschen verschlang. Sie zwang sich, die Angst zu unterdrücken, und klammerte sich an ihren Verstand. »Ich werde meinem Onkel sagen, dass du ein mit Eisenringen versehenes Wams brauchst, einen Helm und ein Schwert, so wie alle Krieger. Du bist stark genug, mit Waffen umzugehen. Reiten kannst du auch. Jedes Pferd wird dir treu sein, denn du verstehst es, mit Tieren umzugehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Die Bauern der Stämme werden mit in den Kampf ziehen. Sie haben schon immer gekämpft, wenn sie ihr Land verteidigen mussten. Wenn ich sie anführe, dann folgen sie mit größerer Begeisterung. Ich werde als Fußsoldat kämpfen und einer von ihnen sein, denn als solcher bin ich geboren.«

Das Entsetzen lähmte sie einen Augenblick. Dann fuhr sie zornig auf: »Das Fußvolk stirbt in jedem Kampf zuerst. Warum willst du dein Leben gefährden?«

»Ich kann mich jetzt nicht in einen Krieger verwandeln. Ich muss kämpfen und werde es an der Seite meiner Leute tun.«

Sie sprang auf. »Du gehörst schon lange nicht mehr zu den Bauern. Du bist mein Gefährte, den die Götter geschickt haben. Warum willst du dein Leben mehr gefährden als notwendig? Bin ich dir gleichgültig? Die Jahre, die wir zusammen verbracht haben, unsere Kinder und unsere Siedlung, bedeutet dir das nichts? Deine Dickköpfigkeit ist stärker als alles, was uns jemals verbunden hat. Geh und bring dich um, wenn du es nicht lassen kannst!«

Er erhob sich langsam. »Es ist nicht möglich, vernünftig mit dir zu reden, Libussa. Ich werde diese Nacht in einem anderen Raum schlafen. Wir besprechen das alles morgen.«

Sie wollte ihre Wut laut herausschreien, als er hinausging, aber der Stolz verbot es ihr. Dann dachte sie an die vielen einsamen Nächte, die noch folgen würden. Auf ihrer Bettstatt zusammengerollt versuchte sie in den Schlaf zu flüchten. Vielleicht würde sich alles nur als ein böser Traum erweisen, wenn sie am nächsten Morgen wieder erwachte.

Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band

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