Читать книгу Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band - Tereza Vanek - Страница 14

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Es war ein milder Spätsommertag. Als Libussa mit Premysl von ihrem gemeinsamen Ausritt zurückkam, sah sie Krok mit zwei seiner Krieger beim Würfelspiel sitzen. Auf das Drängen Kazis hatte er eine Weile auf seine Reisen verzichtet, um vollständig zu genesen. Doch in den letzten Wochen war er immer unruhiger geworden, lief scheinbar ziellos im Hof herum und herrschte grundlos Bedienstete an, wofür er sich später schämte. Sie wusste, dass es ihn wieder in die Ferne zog. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er aufbrach.

Premysl brachte die Pferde selbst in den Stall. Er weigerte sich weiterhin, die Dienste der Knechte und Mägde anzunehmen. Nur wenn Libussa, eine ihrer Schwestern oder Krok zugegen waren, duldete er, dass auch ihm das Essen gebracht und der Tisch nach ihm aufgeräumt wurde. Ansonsten war er oft in vertrauten Gesprächen mit dem einfachen Volk zu sehen. Zunächst hatten die Knechte und Mägde ihn als merkwürdig empfunden, doch als die Wochen vergingen und der Sommer ins Land zog, da war Premysl in Chrasten bereits eine vertraute Erscheinung.

Krok duldete ihn. Libussa wusste, dass ihr Onkel die alten Sitten ihres Volkes zu sehr achtete, um einer Frau Vorschriften bei der Wahl ihres Gefährten zu machen. Doch sein Missfallen äußerte sich immer wieder in Anspielungen auf Premysls Weigerung, sich wie ein Mitglied einer fürstlichen Familie zu kleiden, und durch missbilligende Blicke, wenn er beobachtete, dass Premysl mit den Stallburschen plauderte. Dabei legte der Stammesführer selbst Wert auf guten Umgang mit seinen Bediensteten. Libussa erinnerte sich auch an das verärgerte Gesicht ihres Onkels nach dem letzten Kupala-Fest. Während sogar Thetka und Eric sich bei dieser Gelegenheit andere Partner wählten, hatte sie zusammen mit Premysl die vertraute Stelle im Wald aufgesucht. Es wäre ihr vor wie ein Verrat am Willen der Götter vorgekommen, wie eine Schändung ihres eigenen Körpers, die heilige Hochzeit mit einem anderen Mann zu vollziehen. Sie konnte jedoch nicht erwarten, dass Krok das verstand.

»Hört zu, ihr beiden«, hallte nun die Stimme ihres Onkels über den Hof. »Ich muss mit euch reden.«

Libussa folgte der Aufforderung und sah auch Premysl vom Stall kommen. Leichter Regen hatte eingesetzt, so dass sie alle zusammen den Hof verließen und sich im kleinen Saal an einen Tisch setzten.

»In ein paar Wochen will ich zu den Mähren aufbrechen«, begann Krok. »Ich muss mir ein Bild von den neuen Vorgängen machen und Frieden schließen mit jenem Stammesführer, der sich König nennt, auch wenn mir sein Verhalten nicht gefällt.«

Libussa nickte.

»Herr, warum nimmst du hin, wenn er sich falsch verhält und vielleicht Menschen ebenso unterdrückt wie Tyr?«, fragte Premysl. Zu Libussas Erstaunen wurde Krok nicht wütend, sondern seufzte, als könne er Premysls Bedenken verstehen.

»Dieser Mann muss stark sein, da er sich durchgesetzt hat. Viele Krieger stehen nun hinter ihm. Für unser Volk scheint er aber keine Bedrohung zu sein. Es ist möglich, dass wir eines Tages seine Unterstützung brauchen – gegen einen anderen, viel gefährlicheren Gegner.«

Unerwartet fuhr ein Schauer über Libussas Rücken. Auf einmal hatte sie Angst, die Augen zu schließen. Die Ahnung von etwas Dunklem, Schrecklichem stieg in ihr auf. Sie riss sich zusammen. Tyrs Versuch, die Macht an sich zu reißen, hatte sie verunsichert, doch seitdem herrschte Frieden in allen Ländern der Behaimen. Ihre Angst war vermutlich grundlos und lächerlich.

»Was für einen Gegner meinst du, Herr?«, hörte sie Premysls Stimme.

»Die Christen«, kam es sogleich zurück. Libussa seufzte. Sie hatte diese Befürchtung schon zu oft von Krok gehört.

»Onkel, mir scheint manchmal, du machst sie schlimmer, als sie sind. Einige ihrer Kuttenträger irrten schon durch unsere Lande und erzählten von ihrem gekreuzigten Gott. Sie schienen allesamt harmlos, nur ein wenig verwirrt. Sie wurden bewirtet, wie es die Gastfreundschaft erfordert, doch kaum jemand nahm sie ernst. Wenn wir aufhören, unsere Götter zu ehren, wie soll mit Jarilo der Frühling über das Reich der Todesgöttin kommen? Wie soll Frieden herrschen zwischen Perun und Veles, wenn ihre Kinder Jarilo und Morana sich nicht mehr vereinen? Sturm und Donner würde unsere Ernten verwüsten. Das goldene Licht der Mokosch, es könnte versiegen. Und niemand mehr käme ins Totenreich zu seinen Ahnen.«

Zufrieden mit ihrer Rede lehnte sie sich zurück. Premysl musterte sie lächelnd. Die Unerschütterlichkeit ihres Glaubens schien ihn immer noch ein wenig zu belustigen, auch wenn er gelernt hatte, ihre seherischen Fähigkeiten zu achten.

»Ich gebe dir recht, Libussa«, kam es von Krok. »Die alten Götter zu vergessen, das wäre unser Untergang. Doch was ist, wenn jemand uns dazu zwingen möchte?«

Libussa schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum sollte so etwas geschehen? Das wäre unerhört. Ein jedes Volk glaubt an seine Götter. So ist es schon immer gewesen.«

»Die Christen sind anders«, erklärte ihr Onkel entschieden. »Oder zumindest der neue Frankenkönig. Ich habe auf meinen Reisen viele Gerüchte gehört. Er sammelt seine Krieger, um andere Völker anzugreifen. Im Land der Polanen hatte eine Seherin Visionen von vielen hingeschlachteten Anhängern des alten Glaubens, über deren Leichen ein christlicher Kuttenträger ein brennendes Kreuz schwang. Du weißt, ich glaube nicht immer an Visionen. Aber diese Frau hatte den tiefen, unergründlichen Blick einer Weisen.«

Nun verdunkelte sich der Raum um Libussa. Sie hörte Schreie, und eine blutbefleckte Schwertklinge blitzte vor ihr auf. Im Hintergrund sah sie die hohe Gestalt eines Mannes mit klugen, traurigen Augen. Er trug einfache Bauernkleidung, ganz wie Premysl, und murmelte Worte in einer unverständlichen Sprache. Seine Stimme klang sanft, doch brannte sie wie Feuer in Libussas Ohren. Sie schüttelte sich, um die Finsternis zu verjagen. Allmählich lösten die Bilder sich auf.

»Was ist mit dir?« Besorgt schenkte Premysl ihr einen Becher Wasser ein. Libussa trank erleichtert.

»Nichts, ich ... mir wurde schwindelig«, log sie ungeschickt. Sie wollte ihren Onkel nicht weiter beunruhigen, indem sie ihre eigene Vision beschrieb.

»Das Übel hat schon mit den Römern begonnen, denke ich«, sprach Krok unbeirrt weiter. »Sie hatten den Anspruch, dass alle so werden sollten wie sie. Ich glaube, von ihnen hat der Frankenkönig diese Idee übernommen.«

Libussa dachte, dass Krok kaum etwas über die Römer wusste. Das eigentliche Problem mit den Römern war ihrer Meinung nach, dass immer noch zu viel über sie geredet wurde, obwohl keiner aus ihrem Volkje einen Römer getroffen hatte.

»Dieses Rom muss ein sehr hässlicher Ort gewesen sein«, fing Premysl auch schon an. »Warum konnten sie sonst nicht dort bleiben, wo sie waren, die Römer, und andere Völker in Ruhe lassen?«

Krok lachte auf. Obwohl er es nicht zugeben wollte, gefiel ihm bisweilen Premysls scharfe Zunge. »Du verstehst es, mit Worten zu kämpfen, Junge. Darin bist du ein Meister. Aber sag mir, siehst du dich nicht manchmal auch mit dem Schwert in der Hand? Als Krieger, da wärest du ein angemessener Gefährte für eine Fürstin.«

Libussa erstarrte vor Schreck, denn sie ahnte, dass ein lang vermiedener Streit nun endgültig auszubrechen drohte. Doch Premysl blieb vollkommen ruhig. »Ich habe einmal diese Ausbildung auf Zabrusany begonnen, aber schon damals gefiel sie mir nicht. Ich liebe es, Dinge zu schaffen, Herr. Ein Krieger lernt nur, zu töten und zu zerstören.«

Krok schnappte nach Luft. Auch Libussa fragte sich, warum Premysl trotz seines bemerkenswerten Verstandes manchmal so unnötig provozieren musste. »Es stimmt, dass du sehr geschickte Hände hast, Premysl«, räumte Krok erstaunlich ruhig ein. »Du hast unseren wackeligen Tisch hier besser gerichtet, als irgendeiner der Knechte es konnte. Die Götterfiguren, die du schnitzt, sind wunderschön. Ich will eine davon zu den Mähren als Geschenk mitnehmen. Aber das allein reicht nicht. Jedes Volk braucht Krieger zu seinem Schutz. Wenn alle so dächten wie du, würden wir von dem nächsten Feind überrannt werden.«

»Wenn alle Menschen so dächten wie ich, Herr, dann würde kein Volk mehr auf den Gedanken kommen, ein anderes zu überfallen«, erwiderte Premysl gelassen.

»Das sind Träumereien!«, erklärte Krok. »Wir sind von kriegerischen Völkern umgeben.«

Premysl nickte. »Aber auch unter unseren Bauern sind viele, die nicht so denken wie ich. In jedem Dorf wirst du starke junge Männer finden, die auf eine Gelegenheit zum Aufstieg warten. Warum also ich? Einmal sah ich einen Wettkampf von Kriegern. Sie wirkten stark, doch hätten sie ihre Kraft dazu verwendet, einer Bauernfamilie beim Bau ihrer Hütte zu helfen, ich hätte mehr Achtung vor ihnen gehabt.«

Krok lächelte nachsichtig. »Das ist ein bemerkenswert weiser Blick auf die Welt. Doch was nutzen Bauernhütten, wenn man sich nicht vor fremden Kriegern schützen kann, die sie niederbrennen? Ich ahne Gefahr auf uns zukommen und suche deshalb Verbündete. Zunächst gilt es, die übrigen Slawen zu überzeugen, und dann allmählich auch die germanischen Stämme, die noch den alten Sitten treu geblieben sind. Ganz gleich, welche Götter sie anbeten, sie eifern nicht gegen die Anhänger eines anderen Glaubens. Doch die Christen tun es. Und wenn sie gegen uns losschlagen, dann brauchen wir nicht nur jene Männer, die durch das Kämpfen aufsteigen wollen, sondern jeden, der stark genug ist, ein Schwert zu schwingen.«

Zu Libussas Erstaunen schwieg Premysl nachdenklich. Er nahm einen tiefen Schluck Met aus seinem Krug und wischte sich den Mund ab.

»Ich achte dich für dein Bestreben, unser Volk zu schützen, Herr. Und sollte jene Gefahr, von der du sprichst, eines Tages wirklich über uns hereinbrechen, so werde ich an deiner Seite kämpfen, auch wenn es mich mein Leben kostet. Und ich werde die Bauern, Knechte und andere Männer des Volkes überzeugen, dir mit ebensolcher Entschlossenheit zu folgen. Das verspreche ich. Doch bis dahin erspare mir bitte die Ausbildung zum Krieger. Ich will mit dem Fußvolk ziehen und ebenso wie sie meine Sichel schwingen, um meine Leute zu verteidigen.«

Krok nickte. Libussa hatte das Gefühl, dass Premysl soeben allein durch Worte einen Kampf gewonnen hatte. Krok lernte allmählich, ihren Gefährten zu achten, obwohl er nicht seiner Vorstellung entsprach. Das war eine erfreuliche Entwicklung. Die Erinnerung an ihre Vision, an jenen großen ernsten Mann, der ihr erschienen war, verdrängte sie, denn sie löste tiefes Unbehagen in ihr aus. Sie wünschte sich angenehmere Träume.

Libussa räkelte sich und schlug die Augen auf. Langsam verschwand das Bild. Sie erinnerte sich noch kurz an die riesigen Häuser aus Stein mit ihren runden oder spitzen Dächern und Türmen. Eine unüberschaubare Anzahl davon, so als hätte jemand eine Herde aus Häusern zusammengetrieben. Wie ein Vogel war sie darüber hinweggeflogen und hatte inmitten all der Bauten den großen Fluss gesehen, der eine scharfe Biegung machte. Ein Hügel war ebenfalls dabei gewesen. Und rundherum Wald.

Verwirrt strich sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und stand auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. Premysl schlief noch. In ihre Decke gewickelt legte Libussa ihre Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn sanft. Sie wollte reden.

»Ich hatte einen seltsamen Traum. Ich habe viele Steinbauten gesehen«, murmelte sie.

Müde rieb er sich die Augen. »Steinbauten? Das ist ungewöhnlich. Aber ich habe auch oft merkwürdige Träume. Einige davon sind ganz klar. Ich träumte zum Beispiel davon, Tyr zu töten, als ich erfuhr, was mit meiner Mutter und Schwester geschehen war.«

Sie nickte und strich zaghaft über seine Wange. Er hatte noch nie zuvor mit ihr über die Ermordung seiner Familie gesprochen. All das schienen Ereignisse, die er vergessen wollte.

»Vermutlich war es dein heimlicher Wunsch, dich an Tyr zu rächen«, meinte sie. »Aber das mit diesen Steinbauten ist etwas anderes. Ich hatte diesen Traum schon öfter, eigentlich seit meiner Kindheit. Ich erzählte der keltischen Priesterin davon, aber sie konnte ihn mir nicht erklären. Manchmal verschwindet er für Wochen oder gar Monate, wenn ich mit anderen Dingen beschäftigt bin. Aber er kehrt immer wieder. Das muss doch einen Grund haben.«

Premysl überlegte eine Weile. »Ich glaube, du träumst von einer Stadt«, meinte er dann. »Hast du jemals eine gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Händler, mit denen ich manchmal redete, erzählten mir davon«, sagte er. »Dort, wo früher die Römer waren, gibt es Städte. Sie sind wie Dörfer, nur viel größer. Häuser stehen Wand an Wand, dazwischen schlängeln sich Pfade. Und in einer Stadt leben sehr, sehr viele Menschen.«

Libussa fühlte sich noch verwirrter. »Krok hat ähnliche Dinge erzählt. Aber wenn ich noch niemals eine Stadt gesehen habe, warum soll ich dann von ihr träumen?«

»Vielleicht sehnst du dich heimlich danach, in die weite Welt aufzubrechen, so wie Ludmilla.«

Sie verneinte mit Entschiedenheit. »Ich kenne meine Pflichten. Sie sind hier. Männer reisen, doch eine Frau steht dem Clan vor und kümmert sich um das Wohl all derer, die dazugehören. Außerdem bin ich Fürstin und Hohe Priester in und ...«

Premysl unterbrach sie lächelnd. »Wie überzeugt du von all dem bist! Aber vielleicht wünschst du dir gerade deshalb heimlich einen Ausflug in die Fremde, um diesen vielen Pflichten für kurze Zeit entkommen zu können.«

Sie fühlte Ärger in sich aufsteigen. Er konnte so dickköpfig sein! »Wenn ich sage, ich sehne mich nicht danach, dann meine ich es auch. Außerdem sieht die Natur um diese Häuser herum nicht fremd aus. Der Fluss in meinem Traum, ich glaube, das ist die Vltava. Und diese Biegung, ich kenne die Stelle. Ich bin manchmal daran vorbeigeritten. Sie ist nicht weit von hier. Man kann sogar den Hügel sehen, wenn man auf einen der Wachtürme steigt.«

Er zog sie versöhnlich in seine Arme. »Nun gut, dann willst du eben nicht fortgehen. Mir würde es auch nicht gefallen, wenn du es tätest. Laufen denn auch Menschen in dieser Stadt herum? Vielleicht können wir daraus schließen, welche Bedeutung dein Traum hat.«

»Ja«, gab sie zögernd zu, »da sind Menschen. Sie tragen merkwürdige Kleidung, die einengend und unbequem wirkt. Jedes Mal sind sie ein bisschen anders. Einmal sah ich Frauen, deren Haar so weiß war wie Erics. Aber sie schienen noch jung. Auf ihren Köpfen wuchsen riesige Frisuren, in denen Gegenstände steckten. Ihre Röcke waren breit wie Zelte. Sie gingen gemeinsam in ein riesengroßes Steingebäude. Dann wieder liefen Männer ganz in Schwarz herum. Sie hatten sogar schwarze Türme auf den Köpfen. Nur die Pferde sehen immer gleich aus. Sie ziehen Karren, doch diese haben meistens ein Dach.«

Sie verschwieg bewusst jene Karren, die sich ohne Pferde bewegt hatten. Premysl würde den Traum sonst endgültig als Unsinn abtun. »Auch die Größe der Stadt ist in jedem Traum anders. Sie wächst und schrumpft, so wie die Kleidung der Menschen sich ändert. Manchmal frage ich mich, ob sie mir nicht zu verschiedenen Zeiten erscheint.«

Premysl zuckte mit den Schultern. »Wer kann das schon sagen? Ich bin mir jedenfalls sicher, dass Städte Menschen nicht guttun. Diese Enge, das muss laut sein und stinken. Vielleicht kommen sie deshalb auf verrückte Ideen, tragen Türme auf dem Kopf oder schnallen sich Zelte um. Nimm zum Beispiel die Römer. Sie lebten in einer Stadt, in der es ihnen zu eng wurde, und der Rest der Welt musste darunter leiden.«

Sie kicherte und versetzte ihm einen leichten Tritt. »Du kannst auch gar nichts ernst nehmen. Entweder du spottest oder machst abfällige Bemerkungen. Du hast an allem etwas auszusetzen.«

Er entfernte sanft die Wolldecke und ließ seine Augen über ihren Körper gleiten. »Nein, Libussa. Es gibt so einiges auf dieser Welt, über das ich sehr glücklich bin.«

Dann sorgte er dafür, dass sie den Traum für eine Weile vergaß.

»Weißt du, Libussa«, murmelte er später leise, als sie in seinen Armen einschlafen wollte. »Wenn ich so über deinen Traum nachdenke ... Ich weiß immer noch nicht, was diese Stadt mit den merkwürdig gekleideten Menschen bedeutet, aber mir war schon lange klar, dass es keine schlechte Idee wäre, eine neue Siedlung zu gründen.«

»Warum sollten wir das tun?«, fragte sie verwirrt.

»Es gibt hier immer mehr Menschen. Die Dörfer wachsen. Ich denke, wir haben das deinem Onkel zu verdanken, weil er mit den Fehden aufgeräumt hat. Aber der Ertrag unserer Felder lässt nach. Sie sind schon zu lange bebaut worden. Es wird Zeit, neues Land zu roden.«

Libussa schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Siedlung und Felder gesehen. Nur große Häuser aus Stein.«

»Vielleicht wird das einmal aus dieser Siedlung werden. Wer weiß das schon? Aber der Augenblick wäre günstig, eine Siedlung zu gründen.«

Sie schloss die Augen und ließ seine Worte auf sich wirken. Sie zauberten ein anderes, weniger fremdartiges Bild hinter ihre Lider. »Ich werde Morana einen Schrein dort errichten lassen, denn ich gründe diese Siedlung zu Ehren der Göttin, die uns beim Kupala-Fest zusammenbrachte. Inmitten der Bauernhütten will ich uns ein Heim bauen, damit wir nach dem Wohl der Leute sehen können. Es sollen die alten Sitten gelten.«

Premysl lächelte. »Ich habe gehört, dass Neklan sich eine Festung in der Nähe der Dörfer bauen lässt. Damit er sie besser unter Kontrolle hat. Es ist schön, dass du es aus anderen Gründen tun willst.«

Sie zog sich verunsichert zurück. »Du spottest. Du traust mir nicht.«

Kopfschüttelnd küsste er ihre Stirn. »Dir traue ich, Libussa. Sonst kaum einem Fürsten, außer vielleicht deinem Onkel. Er ist vom alten Schlag und denkt nicht nur an seinen eigenen Vorteil. Thetka würde ich niemals solches Vertrauen schenken, obwohl ich Achtung vor ihrem Kampfgeist habe. Lass uns morgen aufbrechen. Wir sehen uns diese Stelle aus deinem Traum genauer an. Vielleicht ist das der richtige Ort für eine neue Siedlung.«

»Warum gerade jetzt eine neue Siedlung gründen?«, entgegnete sie zögernd. Sein Plan kam zu schnell, zu unüberlegt. »Ich habe Krok genug zugemutet, als ich dich zu meinem Gefährten machte. Der Plan würde ihm nicht gefallen, er hat ganz andere Dinge im Kopf. Der Bau einer neuen Siedlung wäre für ihn im Augenblick unnötiger Aufwand. Ich möchte noch ein wenig warten. Wenn er aus dem Land der Mähren zurück ist, rede ich mit ihm darüber.«

»Wie du meinst«, gab Premysl nach. »Aber ich würde morgen trotzdem gern ausreiten. Es gefällt mir, auf dem Pferd zu sitzen. Das ist, als könnte man fliegen wie ein Vogel.«

Libussa nickte. Es freute sie, dass er wenigstens einen Vorzug seiner neuen Stellung zu schätzen wusste.

Es war ein warmer, sonniger Tag. Sie ritten zunächst flussaufwärts an einigen Dörfern vorbei, ziellos, aber voller Freude, sich unbekümmert treiben lassen zu können. Als sie Hunger bekamen, machten sie Halt und packten ihre Vorräte aus. Die Mittagssonne brannte auf ihrer Haut, so dass sie im Fluss Abkühlung suchten. Fern von Chrasten, ihrem Onkel und all den ratsuchenden Besuchern überkam Libussa ein Gefühl völliger Freiheit, das sie seit ihrer Ernennung zur Fürstin vermisst hatte. Sie legte sich auf den Rücken und ließ sich im kühlen Wasser treiben. Premysls Stimme, die nach ihr rief, schien aus weiter Ferne zu kommen. Sie hielt die Augen geschlossen und ein Summen erklang in ihren Ohren. Wieder tauchten die Steinhäuser vor ihr auf, deren Dächer im Sonnenlicht glänzten. Zum ersten Mal bemerkte sie die kunstvollen Verzierungen an all diesen Bauten und fragte sich staunend, welches Volk in der Lage wäre, derartig aufwändige Gebäude zu errichten. Die Eingangstore waren mit Schnitzereien verschönert, Menschenfiguren aus Stein schmückten die Vorplätze, und auf jenen breiten Pfaden, die sich an den Gebäuden vorbeizogen, hatte man glatte Steine ausgelegt, damit es sich einfacher laufen ließ. Unmengen von Menschen in seltsamer Kleidung eilten dort entlang. Sie schienen gar nicht zu bemerken, welche Pracht sie umgab.

Erst als Libussa die Augen wieder öffnete, begriff sie, wie schnell der Fluss sie dahintrieb. Premysl war nicht mehr zu entdecken. Sie begann zu schwimmen, doch die Strömung riss sie weiter mit. Mit aufsteigender Panik kämpfte sie gegen das Wasser. Auf einmal war es ihr Feind geworden. Sie klammerte sich an das Geäst eines umgestürzten Baumes und ihre Hände bluteten, als es ihr endlich gelang, sich ans rettende Ufer zu ziehen.

Ihr Herz hämmerte und sie rang nach Atem. Wie hatte sie so dumm, so unvorsichtig sein können? Sie strich sich das triefende Haar aus dem Gesicht. Ihre Kleidung lag noch dort, wo sie mit Premysl ins Wasser gesprungen war. Sie würde nackt am Ufer entlanglaufen müssen und hoffte darauf, niemandem zu begegnen. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob sie mit dem Fluss nicht bereits an Chrasten vorbeigetrieben war. Dann müsste sie, entblößt und nass, zur Festung zurückkehren. Verstört sah sie sich um. Am anderen Ufer ragten die Wachtürme von Chrasten empor. Erleichterung vermischte sich mit Schrecken. Vielleicht hatten die Wächter sie bereits im Wasser gesehen und bald schon würde Hilfe eintreffen. Wenn es ihr nur gelänge, wenigstens ein paar Felle zu finden, um sich zu bedecken! Suchend ließ sie ihren Blick umherschweifen.

Plötzlich glaubte sie wieder zu träumen. Zwar fehlten die steinernen Gebäude, doch erkannte sie die Umrisse des Hügels. Fassungslos wandte sie sich zurück zum Fluss. Er machte eine Biegung genau an jener Stelle, wo es ihr endlich gelungen war, sich aus den Fluten zu befreien. Warum gerade hier? Die reißende Strömung hatte sie zu dem Ort aus ihrem Traum getrieben. Das Summen in ihren Ohren verwandelte sich in eine feine verspielte Melodie, die bisweilen aus dem Inneren der großen Bauten erklungen war.

Hufgetrappel schreckte sie auf. Sie suchte nach einem Baum, hinter dem sie sich vor Unbekannten oder auch vor den Wächtern von Chrasten verstecken könnte, doch bald schon sah sie zu ihrer großen Erleichterung Premysl auf seinem Pferd. Hinter ihm galoppierte Steka.

»Bist du völlig von Sinnen? Ich habe einen Augenblick nicht darauf geachtet, was du machst, und schon treibst du mit der Strömung davon. Bringt man euch Fürstentöchtern nicht bei, wie gefährlich ein reißender Fluss sein kann?«

Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wirkte er ernsthaft zornig, doch Libussa war nicht nach einem Streit zumute. Sie eilte ihm entgegen. »Hast du meine Kleidung mitgebracht?«

»Ich hatte wirklich Wichtigeres zu tun. Ich dachte, es würde mir nicht gelingen, dich einzuholen.«

Er sprang vom Pferd und erdrückte sie fast in seiner Umarmung. »Libussa, ich glaubte, du würdest ertrinken.« Seine Stimme klang heiser. Sie sah Tränen in seinen Augen und streichelte sein Gesicht.

»Du siehst, ich lebe noch.«

Er zog seine Tunika aus. »Hier, du frierst sicher. Jetzt lass uns zurückgehen und deine Kleider holen. Dann reiten wir nach Chrasten zurück. Es ist nicht weit von hier, am anderen Ufer. Ich bin daran vorbeigeritten, als ich dich einholen wollte. Vielleicht haben die Wachen dich im Wasser gesehen und es ist schon Hilfe unterwegs. Du brauchst eine heiße Suppe. Wenn wir in unserer Kammer sind, wärme ich dich schon auf.«

»Warte einen Augenblick. Es ist hier.«

»Was ist hier?«

»Der Ort, den ich in meinen Träumen gesehen habe. Die Biegung des Flusses und dann dieser Hügel. Genau an diese Stelle hat mich der Fluss getrieben. Ich glaube, das war ein Zeichen der Götter. Wir müssen uns diesen Hügel genauer ansehen. Vielleicht sollte ich hier wirklich eine Siedlung gründen.«

Er musterte sie stirnrunzelnd. »Du musst furchtbare Angst gehabt haben. Das kann einen verwirren. Gehen wir erst einmal zurück. Dann kannst du in Ruhe nachdenken.«

Sie widersetzte sich seinen Armen, die sie in Stekas Richtung fuhren wollten. »Ich brauche nicht nachzudenken. Sieh doch!«

Sein Blick folgte der Richtung, die ihre Hand ihm zeigte. Verwirrt blieb er stehen.

»Es kann Zufall sein, dass du gerade hier ans Ufer gekommen bist«, meinte er dann. »Jetzt ist es erst einmal wichtiger, dich aufzuwärmen. Sonst bekommst du noch ein Fieber.«

Sie lachte. »Aber ich friere gar nicht mehr. Ich bin viel zu aufgeregt. Sehen wir uns die Umgebung doch einmal genauer an. Der Hügel ist nicht besiedelt.«

Sie nahm seine Hand und er folgte ihr zögernd bergan. Der Hügel war von dichtem Wald bewachsen. Libussa sprang zwischen den Bäumen hindurch wie ein Reh. Sie fühlte sich schwerelos, als würde sie von unsichtbaren Händen getragen. Das Dunkel des Waldes verschluckte sie beide. Premysl schlug vor umzukehren, doch Libussa zog ihn weiter. Die Melodie klang immer lauter in ihren Ohren. Als Premysl sie packte und festhielt, verstand sie zunächst nicht, warum. Erst dann bemerkte sie den alten Mann, der drohend einen Ast vor ihnen schwang. Seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen. »Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?«

Libussa hob abwehrend die Hände. »Wir kommen in Frieden. Lebst du hier?«

Er nickte zögernd. »Seit vielen Jahren. Aber es kommt fast nie jemand her. Die Dörfer liegen flussaufwärts von Chrasten. Was wollt ihr?« Der Mann hatte wallendes weißes Haar und einen Bart, der bis zu seiner Taille reichte. Seine Kleidung bestand aus zerrissenen Lumpen und Fellen. Libussa begriff, dass er an einem anderen Ort furchteinflößend auf sie gewirkt hätte, doch hier erschien ihr sein Auftauchen angemessen, als hätte sie diesen merkwürdigen Kauz erwartet.

Premysl trat vor. »Meine ... meine Frau fiel in den Fluss und wäre fast ertrunken. Wir gingen in den Wald, um einen ruhigen Ort zu suchen, wo sie sich aufwärmen kann.«

Libussa fand die Erklärung fadenscheinig, aber der alte Mann nahm sie hin.

»Ich habe eine Hütte nicht weit von hier. Kommt!«, murmelte er, wenn auch etwas zögernd. Er verschwand im Dickicht der Bäume und sie folgten dem Geräusch seiner Schritte. Plötzlich tauchte die Hütte vor ihnen auf. Sie lag inmitten einer Lichtung und das strahlende Sonnenlicht blendete Libussa.

»Er muss eine Stelle im Wald gerodet haben. Und er hat ein Feld angelegt«, flüsterte Premysl ihr ins Ohr.

Der alte Mann winkte sie herein. »Ich habe diese Hütte vor vielen Jahren gebaut. Langsam ist sie morsch geworden.« Die Einrichtung war noch ärmlicher als in Premysls ehemaligem Zuhause. Zudem lag ein unangenehmer Geruch in der Luft. Zwei Schweine und eine Ziege schienen dort ebenfalls zu wohnen, denn sie begrüßten den alten Mann freudig. Er streichelte sie und sprach sie mit Namen an.

»Da ist eine unvorsichtige junge Frau ins Wasser gefallen. Wir sollten ihr etwas Milch geben, meinst du nicht, Ljuba?«, sagte er zu der Ziege, als er einen unförmigen Holzbecher nahm und sie zu melken begann. Libussa fragte sich, ob er erwartete, dass sie sich dafür bei der Ziege bedankte. Die Tiere selbst sehnten sich jedenfalls nicht nach ihrer Aufmerksamkeit, denn sie verzogen sich schnell in einen Winkel der Hütte, als sei einzig die Gegenwart des alten Mannes ihnen genehm. Er streichelte sie und flüsterte ihnen Worte der Beruhigung in die Ohren. Es schien ihm leichter zu fallen, mit diesen Tieren zu reden als mit unbekannten Menschen, und Libussa erinnerte er darin an ihre Schwester Kazi.

Der alte Mann wies auf ein paar Felle, die in einer Ecke lagen. Er redete, ohne seine Gäste anzusehen. »Setzt euch. Ich bekomme nicht oft Besuch. Eigentlich nie.«

Dann wandte er sich wieder seinen Tieren zu. »Kommt, ihr wollt sicher eine Weile nach draußen. Aber bleibt in der Nähe und vergesst nicht, wieder hier zu sein, bevor es dunkel wird. Keine Angst, die Gäste bleiben sicher nicht lange.« Leise murmelnd ließ er sie hinaus und blieb eine Weile vor der Hütte stehen, um zu beobachten, wohin sie liefen.

»Er lebt hier ganz allein. Warum nur?«, flüsterte Libussa Premysl ins Ohr.

»Früher wurden Leute, die eine schwere Missetat begangen hatten, aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen. Man erklärte sie für tot. Vermutlich sind die meisten von ihnen auch gestorben, denn wer kommt schon allein im Wald zurecht. Dieser Mann hat es wohl geschafft.«

»Meine Kinder gaben mir ein paar Tiere und Werkzeug mit. Heimlich natürlich«, erklang plötzlich die Stimme des alten Mannes. Er musste ein ungewöhnlich gutes Gehör haben. »Ich lief den Fluss entlang, bis ich diesen Hügel fand. Dort baute ich meine Hütte. Ich dachte, hinter der Biegung der Vltava wäre ich sicher. Die Tiere sollten mich ernähren, aber mit den Jahren wurde es unmöglich, sie zu töten. Diese drei, die noch übrig sind, habe ich selbst aufgezogen. Sie sprechen mit mir, wisst ihr? Abends beim Feuer unterhalten wir uns alle darüber, was wir am Tag erlebt haben.«

Sein Lächeln war das eines Kindes. Aber er musste ein Verbrecher sein, sonst hätte man ihn nicht verbannt. Libussa hatte zu frieren begonnen. Der alte Mann merkte es wohl, denn er machte sich an der Feuerstelle zu schaffen. Vielleicht suchte er auch nur nach Beschäftigung. Nach vielen Jahren der Einsamkeit schien die Gegenwart von Menschen ihn zu verunsichern.

»Wovon lebst du hier, wenn du deine Tiere nicht schlachten willst?«, fragte Premysl.

Der Alte wies auf eine Steinschleuder sowie Pfeil und Bogen in einer Ecke der Hütte. »Ich jage im Wald.«

»Und das Feld vor deiner Hütte?«, bohrte Premysl weiter nach.

»Dort baue ich an. Was sonst? Gemüse und Getreide.«

»Sind die Erträge gut?«

Der alte Mann drehte sich langsam zu ihnen um. Sein Gesicht wirkte niedergeschlagen.

»Ich habe immer gewusst, dass eines Tages jemand kommen würde, der hier ebenfalls leben will. Es ist nicht weit weg von den anderen Siedlungen, aber die Erde hier ist unverbraucht. Ja, die Erträge sind gut. Im Wald lebt viel Wild, das einen ernähren kann. Es gibt einen Bach in der Nähe, wo ich Wasser hole, denn am Fluss bin ich von weitem schon zu entdecken. Das kann gefährlich sein. Manchmal ziehen Händler dort vorbei. Wenn ich sie sehe, winke ich ihnen zu und mache ein paar Tauschgeschäfte mit meinen Fellen. Das ist ein sehr geeigneter Ort, um sich niederzulassen.«

Er verstummte und senkte den Blick, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Libussa war plötzlich unwohl zumute. Sie fühlte sich wie ein unerwünschter Eindringling.

»Nach so vielen Jahren allein im Wald wärst du doch sicher froh über etwas Gesellschaft?«, fragte sie unsicher. Der alte Mann setzte sich seufzend auf den Boden. »Ich habe nichts Verwerfliches getan, Mädchen. Auch wenn ich in deinen Augen sehe, dass du mich für einen Verbrecher hältst. Du hast ein sehr offenes, freundliches Gesicht und gibst dir sogar Mühe, deinen Verdacht zu verbergen. Du erscheinst mir so gutmütig und vertrauensselig, wie ich auch einmal gewesen bin. Aber hüte dich vor den Menschen.«

»Was ist dir geschehen?«, fragte Premysl.

Der Alte senkte seinen Blick. »Ein Nachbar verleumdete mich im Dorf. Ihm gefiel meine Frau, und ihr Hof, der größte im Dorf, gefiel ihm noch besser. Meine Frau hatte ein Kind geboren, ein Mädchen. Ich war nicht der Vater. Sie hat es mir nicht verschwiegen. Ich wusste, dass sie ein Recht auf ihre Freiheit hatte, und war selbst bei anderen Frauen gelegen, doch es schmerzte mich trotzdem. Eines Abends, nach zu vielen Bechern Met, erzählte ich meinem Nachbarn davon. Bald darauf war das kleine Mädchen tot und ich galt als der Mörder. Ihr müsst mir nicht glauben. Ich weiß, die meisten Verurteilten beteuern ihre Unschuld. Aber mir ist danach die Lust auf menschliche Gesellschaft vergangen. Meine Tiere reichen mir. Ich weiß, ihnen kann ich trauen. Wenn ihr mit anderen Menschen hierherkommt, dann lasst mir meine Hütte und meinen Frieden. Ich werde die Hütte ausbessern, damit niemand denkt, sie sei unbewohnt, und sich in ihr breitmachen will.«

»So soll es sein«, erklärte Premysl und stand auf. »Ich glaube, wir gehen jetzt besser«, meinte er zu Libussa.

Sie stiegen den Hügel hinab und gingen zurück zu den Pferden. »Die Gegend ist bestens geeignet für eine Siedlung«, meinte Premysl. »Fruchtbarer Boden und Wild. An dieser Biegung des Flusses kann man einen Marktplatz für fahrende Händler errichten. Dadurch kommen Waren in den Ort.«

Libussas Tatendrang hatte nachgelassen. »Meinst du wirklich, es ist ein gutes Vorhaben? Der alte Mann wäre gern allein.«

Premysl legte seinen Arm um ihre Schulter. »Früher oder später kommt jemand auf die Idee, sich hier niederzulassen. Unverbrauchtes Land in der Nähe von Chrasten, das zieht Menschen an. Er hat es immer geahnt. Du kannst ihm Sonderrechte einräumen, damit er seinen Frieden hat. Andere würden nicht so freundlich mit ihm verfahren.«

Sie nickte. »Aber warum soll ich als Fürstin meine Leute auffordern, den Wald hier zu roden und Felder anzulegen? Die Bauern haben doch bereits ihre Dörfer.« Jetzt, wo ihr Traum seinen Niederschlag in der Wirklichkeit fand, fühlte sie sich auf einmal unsicher und verwirrt.

»Ich sagte doch bereits, dass die Dörfer übervölkert sind. Ich kann Freiwillige auftreiben. Vor allem jetzt, da die fürstlichen Clans uns Bauern immer mehr ausbeuten wollen. Ich lege mein Wort für dich ein, Libussa, und viele werden in deiner Siedlung leben wollen. Ich habe Freunde, die auf meinen Rat vertrauen. In ein paar Jahren hast du hier eine Festung, die von Hütten umgeben ist. Wir bauen auch einen Schrein für die Götter. Es muss einen Grund geben, warum du von einer Siedlung an diesem Ort träumtest und der Fluss dich heute hierhergetragen hat.« Die Begeisterung in seiner Stimme wirkte ansteckend. Sie spürte seinen Drang, sich als nützlich zu erweisen, und ergriff dankbar seine Hand.

»Bis Onkel Krok wieder aus Mähren zurück ist, könnte schon ein Teil der Siedlung stehen. Dann klingt mein Traum nicht mehr wie ein Hirngespinst.« Das Glücksgefühl kehrte zurück, auch wenn sie keine Traumbilder mehr sah und die Melodien verstummt waren. Ihre Vision würde sich nun verwirklichen.

»Außerdem solltest du dir einen Namen überlegen für deine Siedlung«, sagte Premysl, während sie auf ihre Pferde stiegen. »Wir könnten sie nach dir benennen. Libuschin oder so ähnlich.«

Sie dachte an den alten Mann und verneinte. Leider wusste sie nicht, wie der eigenartige Kauz hieß. »Auch wenn der alte Einsiedler sich nicht nach Gesellschaft sehnte, nahm er die unsere hin. Er bat uns über seine Türschwelle und hat uns bewirtet. Deshalb soll der Ort Praha heißen, wie die Türschwelle, als Zeichen der Achtung vor seiner Gastfreundschaft. Außerdem gefällt mir dieser Name. Ein jeder Mensch, der über eine Türschwelle tritt, muss sein Haupt beugen. Ganz gleich, ob er Fürst, Schamane oder Bauer ist. Das sind die alten Sitten, nach denen niemand in unserem Volk ein Recht hatte, sich über andere Menschen zu stellen.«

Premysl brachte schon nach einer Woche einige Dutzend Leute, die bereit waren, sich ein neues Zuhause zu bauen. Sie begannen, die Bäume auf dem Berg zu fällen, doch ging es sehr langsam voran. Libussa überredete einige Knechte und Mägde mitzuhelfen, indem sie ihnen eine gute Stellung in der neuen Siedlung versprach. Ein paar Bäume mehr fielen. Ihr Ächzen schmerzte in Libussas Ohren.

»Wo soll deine Festung stehen?«, fragte Premysl nach einigen Wochen. Sie zuckte mit den Schultern.

»Oben am Gipfel wie alle Festungen. Der Schrein sollte in der Nähe erbaut werden, damit es kein so weiter Weg ist zu den Zeremonien.«

»Und wo genau möchtest du ihn, deinen Schrein?«

Sie wollte sagen, dass es darauf nicht ankam, doch ein großes steinernes Gebäude schob sich vor ihre Augen. Sie sah es in aller Deutlichkeit ein Stück unterhalb des Gipfels stehen und richtete ihren Arm auf jene Stelle, auch wenn ihr klar war, dass keiner ihrer Leute einen solchen Bau würde errichten können. Doch es schien, als wollte die Göttin an jenem Ort ein Zuhause haben.

Weitere Wochen später war der Wald geschrumpft. Libussa brachte den Arbeitern gemeinsam mit anderen Frauen Nahrung und Wasser. Als die Bäuerinnen anfingen, Wurzeln aus der Erde zu reißen, damit dort Felder angelegt werden konnten, versuchte sie, sich daran zu beteiligen. Am Anfang stellte sie sich sehr ungeschickt an, und einmal entglitt ihren Händen eine große Wurzel und sie fiel rücklings zu Boden. Verlegen nahm sie die unterdrückten Lacher zur Kenntnis.

»Mach dir nichts draus, die Leute sind dankbar, dass du mit anpacken willst«, versicherte ihr Premysl, doch sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte. Manch eine Bäuerin hatte abfällig gegrinst, als Libussa sich stöhnend ihre wunden Hände im Fluss wusch. Jedes Glied ihres Körpers schmerzte, wenn sie sich abends in einem Zelt zum Schlafen legte, denn um nach Chrasten zu reiten, war sie zu erschöpft. Oft sehnte sie sich nach der Geborgenheit ihrer Kammer und verstand nicht, warum eine seltsame Kraft sie am nächsten Tag wieder aufstehen und mit der Arbeit fortfahren ließ. Es war, als folge sie einer inneren Weisung, die sie nicht einmal gehört hatte.

Die Festung wurde aus hölzernen Balken errichtet, die mit einer Mischung aus Lehm und Moos bestrichen wurden. Sie glich Chrasten sowie allen anderen derartigen Bauten, denn niemand sah einen Grund, die Konstruktion zu verändern. Ein zweistöckiges Gebäude wuchs heran, mit dem großen Saal, in dem Libussa ihre Versammlungen abhalten würde, und daneben noch ein paar kleinen Räumen für sie und ihre Familie. Thetka und Eric waren bald ebenfalls bereit mitzuhelfen, da ihnen der Sinn nach einem neuen Abenteuer stand. Zwar erwies es sich als mühselig, doch Thetkas Stolz verbot es ihr, sich wieder gelangweilt zurückzuziehen. Schließlich traf auch Kazi ein, um Arbeiter zu versorgen, die von Baumstämmen oder beim Errichten der Wände verletzt worden waren.

Um den großen Bau herum entstanden Getreidespeicher sowie die Hütten für jene Bauern, die sich als Handwerker und Bedienstete in Praha niederlassen wollten. Zunächst grub man viereckige Gruben in den Boden, um die herum die Wände errichtet wurden. Seit jeher wurden die Wohnhäuser ihres Volkes tieferdig angelegt, so dass man eine kleine Leiter hinuntersteigen musste, wenn man sie betrat. Ihre Strohdächer reichten bis zum Boden.

Man hatte bereits mit dem Bau der Festungsmauer begonnen, als Krok von seiner Reise zurückkehrte. Libussa machte sich sogleich auf den Weg nach Chrasten, sobald sie die Neuigkeit hörte, und trat ihrem Onkel mit verschmutztem Gewand und wundgeriebenen Händen entgegen.

Sie wusste, dass sie jetzt endgültig aussah wie die Gefährtin eines Bauern, und war bemüht, diesen Umstand unterhaltsam zu finden, was ihr Onkel mit Sicherheit nicht tat. Unsicher richtete sie ihren Blick auf sein Gesicht, doch war darin nicht der befürchtete Ärger zu erkennen.

»Du willst eine neue Festung bauen, hat man mir erzählt. Ist das Zuhause deiner Vorfahren nicht mehr gut genug für dich?«

Sie hatte mit dieser Frage gerechnet und ihre Antwort sorgfältig vorbereitet. »Auch Chrasten wurde erbaut, weil es nötig war. Vorher hatten wir ein anderes Zuhause. Nun ist es an der Zeit, eine neue Siedlung zu gründen, denn unsere Dörfer sind zu sehr gewachsen.«

Er nickte nachdenklich. »Man könnte aber auch einfach nur neue Dörfer und Felder anlegen. Warum gleich eine Festung?«

Libussa wusste, dass es wenig Sinn hätte, ihm von einem Traum zu erzählen. Doch es fiel ihr sehr schnell eine andere Begründung ein: »Wenn Angreifer kommen, wollen die Bauern aus dem Umland in die Festung flüchten. Doch Chrasten und unsere anderen kleinen ummauerten Siedlungen reichen nicht mehr aus, um alle Leute aufzunehmen. Außerdem kann in den neuen Getreidespeichern mehr gelagert werden, falls wieder Notzeiten kommen.« All diese Dinge hatte sie von Premysl erfahren.

Krok blickte weiter skeptisch drein, widersprach aber nicht. Lange schwieg er, in Gedanken versunken, und Libussa schämte sich ihrer eigenen Ängstlichkeit. Wann endlich würde sie lernen, jenem Mann, der sie erzogen hatte, furchtlos die Stirn bieten zu können? Warum kostete jede Auseinandersetzung mit ihm sie immer noch Überwindung?

»Stammt die Idee von dir oder von Premysl?«, fragte Krok schließlich stirnrunzelnd.

»Wir wollten es beide«, erwiderte sie wahrheitsgemäß, denn ohne Premysls Hilfe würde sie immer noch darüber nachgrübeln, welchen Sinn ihre seltsamen Träume hatten.

Krok fuhr sich mit den Fingern durch sein silbergraues Haar. »Nun gut, es hört sich an wie eine Sache, die ihr beide zusammen ausgeheckt habt. Wie viele Arbeitskräfte sind es?«

»Mittlerweile an die hundert, Onkel. Premysl ließ die Nachricht im Umland verbreiten, und viele sind gekommen. Junge Bauern, denen es in ihren Dörfern zu eng geworden ist. Manche sind, glaube ich, auch vor Sklavenhändlern geflohen. Wir stellen keine Fragen, solange sie ihre Arbeit verrichten.«

»Ich werde einige Reiter losschicken, damit die Kunde noch weiter dringt. Ihr braucht mehr Menschen, um eine solche Siedlung am Leben zu erhalten«, erklärte der Onkel zu ihrer Überraschung. »Und morgen werde ich mir euer Bauwerk einmal ansehen. Ich vermute, weder Premysl noch du hast eine Ahnung, wie man einen sicheren Schutzwall errichtet.«

Das Grundgerüst der Mauer von Praha bestand aus Holzbalken, die mit einer dicken Schicht von Steinen verstärkt werden mussten, damit kein Feind sie einfach niederbrennen konnte. Männer wurden losgeschickt, um Steine aus nahe gelegenen Felsen zu brechen und sie mit Hilfe von Karren zur Baustelle zu transportieren. Dies schien der mühseligste und anstrengendste Teil des ganzen Baus. Premysl beteiligte sich selbst an den schweren Arbeiten. Viele Wochen lang sah sie ihn nur im Zustand völliger Erschöpfung. Die Schwielen an seinen Handflächen verhärteten sich, während die steinerne Wand so langsam wuchs, dass Libussa kaum Unterschiede bemerkte. Schmutz, Schweiß und Schmerzen waren zu einem selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebens geworden, als die Mauer endlich fertig gestellt war. Oben spitzte man die Pfähle an, um ein Eindringen von Feinden zu erschweren. Vier Wachtürme wurden gebaut, die mit Leitern zu erklimmen waren, und ein von Balken gestützter Rundgang, der die Türme miteinander verband. Danach begann man, rund um die Mauer von Praha einen Graben auszuheben. Die Brücke zum Eingangstor konnte eingezogen werden, sobald ein Angriff drohte. Es waren zusätzliche Holzpalisaden zur Sicherung des Grabens geplant. Libussa missfiel es als Einziger, den Kern ihrer Festung derart eingezäunt zu sehen, denn in ihren Träumen schien Praha allen Fremden zugänglich. Doch sie wusste, dass solche Träume nicht der Wirklichkeit entsprachen. Eine Festung diente immer auch dem Schutz ihrer Bewohner.

Der Schrein wurde errichtet, als die Mauer bereits stand. Premysl schnitzte eine Statue der Göttin Morana und fertigte auch Bildnisse von Perun, Veles und Mokosch an. Schamanen stimmten heilige Gesänge an, um die Götter in ihr neues Heim zu rufen. Libussa sprach Gebete und hielt die heilige Tonscheibe der Sonne entgegen. »Mokosch, große Mutter und Göttin der Sonne, segne diesen Ort mit deiner Gegenwart, auf dass er blühen und gedeihen möge.« Sie hatte das Gefühl, eine unsichtbare Hand streife ihr Gesicht.

Ihr Schlaf war friedlich geworden, was sicher auch an der täglichen Erschöpfung lag. Premysl freute sich über bessere Lebensmöglichkeiten für viele Bauern, die vor der Festung frisches, unverbrauchtes Land vorfinden konnten. Krok freute sich über die günstige Lage der Siedlung als Handelsplatz. Die Biegung des Flusses würde viele Schiffe zum Halten bringen, die an Chrasten vorbeigefahren waren. So gab es bessere Möglichkeiten, Tauschgeschäfte zu machen, von denen alle Bewohner Prahas und der Umgebung Vorteile ziehen konnten. Die Anlegestelle war bereits erbaut. Mit der Gunst der Götter, meinte Krok, könnte Praha zu einem Ort werden, der sich bei den fahrenden Händlern aus aller Welt großer Beliebtheit erfreute. Libussa spürte, dass sie getan hatte, was sie tun musste. Alles weitere würden höhere Mächte entscheiden, deren Ziele ihr unbekannt waren.

Am Abend der Einweihung, als es dunkel wurde, blieb Libussa allein an dem Schrein zurück, in der Hoffnung, die Götter würden ihr ein Zeichen geben. Sie wollte beten, wie sie allen erzählte, und da die Mauer bereits stand, ließ man sie gewähren. Zunächst fühlte sie nur Einsamkeit und Kälte. Die Statue der Göttin Morana schien nichts weiter als eine schöne Schnitzerei. Erst nachdem die feinen Melodien wieder in ihren Ohren erklangen, sah sie, wie das Holz zu leuchten begann, als sei es Harz.

»Dies ist der Ort, den wir schaffen wollten, bevor man uns vergisst. Er wird fortbestehen, auch wenn niemand mehr unsere Namen kennt«, unterbrach eine weibliche Stimme die Musik. »Hierher wird er kommen, um bis zum Ende für uns zu kämpfen.«

»Wer wird kämpfen?«, fragte Libussa verwirrt. Das Strahlen der Statue war so stark geworden, dass sie die Augen schloss. Sie sah vor ihrem inneren Auge einen jungen Mann mit pechschwarzem Haar, dessen brauner Körper fast nur aus Muskeln zu bestehen schien, Er schwang sein Schwert mit einem müden Blick in den seltsam schrägen Augen.

»Sein Name bedeutet Erinnerung. Er wird die alten Götter und Sitten nicht vergessen«, flüsterte die Stimme der Göttin ihr ins Ohr.

Als Libussa aus ihrem Traum erwachte, grübelte sie, welche Bedeutung er haben könnte. Doch nachdem sie angefangen hatte, gemeinsam mit anderen Frauen Essen für die Arbeiter vorzubereiten, zerfiel er bereits in unzusammenhängende Scherben. Bald schon hatte sie ihn fast vergessen.

Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band

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