Читать книгу Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band - Tereza Vanek - Страница 15

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Libussa stand oben auf dem Wehrturm und musterte die Umgebung. Die Arbeit vieler Jahre hatte den Wald noch weiter zurückgedrängt. Zahlreiche Dörfer waren auf dem Hügel und in seiner Umgebung entstanden, und da die Erträge gut waren, wie Premysl vorausgesehen hatte, wuchsen sie ständig. Auch am anderen Ufer der Vltava begannen sich neue Siedler niederzulassen. Premysl zog den Bau einer Brücke in Erwägung, die allerdings hoch genug sein musste, damit die Schiffe und Flöße der Händler unter ihr durchfahren konnten. An der Anlegestelle war ein großer Holzbau errichtet worden, um diesen fahrenden Händlern eine Unterkunft zu bieten. Es kamen inzwischen so viele, dass es nicht immer möglich war, sie in der Festung unterzubringen. Der Hof stand nun voller Hütten, in denen die Handwerker lebten. Leute aus dem Umland kamen regelmäßig mit Karren, um Felle, Leder und Getreide zum Tausch anzubieten. Libussa hatte einen Markttag in der Woche eingeführt, an dem Praha wie ein fremder Ort wirkte, so viele unbekannte Gesichter liefen dann in der Festung herum. Sie hatte darin bereits große rotbärtige Nordmänner gesehen und kleine schwarzhaarige Menschen mit ledrig brauner Haut sowie einige Schrägaugen aus dem Reich der Awaren. Premysl schenkte ihr einmal die Statue eines kleinen lächelnden Mannes, der in einer höchst unbequemen Stellung auf dem Boden saß. Seine Beine wirkten wie ineinander verknotet. Angeblich handelte es sich dabei um eine Götterfigur aus einem sehr weit entfernten Land. Obwohl Premysl das Eintreffen von Edelsteinen und Silber immer noch mit Skepsis beäugte, gelang es ihm, mit seinen geschnitzten Statuen überaus gute Tauschgeschäfte zu machen.

Dass die jährlichen Zeremonien nun hier stattfanden und die fürstlichen Clans sich im großen Saal von Praha versammelten anstatt in Chrasten, galt mittlerweile als selbstverständlich. Kazi und Thetka waren der Schwester in das neue Heim gefolgt. Nur Krok blieb in Chrasten, das glücklicherweise zu Pferd sehr schnell zu erreichen war. Libussa konnte deutlich die Türme der älteren Festung am Horizont erkennen. Kroks Abwesenheit schmerzte zunächst, doch mit der Zeit erkannte sie es als befreiend, nicht ständig im Schatten ihres Onkels zu stehen. Diese Festung mit den umliegenden Siedlungen war von ihr ins Leben gerufen worden. Sie hatte dadurch bei ihren Leuten an Ansehen gewonnen.

Zufrieden kletterte sie die Leiter in den Hof hinab. Es war ein milder Herbsttag, und da sie die letzten Ratsuchenden bereits angehört hatte, konnte sie mit Premysl vielleicht noch kurz am Ufer ausreiten, bevor die Dämmerung anbrach. Mit raschen Schritten ging sie auf das Hauptgebäude zu und erschrak, als plötzlich eine Kinderhand nach ihrem Arm griff.

»Sieh her, was ich hier habe, Tantchen!«, rief das kleine blonde Mädchen, die Tochter ihrer Schwester Thetka, stolz und hielt ihr einen Holzkäfig entgegen, in dem eine Amsel saß. »Vojen und ich haben sie im Wald gefunden, mit gebrochenem Flügel. Da haben wir sie zu Tante Kazi gebracht, die sie versorgt und in den Käfig gesteckt hat. Sie sagt, ich soll sie füttern, bis sie wieder fliegen kann. Und wenn ich es nicht richtig mache, dann nimmt sie sie mir wieder weg, so wie damals den jungen Hund. Sie sagt, Vojen kann kein Tier versorgen, obwohl er ihr Sohn ist.«

Stolz schwang in Vlastas Stimme mit. Ihr war eine Aufgabe zuteil geworden, die jemand anderem nicht zugetraut wurde. Libussa betrachtete die vor Angst zitternde Amsel. Es erstaunte sie, dass Kazi Thetkas Tochter Vlasta freiwillig ein Tier anvertraute, denn Fürsorglichkeit gehörte nicht unbedingt zu den guten Eigenschaften des wilden Mädchens, das vor kurzem sieben Jahre alt geworden war. Vielleicht hoffte Kazi, Vlasta würde durch die Pflege von Tieren Rücksichtnahme lernen, aber Libussa war skeptisch. In Thetkas Tochter war der ungeduldige, herrische Geist der Fürstin Scharka wiedergeboren worden. Sie schien noch starrköpfiger und aufbrausender als Thetka selbst. Libussa strich dem Mädchen über das Blondhaar.

»Sag am besten einer deiner Mägde, dass sie dich daran erinnern soll, den Vogel regelmäßig zu füttern. Außerdem braucht er sicher auch Wasser. Wir wollen doch nicht, dass er stirbt. Dann wäre Kazi sehr traurig.«

Vlasta nickte und eilte mit dem Käfig davon. Ein paar Schritte von Libussa entfernt war nun ein Junge stehen geblieben, der das Geschehen mit todernstem Gesicht betrachtete. Libussa lächelte ihm zu, doch er reagierte nicht darauf. Seine dunklen Augen folgten Vlasta, die an ihm vorbeilief, ohne ihn zu beachten.

Vojen hatte das spitze Gesicht und den dunklen Haarschopf seiner Mutter Kazi geerbt. Er war auch ebenso verschwiegen, stets in sich gekehrt, als trenne ihn eine unsichtbare Mauer von anderen Menschen. Doch während Kazi in ihrer Verschlossenheit zufrieden schien, blickte der Junge meist mürrisch drein. Libussa begrüßte ihn freundlich, so dass er ihr wohl oder übel zunicken musste. Dann ging sie weiter. Sie hatte im Augenblick nicht die Muße, um den schwierigen Vojen zum Reden zu bringen, auch wenn ihr jetzt wieder einfiel, dass Kazi ihrem Sohn kein Tier mehr zur Pflege überlassen hatte, seit ihm einmal ein verletztes Lämmchen gestorben war. Dabei war es von Wölfen zerbissen worden, und sein Tod wäre auch dann eingetreten, wenn Vojen nicht kurz vergessen hätte, nach dem Tier zu sehen. Mit seinen fünf Jahren war er kaum in der Lage gewesen, Verantwortung für ein anderes Leben zu tragen. Es musste ihm ungerecht erscheinen, dass seitdem nur Vlasta mit Aufgaben betraut wurde, die seine Mutter für wichtig hielt. Libussa war bereits mehrfach aufgefallen, wie abweisend Kazi ihren Sohn behandelte, und sie beschloss, ihre Schwester in einem günstigen Moment darauf anzusprechen. Sie wollte Kazi darauf hinweisen, wie sehr sie den Göttern, vor allem der großen Mutter Mokosch, zu Dank verpflichtet war, ein gesundes Kind zur Welt gebracht zu haben.

Als Kazi, die allgemein männliche Gesellschaft mied, sich mit Bivoj, einem herumziehenden Krieger zusammentat, waren alle überrascht gewesen. Das Verhältnis hielt auch nicht lange. Sobald Kazi ihre Schwangerschaft bemerkte, wurde ihr Verhalten gegenüber Bivoj immer kühler, so dass er schließlich beschloss, sein Glück an einem anderen Ort zu suchen. Die Geburt seines Sohnes bekam er nicht mehr mit. Libussa erinnerte sich an Kazis unzufriedene Miene, als sie den kleinen Vojen zum ersten Mal in ihren Armen hielt.

»Einen Sohn hätte ich vielleicht besser dem Vater mitgeben sollen, damit er einen Krieger aus ihm macht«, hatte die Schwester nur gemurmelt. Libussas Ermahnung, dass auch Söhne zum Clan ihrer Mütter gehörten, ertrug sie geduldig, ohne sie ernst zu nehmen.

Warum schenkte Mokosch ihrer Schwester einen Sohn, wenn sie es nicht einmal zu schätzen wusste? In ihrem eigenen Leben war der Kindersegen bisher ausgeblieben, auch wenn Premysl und sie immer noch bei jeder Gelegenheit das Lager teilten. Sie hatte regelmäßig am Schrein Moranas gebetet, Kazis Ratschläge befolgt, doch ihr sehnlichster Wunsch blieb unerfüllt.

In düstere Gedanken versunken betrat sie ihre gemeinsame Kammer und fand dort Premysl vor. Immer noch trug er einfache Bauernkleidung, auch wenn sein Ansehen mit der neuen Siedlung gewachsen war. Bei den Sitzungen im großen Saal verharrte er an Libussas Seite, mischte sich aber nur selten in die Gespräche ein. Tat er es doch, so zeugten seine Worte von bemerkenswertem Verstand. Aber er hielt es für alberne Wichtigtuerei, mehr als unbedingt nötig vor den Versammelten zu sprechen. Die fürstlichen Clans hatten gelernt, seine Anwesenheit hinzunehmen. Der Gefährte einer Fürstin war nur in Ausnahmefällen wichtig gewesen, nicht selten wurde er bald durch einen anderen Mann ersetzt. Da Libussa als Fürstin der Cechen und Hohe Priesterin durch die Gründung Prahas neuen Wohlstand ins Land gebracht hatte, war Widerspruch gegen ihr Verhalten selten geworden.

»Lass uns noch kurz ausreiten, bevor das Abendessen fertig ist«, meinte sie nun zu Premysl, der bereitwillig aufsprang. Wieder einmal sattelte er die Pferde selbst, bevor sie durch das Tor der Mauer ins Freie ritten. Libussa hatte gehofft, der Ausflug würde sie von ihrer Unzufriedenheit ablenken, und tatsächlich schwanden Zorn und Bitterkeit, als die vertraute Landschaft vor ihr auftauchte. Der Fluss glänzte in der Abendsonne, als sei er von Glassteinen bedeckt, und dahinter leuchtete das Laub der Bäume golden. Ehrfürchtig musterte Libussa die Schönheit, die Morana der Erde, ihrem Leib, verleihen konnte. Sie selbst war nur Teil dieses Ganzen, verbunden mit dem ewigen Kreislauf der Zeiten, und sollten ihr niemals Kinder geboren werden, so musste dies der Wille der Götter sein, dem sie sich zu fügen hatte. Dieser Gedanke erleichterte sie, und sie schloss für einen Moment die Augen. Vor ihrem geistigen Auge zogen nun Menschen vorbei, eine Gruppe zerlumpter, elender Gestalten, die von Männern zu Pferd mit Stöcken vorangetrieben wurde. Mittendrin tauchte das Gesicht eines Knaben auf. Es war dunkel wie nasse Erde und schien in seiner Trauer uralt, als habe dieses Wesen zu viel Leid erlebt, um noch Freude am Leben empfinden zu können.

»Sieh, Libussa!«, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Gefährten und riss die Augen auf. »Ich glaube, da treffen neue Händler ein.«

Ein riesengroßes Schiff kam langsam näher. In den Fluten der Vltava hoben und senkten sich die Ruder. Zahllose Gesichter waren auf Praha gerichtet, denn dieses Schiff schien zum Bersten voll mit Menschen. An seinem Mast sah Libussa die Fahne der fahrenden Händler und begann sogleich zu überlegen, wo sie all diese Leute unterbringen konnte. Ihr Herz hämmerte vor Aufregung, denn dies schien eine günstige Gelegenheit, Prahas Ruhm zu steigern. Ein derart großes Handelsschiff war bisher noch niemals eingetroffen.

»Mein Name ist Muhammad Ibn Said«, erklärte ein hochgewachsener Mann, als das Schiff die Anlegestelle erreicht hatte und Knechte halfen, es mit Seilen zu befestigen. Er musste der Handelsherr sein. Zu ihrem Erstaunen bemerkte Libussa, dass viele der übrigen Menschen an Bord Fesseln trugen und ängstlich um sich blickten. Sie fröstelte trotz der milden Abendluft. Der fremde Händler war dunkelhäutig und sein Gesicht glich dem eines Adlers, edel und stolz. »Ich habe während meines Aufenthalts in Kiev von diesem Ort gehört und komme nun hierher, um meine Waren anzubieten«, fuhr er fort. »Die Händler in Kiev schwärmten von deiner Weisheit und deiner Schönheit, hohe Frau. Ich sehe nun, dass sie die Wahrheit sprachen.«

Libussa nickte zur Begrüßung, wie es sich gehörte. Doch die Worte dieses Mannes schmeckten wie mit zu viel Honig gefüllter Kuchen. Sie waren ihr unangenehm.

»Woher kommst du, Fremder?«

»Aus den Ländern des Propheten«, erwiderte er, und als ihm klar wurde, dass sie mit dieser Antwort nichts anfangen konnte, lächelte er nachsichtig.

»Meine Heimat heißt Cordoba. Eine prächtige, reiche Stadt, doch neige ich mein Haupt angesichts der Größe dieses Ortes.«

Libussa vermeinte, Spott in den dunklen Augen aufblitzen zu sehen.

»Ich heiße dich willkommen, Fremder«, sagte sie mit fester Stimme, denn sie zweifelte, seinen Namen richtig aussprechen zu können. »Du kannst deine Waren in zwei Tagen in meiner Festung anbieten. Dann ist Markttag. Bis dahin soll das Gebäude am Ufer der Vltava deinen Leuten zur Verfügung stehen. Erweise mir die Ehre, dich in meiner Festung als Gast zu begrüßen.«

Das Lächeln schien auf dem Gesicht des Fremden festgewachsen zu sein. Doch aus seinen Augen sprach Unmut. »Ich habe viel Ware, Fürstin«, sagte er, und gleichzeitig irrte sein Blick verwirrt über die versammelten Anwesenden, als suche er nach einem geeigneteren Gesprächspartner. Kurz blieben seine Augen an Premysl hängen, doch als dieser nicht die erwartete Reaktion zeigte, wandte er sich wieder Libussa zu. »Ich bringe Sklaven ins Land. Viele davon. Ich muss sie sicher unterbringen können, bevor sie verkauft werden.«

»Es ist bei uns nicht üblich, mit Menschen zu handeln!«, sagte Premysl nun, ohne auf Libussas Zustimmung zu warten. Der fremde Händler musterte ihn überrascht.

»Ein jedes Volk braucht Sklaven, Sie können eure Siedlung reich machen.«

»Diesen Reichtum brauchen wir nicht!«

Libussas Unbehagen wuchs. Im Herzen stimmte sie Premysl zu, doch wie oft hatte Onkel Krok betont, dass der Handel wichtig für Praha war! Vermutlich wäre es keine gute Idee, diesen offensichtlich wohlhabenden Händler vor den Kopf zu stoßen.

»Es ist, wie mein Gefährte sagte«, erklärte sie daher. »Wir handeln nicht mit Menschen, doch du hast sicher andere Waren, die du anbieten könntest. Bringe sie in zwei Tagen nach Praha. Dann findet dort der Markt statt. Deine Sklaven kannst du hier am Ufer unterbringen. Es würde mich ehren, dich bald an meiner Tafel zu sehen, Fremder. Erzähle uns von der Pracht deiner Heimat.«

Dann überließ sie den Händler der Hilfe ihrer Knechte und zog sich gemeinsam mit Premysl zurück.

»Das kann nicht dein Ernst sein. Ein Sklavenhändler!« Premysl stand mitten in ihrer Kammer und schrie. Seine Stimme traf Libussa wie ein Schlag ins Gesicht. Sie trat einen Schritt zurück und atmete tief durch. Bisher hatten sie sich nur selten gestritten. Angeschrien hatte Premysl sie noch niemals.

»Auch die Nordmänner, die hier waren, halten Sklaven«, erklärte sie so gefasst wie möglich. »Überall wird mit ihnen gehandelt. Als wir Kriege mit anderen Völkern führten, da behielten auch wir Gefangene bisweilen als Sklaven.«

»Das war etwas anderes!«, entgegnete er entschieden. »Diese Leute blieben als Knechte und Mägde bei uns, doch wenn sie sich unserer Lebensweise anpassten, wurden sie mit den Jahren zu einem Teil der Dorfgemeinschaft und gingen sogar Ehen mit unseren Leuten ein. Doch dieser Mann, der seine Nase für meinen Geschmack zu hoch trägt, handelt mit Menschen, als wären sie Vieh. Er kauft sie unterwegs ein, nur um sie an einem anderen Ort wieder an den Meistbietenden zu verschachern. Wie kannst du ihn an deiner Tafel dulden, Libussa? Wir sollten Krieger sammeln, Nachrichten in die umliegenden Dörfer schicken, damit diese Unglücklichen befreit werden. Ich habe mit einigen der Knechte an der Anlegestelle gesprochen. Sie sollen helfen, Umzäunungen zu errichten, damit die menschliche Ware sich nicht so schnell davonmachen kann. Libussa, die meisten dieser Sklaven sind Leute aus unserem Volk. Aus dem Lande Rus. Sie wurden vermutlich von den Awaren oder anderen Räubern gefangen und dann an diesen ... diesen Kerl mit dem unaussprechlichen Namen verkauft.«

Seine Worte versetzten Libussa einen Stich, als habe sie eine Schwertklinge getroffen. »Um meine Krieger loszuschicken, damit diese Leute befreit werden, dazu brauchte ich die Zustimmung von Onkel Krok«, erklärte sie niedergeschlagen. »Aber ich weiß, dass er sie mir nicht geben wird. Auch die Fürsten der anderen Clans werden mir grollen, wenn ich einen so wohlhabenden Händler aus unseren Ländern vertreibe. Bitte, Premysl, sieh ein, dass ich nicht anders handeln kann.«

Er musterte sie eine Weile mit finsterem Blick. »Was bin ich froh, nicht selbst ein Fürst zu sein«, erklärte er schließlich. Obwohl er danach kaum ein Wort mit Libussa sprach, war er am nächsten Tag bereit, mit dem fremden Händler an einer Tafel zu sitzen – auch wenn er darauf bestand, wieder einmal seine Bauernkleidung zu tragen. Kazi hingegen lehnte es ab, den Fremdling kennen zu lernen. Thetka erschien, wie immer prächtig herausgeputzt, an der Seite von Eric.

Muhammad Ibn Said war in weiße Gewänder gehüllt. Ketten mit Schmucksteinen hingen um seinen Hals und er bewegte sich mit einer Anmut, die Libussa bisher nur bei Frauen aufgefallen war. Ein wenig erinnerten sie das scharf geschnittene Profil des Händlers und seine Selbstherrlichkeit an Slavonik, doch ging von diesem Fremden etwas Edles aus, das sein stolzes Auftreten selbstverständlich machte. Muhammad lobte den mit bunten Tüchern geschmückten Saal und beglückwünschte alle Anwesenden, eine derart zauberhafte Frau als Fürstin zu haben. Wieder dachte Libussa an übermäßig gesüßte Speisen. Tief in den dunklen Augen des Fremden vermeinte sie etwas völlig anderes zu erkennen: Der Saal kam ihm ärmlich vor. Manchmal, wenn die anwesenden Krieger zu derb miteinander scherzten, zuckte er zusammen. Dann malte sich sehr deutlich Widerwillen auf seinem Gesicht. Libussa verstand nicht, warum es sie schmerzte, dass dieser wenig liebenswürdige Händler ihre Leute für Barbaren hielt.

»Nun, Fremder«, hörte sie Premysl sprechen, und ihr wurde unwohl zumute. »Vergib mir, wenn ich nicht fähig bin, deinen Namen auszusprechen. Berichte uns von deiner Heimat und deinen Reisen. Wir sitzen hier meist in der Festung und sehen nicht viel von der Welt.«

Libussa atmete erleichtert auf, da Premysls Worte nicht gegen die Gebote der Gastfreundschaft verstießen. Trotzdem war der Klang seiner Stimme höhnisch und feindselig gewesen. Eine winzige Falte erschien zwischen Muhammads Augenbrauen. Dann begann er zu erzählen und seine Worte erweckten eine wundersame Welt zum Leben: steinerne Bauten mit Rundbögen, Räume, auf deren Böden bemalte glatte Scheiben lagen, in Gebäuden angelegte Seen, in denen zu jeder Jahreszeit gebadet wurde, und schließlich Brunnen, aus denen das Wasser von selbst in die Höhe schießen konnte. Libussa wurde schwindelig; sie schloss die Augen und diese unglaubliche Pracht begann, vor ihr Gestalt anzunehmen. Wie konnten Menschenhände solche Wunder schaffen? Stammte der Fremde aus dem Reich der Geister? Es kam ihr nicht in den Sinn, ihn der Lüge zu verdächtigen. Was sie hinter ihren geschlossenen Lidern gesehen hatte, war echt gewesen.

»Werden die Leute, die du dort hinschleppst, auch in solchen Bauten wohnen?«, mischte Premysl sich nun wieder ein.

Muhammad Ibn Said schien nicht verärgert, nur verwirrt. »Es ziemt sich natürlich nicht für Diener, wie ihre Herren zu leben«, erklärte er. »Aber wenn sie Glück haben, kommen sie im Haus eines reichen Mannes unter.«

»Ich bin mir sicher, sie werden es als großes Glück betrachten«, kam es nun wieder spöttisch von Premysl. »Aber sage mir, was machen diese reichen Männer den lieben langen Tag, wenn sie so viele Diener haben? Liegen sie herum und überlegen, welchen weiteren Zierrat sie sich anschaffen könnten?«

Nun verdüsterte sich Muhammad Ibn Saids Miene. Seine Augen funkelten zornig auf, aber das Lächeln schwand nicht von seinen Lippen. Sehr ruhig, fast genüsslich, setzte er zur Antwort an: »Sie widmen sich ihren Geschäften sowie der Bildung und den schönen Künsten. Lesen die alten Schriften der Weisen und Gelehrten. All dies war im Römischen Reich bekannt. Doch seit dessen Untergang geriet es in vielen Gefilden in Vergessenheit.«

Libussa schluckte, denn nun war allzu deutlich geworden, was der Händler in ihren Leuten sah: Barbaren, denen es an Wissen mangelte! Ein solches Urteil war voreilig und vermessen, denn was konnte dieser Mann schon über ihre Götter und Traditionen wissen? Trotzdem empfand sie es als beschämend, ihm nicht widersprechen zu können. Wie gern wäre sie in der Lage gewesen, von jenen alten Schriften reden zu können, deren Kenntnis er für so wichtig hielt. Welche Geheimnisse sich wohl in ihnen verbargen? Sie hörte Premysl Luft holen und fürchtete einen nahenden Streit. Ahnte ihr Gefährte, dass es diesmal nicht so einfach sein würde, den Gegner mit Worten zu besiegen? Ganz gleich, was man von Muhammad Ibn Said halten mochte, er schien ein ungewöhnlich kluger, redegewandter Mensch. Sie wollte nicht, dass er verärgert abreiste, und begann zu ahnen, dass dies nicht nur an der Bedeutung lag, die er für Praha haben konnte. Dieser Mann hatte ihr den Blick auf eine unbekannte Welt voller Wunder eröffnet.

»Beherrschst du die Kunst des Schreibens, Muhammad Ibn Said?«, fragte sie geradeheraus, um Premysl an einem weiteren Angriff zu hindern. Der Händler lächelte wieder einmal.

»Das tue ich in der Tat, edle Frau. Gerne würde ich es dir zeigen, doch ich habe kein Pergament bei mir, auch keine Tinte. Während meiner Reisen durch eure Wälder, da ritzte ich manchmal Botschaften in Baumrinde.«

Ein Knecht brachte auf Libussas Aufforderung hin schnell die notwendigen Utensilien. Fasziniert beobachtete sie, wie seine feinen braunen Finger ein kleines Messer umklammerten und mit dessen Klinge Zeichen auf die Rinde ritzten.

»Dies ist dein Name, edle Frau. In der Schrift der Römer. Wenn du willst, so kannst du ihn auch noch in der meines Volkes sehen.«

Sie nickte, obwohl die meisten Gesichter um sie herum gelangweilt und ungeduldig schienen. Diesmal malte er die Zeichen in umgekehrter Richtung. Sie bemerkte ihre andersartigen Formen. Wie konnten Menschen in diesen seltsamen Rundungen und Strichen ihren Namen erkennen? Und warum waren die Zeichen bei jedem Volk anders? Es widerstrebte ihr, Muhammad danach zu fragen, denn dies hätte ihn wieder daran erinnert, wie unwissend sie in vielen Dingen war.

»Bitte nimm diese bescheidene Gabe an, schöne Dame. Zum Dank für deine Gastfreundschaft.« Während er ihr die Rinde überreichte, schien sich sein Blick tief in sie zu versenken. Ein Schauer lief über Libussas Rücken, denn sie konnte in den klugen dunklen Augen eine deutliche Botschaft erkennen. Selbst wenn er sie für eine Barbarin halten mochte, so war sie dennoch eine Frau, die ihm gefiel. Er war nicht der erste Mann neben Premysl, der sie derart angesehen hatte, doch bisher war ihr nie etwas anderes in den Sinn gekommen, als solche Angebote freundlich zurückzuweisen. Doch jetzt war ein unheilvolles Feuer in ihr entfacht. Bei Premysl hatte sie Geborgenheit und Sicherheit gefunden. Dieser Mann versprach ihr etwas Gefährlicheres, von dem ein unbekannter Reiz ausging. Eine Weile fühlte sie sich gefangen in seiner fremden, edlen Welt, verzaubert wie von einem Geist.

Premysls Stimme rüttelte sie auf. »Diese jungen, schönen blonden Mädchen, die du abseits der anderen Sklaven in dem Gebäude am Fluss untergebracht hast, was wird aus ihnen werden, Muhammad Ibn Said?« Offenbar konnte er den fremden Namen mühelos aussprechen, wenn er es wollte. Der Händler schien endgültig verärgert, aber er antwortete mit sanfter Stimme: »In meinem Volk weiß man die Schönheit von Frauen zu würdigen. Sie leben in prächtigen Räumen, mit Bediensteten, die ihnen jeden Wunsch erfüllen. Dort sind sie sicher vor den Widrigkeiten dieser Welt und der Zudringlichkeit fremder Männer, die ihre Unschuld bedrohen. All diese Mädchen werden in meiner Heimat ein sicheres, prächtiges Zuhause finden.«

Libussa fühlte sich plötzlich unwohl, ohne genau zu wissen, weshalb. »Und was ist, wenn diese Frauen den sicheren Ort verlassen möchten, um etwas von der Welt mitzubekommen?«, fragte sie verwirrt.

Der Händler musterte sie staunend und etwas befremdet. »Warum sollten sie das? Eine Frau braucht Sicherheit und Schutz. Wenn sie nach den Geboten meines Gottes leben will, so ist sie einem Mann dankbar, der ihr dies bieten kann.«

Diese Antwort gefiel Libussa nicht. Sie suchte nach einer angemessenen Erwiderung, doch Thetkas laute Stimme kam ihr zuvor: »Ich würde lieber sterben, als den ganzen Tag eingesperrt zu sein und nur faul und nutzlos herumzuliegen!«

Lachen, Klatschen und Grölen hallten sogleich durch den Saal. Der Händler blickte sichtlich angewidert drein und hüllte sich in zorniges Schweigen. Um seine Laune wieder zu verbessern, forderte Libussa ihn auf, etwas von seinen Reisen zu erzählen. Muhammad berichtete, wie er zunächst das Reich der Franken, später das Land Rus und schließlich gar das Khaganat der Awaren durchquert hatte, doch nun waren seine Worte weniger blumig, als sei er des Redens müde geworden. »Viele heidnische Völker dieser Welt leben nach ihren uralten Sitten«, meinte er schließlich. »Doch es ist möglich, dass bald eine neue Zeit hereinbrechen wird.«

Sie fragte ihn vergeblich, was er damit meinte. Muhammad deutete nur an, Gerüchte gehört zu haben. Der kurze Moment, da dieser Mann die Sehnsucht nach einem Abenteuer in ihr wecken konnte, war zu ihrer Erleichterung verflogen. Thetka hatte sie von dem seltsamen Zauber befreit, indem sie deutlich machte, dass ein Verlies nicht die Freiheit ersetzte, ganz gleich, wie prächtig eingerichtet es war. Libussa spürte kein Verlangen mehr nach einem Mann, der es für selbstverständlich hielt, Frauen hinter Schloss und Riegel zu halten. Muhammad schien die Kluft zwischen ihnen ebenfalls zu bemerken, denn er war merklich kühler geworden. Nachdem er höflich abgelehnt hatte, etwas von dem Schweinebraten auf dem Tisch zu kosten, was angeblich sein Gott ihm verbot, entschuldigte er sich und ging in die ihm zugewiesene Kammer.

»Nicht einmal den Met hat er angerührt, dieser aufgeblasene Wichtigtuer!«, rief Thetka lautstark, bevor neue Gespräche aufkamen und der Fremdling in Vergessenheit geriet. Libussa streckte ihre Hand unter dem Tisch nach Premysl aus und fühlte mit Freude den Druck seiner Finger.

Der Markttag verlief ohne unerfreuliche Zwischenfälle. Muhammad Ibn Said bot Waren von unglaublicher Schönheit an: fein verzierte Gefäße, kunstvoll gefertigten Schmuck aus Silber und Gold sowie Leinen und sogar ein paar Ballen von jener Seide, die Krok einmal von seinen Reisen mitgebracht hatte. Er fand jedoch keine Käufer für diesen Stoff, der zu zart schien für das Leben im Lande der Behaimen. Die einheimischen Händler, die regelmäßig zum Markttag kamen, beschränkten sich darauf, Schmuck und Gewürze zu erwerben. Sie gaben dem Fremden dafür Felle von Bibern, Mardern und Füchsen. Darüber hinaus erstand Muhammad einige bestickte Tücher und wirkte sehr beeindruckt von Premysls Kunst der Holzschnitzerei. Für drei seiner Götterfiguren bekam Libussas Gefährte ein Silberarmband, das er ihr lächelnd überreichte. Sie fragte sich, ob er etwas von dem Reiz gespürt hatte, den der Fremde einen Augenblick lang auf sie hatte ausüben können. Es hätte Premysls Klugheit entsprochen, darüber keine Worte zu verlieren, sondern einfach froh zu sein, sie weiter an seiner Seite zu wissen.

Nachdem der Markt beendet war, schien auch Muhammad wieder guter Laune. An den Ständen wurde noch Met ausgeschenkt. Der Händler gesellte sich zu Libussa und Premysl, obwohl er weiterhin nur Wasser trinken wollte. Er ließ sich die Bedeutung der Götter erklären, deren Gestalten er als Holzschnitzerei erworben hatte, und meinte, ihre Fremdartigkeit würden sie in seiner Heimat zu einem reizvollen Geschenk machen, ebenso wie die bunt bestickten Tücher. Libussa unterdrückte ihren Unmut, dass Figuren von Mokosch und Veles in einem fremden Land als Kuriositäten zur Schau gestellt werden sollten. Es schien ihr ein notwendiges Opfer, um in Praha für Wohlstand zu sorgen. Bei Einbruch der Dunkelheit verabschiedete Muhammad sich freundlich, und Libussa sah Anlass zur Hoffnung, dass er trotz einiger unangenehmer Gespräche ihre Siedlung als Handelsort weiterempfehlen würde. Sie lehnte sich an Premysl und erklärte ihm flüsternd, wie gern sie nun allein mit ihm in ihrer Kammer wäre. Muhammad schien ihr nur klarer gemacht zu haben, welches Glück sie in ihrem Gefährten gefunden hatte.

Kvetas Klopfen kam zu einem ungünstigen Augenblick. Libussa hatte gehofft, die Innigkeit dieser Nacht würde endlich ihre Sehnsucht nach einer Schwangerschaft erfüllen, doch bevor Premysl sie aus ihrem Gewand befreien konnte, wurden sie gestört.

»Herrin, der Händler!«

Libussa wandte sich verärgert zur Tür.

»Was ist mit ihm? Kann er nicht bis morgen warten?«

»Er ist sehr aufgebracht, Herrin. Er wünscht, dich sofort zu sprechen!«

Libussa warf Premysl einen entschuldigenden Blick zu. Er seufzte. Sie fragte sich, wie oft er sich wohl schon heimlich gewünscht hatte, ein gewöhnliches Bauernmädchen geheiratet zu haben.

»Nun gut, ich werde nach ihm sehen«, erklärte sie Premysl und versprach, baldmöglichst zurückzukommen. Allmählich machte die Selbstherrlichkeit dieses Händlers sie ernsthaft wütend. Nachdem sie ihren Kopfputz übergezogen hatte, um ihr zerzaustes Haar zu verbergen, wickelte sie sich in eine Wolldecke und stieg die Stufen zum großen Saal hinab. In dem verlassenen Raum wirkte Muhammads Gestalt weniger imposant. Eine Fackel erhellte sein Gesicht, von dem das Lächeln endgültig verschwunden war.

»Zwei meiner Sklaven sind geflohen, während der Markt stattfand. Eine Frau und ein Knabe. Sie können nicht weit gekommen sein«, verkündete er, noch bevor Libussa ihn begrüßen konnte.

»Das ist sehr bedauerlich. Ich schlage vor, du suchst sie morgen vor deiner Abreise«, erwiderte Libussa und wandte sich um, verärgert, deshalb aus ihrer Kammer gerufen worden zu sein. Muhammads aufgebrachte Stimme hinderte sie am Gehen. »Ich brauche dabei die Hilfe deiner Leute, edle Frau. Schicke sie jetzt gleich los. Der Wald muss durchsucht werden, ebenso wie alle Bauernhütten. Je länger wir warten, desto aussichtsloser wird die Jagd.«

Libussa dachte, dass gewöhnlich nur wilde Tiere gejagt wurden. Auf einmal flammte Zorn in ihr hoch und besiegte jede Vorsicht. »Ich sagte bereits, dass bei uns nicht mit Menschen gehandelt wird. Deshalb kann ich dir keine Leute für die Suche zur Verfügung stellen. Fange deine Sklaven selbst ein und nimm sie wieder mit. Falls es dir nicht gelingen sollte, so versichere ich dir mein Bedauern. Ich verbitte mir allerdings, dass du meine Bauern belästigst, indem du ihre Hütten durchwühlen lässt. Ich will mich nicht in die Sitten deines Volkes mischen, Muhammad Ibn Said, doch bitte achte auch die unseren.«

Sie hörte ihn lachen. Spöttisch, doch auch voller Zorn. »Deine Sitten werden bald der Vergangenheit angehören, Weib. Dann flehe zu deinen Götzen, dass sie dir einen Mann zur Seite stellen, der dich beschützen kann.«

Libussa lehnte sich an die Wand und zwang sich, ruhig zu atmen, bis der Drang, dem Fremden sein hochmütiges Gesicht zu zerkratzen, nachließ. Muhammad verließ schweigend den Saal. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihn nicht zu verärgern, doch nun war es nicht zu verhindern gewesen. Von einer unklaren Sorge erfüllt, schlich sie wieder in ihre Kammer, erleichtert, Premysl noch wach vorzufinden. Sie drängte sich an ihn, suchte Zuflucht in seiner Umarmung, die ihr stets das Gefühl von Sicherheit gab.

»Was ist vorgefallen? Du scheinst völlig aufgelöst«, fragte er besorgt. Libussa erzählte von den entlaufenen Sklaven und ihrer Weigerung, den Händler bei seiner Suche zu unterstützen.

»Ich glaube, jetzt habe ich ihn wirklich wütend gemacht, und er wird nie wieder hierherkommen. Auch anderen Händlern, die er unterwegs trifft, wird er abraten, in Praha Halt zu machen«, sprach sie ihre erste Sorge aus und fühlte, wie der Druck von Premysls Armen sich verstärkte.

»Du hast dich richtig verhalten, Libussa. Ich glaube nicht, dass dein Onkel dem Händler bei seiner Menschenjagd geholfen hätte. Nicht, wenn er der Mann ist, den ich mit der Zeit zu achten gelernt habe.« Seine Worte ließen sie erleichtert aufatmen. »Mach dir keine Sorgen«, fuhr Premysl fort, während er ihr Haar von dem Kopfputz befreite. »Es gibt genug Händler auf dieser Welt. Andere werden kommen.«

Libussa öffnete die Schnürung ihres Gewands und zog es über den Kopf. Dann schmiegte sie sich so eng wie möglich an ihren Gefährten und dankte den Göttern für seine Gegenwart. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die warme, kratzige Berührung seiner Hände zu lenken. Allmählich verdrängte ihr Verlangen alles Unbehagen, das seit dem letzten Gespräch mit Muhammad wie ein Stein auf ihrer Brust lastete.

Doch als sie schließlich erlöst ihren Kopf an Premysls Schulter vergrub, um Schlaf zu finden, vermeinte sie wieder Muhammads Stimme zu hören. Bald wäre es mit den alten Sitten vorbei, hatte er gesagt. Spöttisch, böse, doch voller Überzeugung. Aber wie konnte er etwas Derartiges behaupten? Nur, weil er ein paar Gerüchte gehört hatte? Libussa sagte sich, dass es eine übertriebene Drohung aus Wut gewesen war, nichts weiter. Niemals konnte der Glaube ihrer Ahnen untergehen, ohne dass die Erde verdorrte und das Licht der großen Sonnengöttin Mokosch für immer erlosch.

Einen Augenblick fürchtete sie, im Schlaf wieder das Gesicht des großen ernsten Unbekannten zu sehen, von dem eine unklare Drohung ausging. Doch es erschien ihr nicht. Stattdessen hörte sie das Knacken von Zweigen. Ein Kind lief durch den finsteren Wald, so schnell, dass sein Atem vor Anstrengung lauter war als alle nächtlichen Geräusche. Sie sah eine weitere Gestalt vor ihm dahineilen, doch war diese fast unsichtbar in der Dunkelheit. Ein dumpfer Schlag war zu hören, als das Kind über eine Baumwurzel stolperte und zu Boden fiel. Die Hand, die ihm wieder auf die Beine half, war schwarz wie das Gefieder eines Raben.

»Mnata!«, flüsterte eine unbekannte Frauenstimme.

»Ist dieser Mistkerl jetzt abgereist?«, fragte Thetka, während sie ihren ersten Krug Met leerte. »Ich kann Leute nicht ausstehen, die immer nur Wasser trinken. Über unseren Schweinebraten hat er auch die Nase gerümpft.«

»Angeblich verbietet sein Glaube Schweinefleisch«, erklärte Libussa. »Und Kazi trinkt auch keinen Met.«

Sie warf einen Blick auf die älteste Schwester, die zu sehr in ihren eigenen Gedanken versunken schien, um sich wegen Thetkas Kommentar gekränkt zu fühlen. Kazi war allgemein schwer zu kränken, da sie die Worte anderer Menschen nicht wichtig nahm. Nun blickte sie auf. Ihr Gesicht wirkte angespannt, als beschäftige sie eine unausgesprochene Sorge.

»Vor seiner Abreise suchte er die Gegend ab, habe ich gehört«, meinte sie auf einmal.

Libussa nickte. »Er hat behauptet, zwei seiner Sklaven wären davongelaufen. Er wollte, dass ich ihn die Hütten der Bauern durchsuchen lasse, doch das habe ich ihm verweigert. Daraufhin zog er schlecht gelaunt von dannen.« Sie verschwieg die Einzelheiten der unangenehmen Unterhaltung, denn ihr wurde unwohl, sobald sie sich daran erinnerte.

»Kein großer Verlust«, erklärte Thetka entschieden. Libussa wünschte sich eine ähnlich einfache Sichtweise der Welt. Thetka neigte nicht zu Grübeleien, sondern folgte ihren Eingebungen. Doch in den Jahren, da sie Fürstin war, hatte Libussa gelernt, wie falsch es sein konnte, schnelle Urteile zu fällen.

»Muhammad Ibn Said hat seltene Waren in unser Land gebracht«, sagte sie. »Onkel Krok meinte, es wäre wichtig, Händler anzulocken. Deshalb schickte ich ihn auch nicht fort. Nur den Handel mit Menschen wollte ich ihm nicht gestatten.«

»Nicht alle Fürsten haben sich so verhalten wie du«, meinte Premysl. »Sonst hätte der Sklavenhändler nicht so viele unserer Leute ansammeln können.«

Libussa senkte betrübt den Kopf. Sie wollte nicht wissen, woher die meisten der Sklaven stammten. Aus dem Lande Rus vermutlich oder auch von den Mähren oder Polanen. Würden alle fürstlichen Clans ihres eigenen Volkes Geschäfte mit einem so reichen Mann verweigern?

»Diese Stadt, aus der er kommt, klang zauberhaft. Glaubt ihr wirklich, dass Menschen sich in ihren Häusern Teiche anlegen, um darin schwimmen zu können?«, meinte Libussa nun, um von erfreulicheren Dingen zu sprechen.

»Bei uns wäre das nicht so gut«, erwiderte Premysl. »Jeden Winter würden sie zufrieren und wir könnten auf dem Eis ausrutschen.«

Thetka kicherte.

»Dich fand er jedenfalls so zauberhaft wie du seine Heimatstadt, Schwesterchen. Als er deinen Namen in die Rinde ritzte oder wenigstens behauptete, es zu tun, da dachte ich, er schlägt gleich andere Künste vor, die er dir noch zeigen könnte.«

Libussa wurde unwohl. Verwirrt nahm sie das allgemeine Gelächter zur Kenntnis. Premysl legte seinen Arm um sie. »Wahrscheinlich sollte ich den Göttern dafür dankbar sein, dass der Mann ein Sklavenhändler war. Sonst wäre unsere Fürstin mit ihm gezogen, um hinter steinernen Mauern tagaus, tagein auf Baumrinde herumzuritzen.«

Die meisten Anwesenden schmunzelten, doch Libussa war der scharfe Unterton von Premysls Stimme nicht entgangen.

»So etwas würde ich niemals tun«, erklärte sie empört. »Ich weiß, wohin ich gehöre. Und zu wem.«

Thetka lächelte spöttisch, denn ihrer Meinung nach hatte Libussa wieder einmal einen Scherz missverstanden. Aber Premysls Augen leuchteten glücklich auf.

»Kazi wollte den Händler nicht einmal sehen«, kam es nun von Eric.

Libussa richtete ihren Blick wieder auf ihre älteste Schwester, die wie gewöhnlich schwieg.

»Er hat Dinge erzählt, die du vielleicht gern mit angehört hättest, Kazi. In seiner Heimat soll es Männer geben, die sich sehr gut mit der Heilkunst auskennen. Außerdem berichtete er von großen Tieren, auf deren Rücken zwei Berge wachsen. Und dann diese Stadt mit ihren großen Steinbauten ...«

»... in denen sicher nicht alle der Einwohner leben«, unterbrach Premysl. »Überlege einmal, Libussa. Dieses Gewerbe, das du abscheulich nennst, ermöglicht es ihm erst, so gebildet zu sein und in einem derart prächtigen Haus zu wohnen.«

»Hat er auch ein kleines Mädchen erwähnt, das verschwand?«, mischte sich Kazi nun wieder ins Gespräch. Alle sahen sie überrascht an, und sie schien sich deshalb unwohl zu fühlen.

»Warum fragst du?«, staunte Libussa. »Muhammad Ibn Said erwähnte nur einen Jungen und eine Frau.«

Kazi nickte. Sie sah schlecht gelaunt aus, und Libussa fragte sich, ob die Anwesenheit eines Sklavenhändlers an der Tafel des großen Saales der ältesten Schwester derart missfallen hatte. Denn im Allgemeinen kümmerte sie sich nicht um solche Dinge.

Kveta riss sie aus ihren Gedanken, als sie die Kinder brachte. Glücklich hob Thetka ihre Tochter Vlasta auf die Bank und Libussa bemerkte wieder einmal den unzufriedenen Ausdruck auf Kazis Gesicht. Ein Stück hinter Vlasta stand Vojen, Kazis Sohn. Die älteste Schwester sah ihren Jungen nur kurz an und erkundigte sich bei der Kindsmagd nach seinem Wohlergehen. Kveta meinte, es ginge ihm nicht anders als sonst, und Kazi versank wieder in ihre Gedanken. Premysl rief Vojen zu sich, um ihm ein neu geschnitztes Holzpferd zu zeigen.

»Ich kann verstehen, wie ihm zumute ist«, hatte er einmal zu Libussa gesagt. »Auch meine Mutter wünschte sich vor allem eine Tochter.«

Vor fünf Jahren war Kazis alter zahnloser Kater gestorben. Sie hatte ihn bis zuletzt mit Milchbrei zu füttern versucht und war nicht von seiner Seite gewichen, bis nur noch ein lebloses Fellbündel in ihren Armen lag. Danach versank sie wochenlang in tiefes Schweigen. Libussa bedauerte ihre Schwester, doch ein böser Gedanke schlich sich in ihren Kopf. Würde Kazi ebenso um Vojen trauern, wenn ihn vielleicht eines Tages ein früher Tod ereilen sollte? Sie war sich nicht sicher.

Aber auch Premysls Mutter, die sich eine Tochter wünschte, hatte ihren Sohn schließlich ins Herz geschlossen. Es bestand also noch Hoffnung. Libussa beobachtete, wie Vojens Finger sacht über das Holzpferd strichen. Er war ein stilles, grüblerisches Kind. Seinem Namen, der Kriegerische, wurde er nicht gerecht. Kazi musste an seinen Vater gedacht haben, als sie ihren Sohn so nannte. Bivoj, der alle Wettkämpfe gewann und sogar einen wilden Eber erlegt hatte. Sein Werben um die Heilerin hatte jeden erstaunt, vor allem aber Kazi selbst. Vielleicht hatte sie sich geschmeichelt gefühlt. Oder einfach den erstbesten Mann genommen, der willens schien, sie zu schwängern.

Premysl nahm das Holzpferd und ließ es über den Tisch galoppieren, während er Vojen die Geschichte von einem verirrten Fohlen zu erzählen begann. Das meist mürrische Gesicht des Jungen hellte sich ein wenig auf. Libussa spürte einen Stich in ihrer Brust. Premysl verstand es hervorragend, mit Kindern umzugehen, doch die Götter gönnten ihnen beiden keine eigenen.

Sie hatten das Morgenmahl schon fast beendet, als plötzlich ein Knecht auftauchte.

»Herrin, da sind Leute, die dich zu sehen wünschen. Irgendwelche Bauern. Sie wollen dir etwas zeigen.«

Eine Menschenmenge betrat zögernd den Raum. Voran schritt ein alter bärtiger Mann, der Libussa vertraut vorkam. Erst als er sie zur Begrüßung anlächelte, erkannte sie den Einsiedler aus der Hütte im Wald.

»Die Bauern haben zwei eigenartige Geschöpfe gefunden, Herrin. Einen kleinen Hunnen und eine Frau, die wie ein böser Geist aussieht. Man wollte sie erschlagen, aber ich konnte alle davon überzeugen, dich über ihr Schicksal entscheiden zu lassen.«

Der Kreis von Menschen öffnete sich und gab sein Geheimnis preis. Ein blutüberströmter Junge kauerte auf dem Boden. An seiner Seite stand eine Frau mit pechschwarzer Haut, die ein Bündel umklammerte. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen; Libussa starrte sie ungläubig an. Warum sollte eine Dämonin sich derart vor ihr fürchten?

»Ich glaube, das sind die entlaufenen Sklaven«, holte Premysl sie nüchtern in die Wirklichkeit zurück.

Sie sah Kazi aufstehen und auf die Dämonin zugehen. Es gab einen kurzen Kampf, den ihre Schwester schließlich gewann. Sie hielt ein braunes schreiendes Kind in die Höhe.

»Dies ist meine Tochter. Die Götter haben sie mir geschickt. Ihr Name ist Tschastawa. Sie wird meine Nachfolgerin sein. Eine große, weise Heilerin unseres Volkes«, verkündete sie mit leuchtenden Augen.

»Diese Tochter sieht verkohlt aus, als wäre sie in eine Feuerstelle gefallen«, rief Thetka.

Als zögerndes Lachen erklang, hoffte Libussa, dass die schwarze Frau diese Worte nicht verstehen konnte.

»Dieses Kind gehört dir nicht, Frau. Ich habe gesehen, wie Afra es zur Welt brachte«, hörte sie plötzlich eine unbekannte Kinderstimme. Sie hatte einen weichen, tiefen Klang, so wie die Sprache der Leute aus dem Lande Rus. Der kleine Hunne war mühsam aufgestanden. Sein braunes Gesicht mit den schrägen Augen schien Libussa seltsam vertraut.

»Wer bist du?«, murmelte sie fassungslos.

»Mein Name ist Mnata.« Die Kinderstimme klang erwachsen und ernst. Libussa fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Der Name kam ihr bekannt vor, doch ihre Erinnerungen waren unklar, wie in einen Nebel gehüllt.

»Du stammst aus dem Khaganat der Awaren, nicht wahr?«, fragte sie. »Wie kamst du zu einem Sklavenhändler? Es heißt, deine Leute sind groß und mächtig.«

Der Junge sah sie staunend an, als könne er keinen Sinn hinter ihren Worten erkennen.

»Ich zog mit meinen Leuten durchs Land«, erklärte er. »Sie ... sie waren Krieger, die andere Dörfer überfielen. Sie schleppten dann Gefangene fort, von denen ich eure Sprache lernte. Meine Mutter diente den Kriegern. Eines Tages wurde sie krank und ging in den Wald, um Kräuter zu sammeln. Ich begleitete sie zunächst, doch dann befahl sie mir zu warten. Sie kam nicht wieder. Als ich nach den Kriegern suchte, um Hilfe zu holen, waren sie schon weitergezogen. Ich folgte ihrer Spur, bis die Leute von Ibn Said mich fanden. Dann kam ich auf den Karren zu den Frauen. Afra war eine davon. Sie gebar unterwegs ein Kind, ich glaube, Ibn Said ist der Vater. Als wir in der Hütte am Fluss waren, da kam diese Frau und wollte das Kind kaufen. Ibn Said versprach es ihr. Deshalb lief Afra fort und nahm mich mit, weil ich mich um sie gekümmert hatte, als es ihr schlecht ging. Afra kann nicht sprechen, aber sie versteht, was wir sagen. Es ist ihr Kind und sie sollte es wiederbekommen.«

Libussa staunte, wie klar der Junge erzählen konnte. Er schien nicht älter als Vlasta, doch wirkte er bereits erwachsen. Die Augen der schwarzen Frau waren zum Leben erwacht, als hätte sie tatsächlich jedes Wort verstanden. Hoffnungsvoll musterte sie Libussa.

»Kazi, wolltest du dieses Kind wirklich dem Sklavenhändler abkaufen?«, fragte Libussa fassungslos. Das Gesicht ihrer ältesten Schwester verfinsterte sich.

»Ich war nicht die Einzige, die zu dem Sklavenhändler ging. Viele Leute schlichen sich hin, trotz deines Verbots. Ich wollte nur sehen, ob er ein kleines Mädchen hatte. Doch von Tschastawa habe ich geträumt. Meine Tochter mit einer Haut so braun wie Haselnüsse. Sie wird meine Nachfolgerin sein. Das ist der Wunsch der Götter.«

Kazi hatte sich entschlossen aufgerichtet und drückte das kleine Bündel Mensch an sich. Die schwarze Frau hob kurz ihre Arme, ließ sie aber wieder sinken, als sei ihr klar, wie machtlos sie war. Diese Geste der Verzweiflung schnitt Libussa ins Herz. Plötzlich überkam sie der Wunsch, Kazi zu ohrfeigen.

»Du solltest besser allein mit deiner Schwester reden«, meinte Premysl, als sei ihm klar, dass ein übler Streit bevorstand.

Sie saßen in Libussas Kammer. Premysl war anwesend, wie sie es sich gewünscht hatte. Seine Gegenwart beruhigte sie.

»Kazi, du hast dich meinen Anweisungen widersetzt.«

Die Schwester nickte nur.

»Du wolltest mit dem Sklavenhändler Geschäfte machen.«

»Du hast auch Geschäfte mit ihm gemacht. Ihn sogar an deine Tafel geladen und nett mit ihm geplaudert.«

Libussa ballte zornig die Hände. »Ich wollte keine Menschen kaufen. Du hingegen schon, obwohl ich es verboten hatte.«

Kazis Gesicht blieb unergründlich. »Willst du mich jetzt dafür strafen?«, fragte sie nur.

Libussa fühlte sich hilflos in ihrem Zorn.

»Warum hast du das getan, Kazi?«, fragte Premysl vollkommen ruhig.

»Weil ich mir eine Tochter wünsche und keine bekommen habe. Ich bin Heilerin. Bei unserem Volk lag die Ausübung dieser Kunst schon immer in den Händen von Frauen. Ich brauche ein Mädchen, dem ich meine Kenntnisse vermitteln kann. So ist es eben.«

»Du wolltest einer anderen Frau ihr Kind wegnehmen.« Libussa war die Lautstärke ihrer eigenen Stimme unangenehm. Sie hatte Kazi noch nie im Leben angeschrien.

»Das Kind hätte man ihr früher oder später ohnehin weggenommen. Es wäre verkauft worden und wer weiß, an wen. Diese schwarze Frau, sie sollte eigentlich froh sein, ihre Tochter bei mir zu wissen. Ich werde ein angesehenes Mitglied unseres Volkes aus ihr machen, denn das ist ihre Bestimmung. Wie ich schon sagte, ich sah Tschastawa in meinen Träumen. Du kennst die Bedeutung solcher Träume, Libussa. Es war mir nicht angenehm, das Kind zu kaufen. Ich erkannte den Schmerz in den Augen seiner Mutter. Aber glaube mir, ich habe den Wunsch der Götter erfüllt und werde einem kleinen Sklavenkind ein Leben ermöglichen, von dem seine leibliche Mutter nicht einmal träumen konnte.«

Libussa atmete tief und fühlte, wie der Zorn aus ihrem Körper wich. Kazi hatte recht. Das Mädchen wäre bei ihr gut aufgehoben, doch trotzdem war ein Unrecht geschehen. Sie tat ein paar Atemzüge, um Ruhe zu finden. Plötzlich schien ihr klar, wie sie zu entscheiden hatte.

»Du wolltest das Mädchen wie eine Ware erwerben, doch die Götter haben es verhindert. Du kannst es nicht von seiner Mutter trennen. Deshalb musst du beide zu dir nehmen oder ganz verzichten«, meinte sie mit Entschiedenheit.

Kazis Gesicht verfinsterte sich. »Du bist Fürstin und hast zu bestimmen«, murmelte sie widerwillig. »Ich beuge mich deinen Wünschen. Aber erlaube mir, Praha zu verlassen.«

Libussa stand wie versteinert.

»Willst du zu deinem Onkel nach Chrasten?«, hörte sie Premysls Stimme. Kazi schüttelte den Kopf.

»Ich habe eine Stelle gefunden, nicht allzu weit von hier. Am Ufer des Flusses Mec. Dort will ich mir ein Haus bauen. Es gibt genug Leute, die meine Heilkünste schätzen. Ich kann von ihren Gaben leben, ebenso wie meine Tochter, mein Sohn und ... und jene Frau, die ich deinen Wünschen gemäß mitnehmen soll. Du kannst mir trauen, Libussa. Ich werde für alle sorgen. Aber erlaube mir, mich zu entfernen. Als Fürstin bist du mir zu anstrengend geworden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum. Libussa fühlte eine tiefe Leere in ihrem Inneren, durch die eiskalter Wind blies. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie gemeinsam mit Kazi verbracht. Als sie am nächsten Morgen nach den geflohenen Sklaven sehen wollte, hatte ihre Schwester mit der schwarzen Frau und ihrem Kind die Festung bereits verlassen.

Am Ende des Tages betrachtete Libussa den schlafenden Jungen. Sein pechschwarzes dichtes Haar war wie die Stacheln eines Igels. Nun, da man das Blut von seinem Gesicht gewaschen hatte, wirkte er menschlicher.

»Glaubst du, er ist von Grund auf bösartig?«, fragte sie. »Als er vorhin sprach, da klang er klug für sein Alter.« Premysl zuckte mit den Schultern.

»Jetzt sieht er nur aus wie ein Kind. Die Awaren haben einst unsere Dörfer oft überfallen und fielen dann über unsere Frauen her. Dadurch vermischte sich ihr Blut mit dem unseren. Wäre es böse, dann müsste das Böse auch durch unsere Adern fließen.«

Sie streckte ihre Hand aus, um die braune Haut zu berühren. Der Junge regte sich im Schlaf, doch seine Augen blieben geschlossen.

»Was soll jetzt aus ihm werden? Ich konnte ihn Kazi nicht auch noch mitgeben. Sie schien verärgert genug.«

Premysl fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wir sollten ihn fortschicken. Vielleicht ins Khaganat. Gelegentlich fahren Händler dorthin. Bei seinen Leuten müsste er sicher sein. Hier gibt es immer noch viel Hass auf die Awaren. Ich habe mit einigen der Bauern gesprochen. Sie wagen es nicht immer, offen mit dir zu reden, aber die allgemeine Stimmung ist gegen die Anwesenheit dieses Kindes in Praha. Die schwarze Frau macht die Leute eher neugierig, doch Awaren will man hier nicht haben. Die meisten würden ihn am liebsten sofort erschlagen.«

Libussa seufzte. Es schien ihr plötzlich einfacher, gegen äußere Feinde wie Tyr vorzugehen, als die eigenen Leute zu lenken. »Wer weiß, was den Jungen bei den Awaren wirklich erwartet? Am Ende machen sie auch einen Sklaven aus ihm.«

Ein Gedanke schlich sich in ihren Kopf und hellte ihre Stimmung auf. Sie musterte den Jungen aufmerksam: ein gesundes, kräftiges Kind, trotz aller Wunden, die ihm zugefügt worden waren. Je länger sie sein braunes Gesicht mit den schrägen Augen betrachtete, desto vertrauter schien es ihr. Sie konnte nichts Böses darin erkennen.

»Ich werde es machen wie Kazi«, erklärte sie. »Morgen nehme ich diesen Jungen in unseren Clan auf. Am Schrein der Göttin werde ich eine Zeremonie vollziehen in Gegenwart aller Anwohner. Sie müssen meine Entscheidung hinnehmen. Dann ist dieses Kind in Sicherheit.«

Sie fühlte, wie Premysls Arme sie umschlossen, und schmiegte ihren Kopf an seinen Hals.

»Tue es, wenn du dem Kind helfen willst«, flüsterte er. »Aber an unserer Lage änderst du dadurch nichts. Du sollst vor allem eine Tochter gebären, deine Nachfolgerin.«

Verwirrt zog sie sich zurück. Konnte er ihre Gedanken lesen?

»Ein Junge ist ebenso wichtig. Wir brauchen einen zukünftigen Stammesführer. Es kommt immer mehr auf die Männer an, auch bei uns. Wir gewinnen Zeit, sobald ich einen Sohn vorweisen kann. Ich bin mir ganz sicher, dass ich eines Tages auch eine Tochter haben werde.«

Premysls Hände legten sich auf ihre Schultern und glitten an ihren Armen hinab zu den Fingerspitzen. »Ich weiß, worüber Krok mit dir sicher schon gesprochen hat, Libussa. Du sollst wissen, dass ich es verstehen würde. Deine Mutter blieb nicht bei einem einzigen Mann und ihre Vorgängerinnen taten es sicher auch nicht. Du hast meinetwegen genug Regeln gebrochen. Vielleicht kann ein anderer dir zu einem Kind verhelfen.«

Sie hatte das Gefühl, von einem Messer durchbohrt zu werden. Krok hatte noch nicht mit ihr gesprochen, aber sie ahnte, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Als Fürstin der Cechen musste sie Nachkommen gebären. »Kazi sagte, es könnte auch an mir liegen«, flüsterte sie.

»Das ist möglich. Aber nur durch einen anderen Mann kannst du es herausfinden.«

Libussa stieß ihn wütend von sich. »Ist es das, was du willst? Dass wir so sind wie Thetka und Eric? Ich weiß, die Mägde machen dir schon lange schöne Augen. Ein richtiger Held der einfachen Leute bist du, weil du für sie eine Siedlung gebaut hast, wo sie gut leben können. Wenn du genug hast von mir, dann sage es ruhig. Nimm eine Bäuerin und ziehe in ihr Dorf] Von so einem Leben hast du doch immer geträumt.«

Der verletzte Ausdruck in seinen Augen war wie eine Ohrfeige. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Es tut mir leid. Ich war ungerecht.«

»Vielleicht wünschst du dir heimlich, dass ich zu einer Bäuerin ziehe. Dann wärst du von vielen Sorgen befreit«, meinte Premysl eisig.

Libussa schüttelte den Kopf. Eine Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgebaut. »Ich möchte keinen anderen Mann. Du bist der Erste gewesen und danach kam niemand mehr, der mir besser gefiel. Deshalb sollst du der Einzige bleiben, ganz gleich, was meine Mutter oder ihre Vorgängerinnen taten. Lass uns diesen Jungen als unser Kind annehmen. Dadurch gewinnen wir Zeit. Auf die eine oder andere Art kommen wir auch zu einer Tochter.«

Er strich zögernd über ihre Wange. Libussa nahm seine Hand und führte ihn in ihre Kammer. Sie verteilte die Kräuter, die eine Magd ihr gegeben hatte, auf ihrer Bettstatt. Kazi glaubte nicht an solche Hilfsmittel, doch Libussa war inzwischen bereit, alles zu versuchen.

»Heute Nacht«, dachte sie, als sie die Wärme des vertrauten männlichen Körpers spürte. »Ich habe ein gutes Gefühl. Heute Nacht könnte es gelingen.«

Nachdem Premysl eingeschlafen war, betrachtete Libussa die hölzerne Wand um sie herum. Verglichen mit den Beschreibungen Muhammad Ibn Saids war es ein einfaches Gebäude, aber waren die Menschen in prächtigen Palästen wirklich glücklicher? Sie wusste es nicht. Doch hätte sie gern die Kunst des Schreibens von dem Händler gelernt. Worte festhalten für die Ewigkeit. Eine verwirrende Vorstellung. Denn nur diejenigen, die schrieben, konnten sich der Nachwelt mitteilen. Premysl und sie selbst würden in Vergessenheit geraten. Und wenn jemand irgendwann über sie schrieb, dann wäre es seine Sichtweise der Dinge, die von Menschen gelesen wurde. Niemand konnte je wissen, wie sie sich selbst jetzt fühlte, weil sie ihre Worte nicht auf Rinde zu kratzen oder niederzuschreiben vermochte.

Sie glaubte, bisher die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Ihren Gefährten. Ihre Siedlung. Viele Jahre des Friedens. Aber wenn sie keine Tochter bekam, würde sie es mit einem anderen Mann versuchen müssen. Lecho war der einzige Sohn der fürstlichen Clans, den sie wirklich mochte. Aber er hatte sich mit Irina von den Leitmeritzern zusammengetan, die seinetwegen sogar nach Zatec, der Festung der Lukaner gezogen war. Allerdings zählte Treue zwischen Mann und Frau in ihrem Volk nicht viel. Irina würde es verstehen. Nur erschien es Libussa widerwärtig, Lecho auf diese Weise zu benutzen. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn mit Lust zu berühren.

»Na, komm schon, kleiner Hunne, oder hast du Angst?«

Vlasta hatte ihn an eine Stelle der Mauer geführt, an der sie hochklettern wollte. Das Mädchen hatte meist irgendeinen Unfug im Kopf. In Gegenwart ihrer Familie wagte sie ihn niemals »kleiner Hunne« zu nennen, doch waren sie allein, so tat sie es ständig. Er nahm es ihr nicht wirklich übel, denn sie schien seine Gegenwart zu mögen.

»Du bist wenigstens nicht so langweilig wie Vojen«, hatte sie einmal gesagt.

Nun kraxelte sie behände das steinerne Gemäuer hoch. Mnata wusste, dass er es ihr gleichtun musste, um ihre Anerkennung nicht zu verlieren. In dieser Hinsicht war sie schlimmer, als alle Jungen seiner Horde gewesen waren, die darum wetteiferten, mutige Krieger zu werden. Dieses Schicksal hatte sich auch seine Mutter für ihn gewünscht, obwohl er nicht verstehen konnte, weshalb. Die Krieger hatten furchteinflößend ausgesehen mit ihren von Narben zerfressenen Gesichtern. Niemand von dem Gesinde war vor ihren Tritten, Schlägen oder Schwerthieben sicher gewesen. Vlasta kannte solche Krieger nicht, wollte aber stets ihren Mut unter Beweis stellen. Dabei war diese Kletterei völlig sinnlos. Sie konnten auch eine Leiter nehmen, um von einem der Türme aus einen weiten Blick aufs Umland zu bekommen. Es musste an der vielen freien Zeit liegen, die Vlasta zur Verfügung stand. Ihre Mutter betraute sie kaum mit Aufgaben, sondern ermunterte sie geradezu, herumzutollen und immer neue Abenteuer zu suchen.

Mnata zog sich langsam an den Steinen hoch. Anders als Vlasta konnte er die Furcht abzustürzen nicht aus seinem Bewusstsein verbannen. Dieses Mädchen hatte vor nichts Angst, vielleicht weil ihr noch nie im Leben etwas wirklich Schlimmes zugestoßen war. Sie kannte die Welt außerhalb ihrer Siedlung nicht.

Sie gelangten beide sicher oben auf die Mauer und blickten über die zackigen Pfähle hinweg auf Dörfer, Wiesen und Wälder herab. Der Fluss rauschte unter ihnen vorbei und an seinem anderen Ufer erhoben sich die Türme einer weiteren Festung gen Himmel. Chrasten, wie man ihm erzählt hatte.

»Wenn ich älter bin, dann nehme ich mir ein Pferd und ziehe durch die Gegend«, meinte Vlasta. »Ich möchte so gern einmal sehen, was jenseits dieser Berge liegt.«

»Dort liegen weitere Berge, Wälder, Wiesen, Flüsse und Siedlungen«, meinte Mnata nur.

Sie schubste ihn leicht. »Du hältst dich wohl für ganz besonders schlau, weil du schon so viel gesehen hast, nicht wahr? Aber du redest nie darüber.«

Ihre Augen sahen ihn erwartungsvoll an. Mnata senkte den Blick. Er hatte mit niemandem über seine vergangenen Erlebnisse gesprochen, nicht einmal mit Libussa, jener schönen blonden Frau, die ihn vor all den hasserfüllten Blicken in Schutz nehmen wollte, als sie ihn vor einer Götterfigur zu ihrem Sohn erklärte. Der Mann an ihrer Seite versorgte ihn mit hölzernem Spielzeug und erzählte ihm Geschichten. Mnata lebte unsicher von einem Tag zum anderen. Irgendwann musste es wieder aufhören, dieses behütete Dasein, aber er wollte es genießen, solange es anhielt. Er hatte Angst, die Vergangenheit durch Worte heraufzubeschwören, denn dann hätte sie ihn einholen können. »Ich habe nichts Schönes zu erzählen«, meinte er ausweichend zu Vlasta. »Woanders ist es nicht besser als hier.«

Sie sah enttäuscht aus. »Das klingt ja richtig langweilig. Vielleicht bist du nur ein Pechvogel gewesen. Wenn ich erwachsen bin, dann erlebe ich sicher aufregende Abenteuer da draußen.«

Mnata musterte sie ungläubig. Wie konnte ein Mensch so überzeugt von sich sein? »Es ist gefährlich für eine Frau, allein herumzureisen«, sagte er.

Vlastas Augen begannen, zornig zu funkeln. »Ich lerne bereits mit Waffen umzugehen. In ein paar Jahren bin ich so gut wie die Krieger. Dann kann mir nichts mehr geschehen.«

Mnata dachte, dass selbst die stärkste Frau den Männern seiner Horde oder auch den Aufsehern Ibn Saids unterlegen gewesen wäre. Aber welchen Sinn hätte es, diesem dickköpfigen Mädchen die Wahrheit über jene harte Welt außerhalb der Siedlung zu erklären? Vlasta glaubte nur, was ihr gefiel, und konnte außerdem sehr verletzend werden.

»Sieh mal, da kommt jemand.« Sie schubste ihn wieder, diesmal etwas stärker. Er rückte ein Stück von ihr weg. Das Mädchen wäre ungestüm genug, ihn versehentlich von der Mauer zu stoßen.

Auf der Brücke über dem Fluss tauchten ein paar Reiter auf. Sie trugen die Kleidung der Krieger aus Praha. Ihm war unwohl zumute, denn er hatte den Hass in den Augen der Bauern noch nicht vergessen. »Verfluchter Awar, schrägäugiger Dämon!«, hallte es wieder in seinen Ohren.

»Mnata, das ist Onkel Krok, der Stammesführer! Er kommt aus Chrasten«, rief Vlasta aufgeregt. »Das ist großartig, dass er hier ist. Er hat versprochen, mich bald schon im Schwertkampf auszubilden. Und er kann aufregende Geschichten aus der großen Welt erzählen, nicht so langweiliges Zeug über Gefahren, wie du es immer tust. Na, der wird Augen machen, wenn er dich hier sieht. Ein kleiner Hunne in unserer Familie!«

Vlasta machte bereits Anstalten, die Mauer wieder hinunterzuklettern. Ihm, der den Wert der Vorsicht kannte, graute vor dem Abstieg, und er nahm sich vor, keinesfalls nach unten zu sehen.

Die aufgeregte Stimme der Kindsmagd Kveta erlöste ihn von seinen Befürchtungen. Schimpfend und schreiend sorgte sie dafür, dass sofort eine Leiter gebracht wurde, damit die Kinder sicher in den Hof gelangen konnten.

Sie wurden beide in saubere Gewänder gesteckt und dem Gast vorgeführt. Ein großer bärtiger Mann ragte vor Mnata auf und musterte ihn mit fassungslosem Blick.

»Er ist folgsam und gutmütig«, hörte Mnata Libussas Stimme versichern. Premysl kam ihr sogleich zu Hilfe, indem er Mnata als aufgeweckt beschrieb. Doch all diese Mühen schienen wenig zu nützen. Die braunen Augen des großen Mannes musterten ihn weiter mit Missfallen.

»Kann er sprechen?«, fragte dieser Krok schließlich. Mnata kam sich vor wie in der Sklavenkolonne. Sein Wert wurde ausgehandelt, als sei er ein zum Kauf angebotener Gegenstand.

Libussa nickte sogleich. »Er versteht uns. Wenn er redet, dann klingt es eigenartig. Wie bei den Leuten aus dem Lande Rus. Dort muss er unsere Sprache gelernt haben.«

»Gut. Dann werde ich mich allein mit ihm unterhalten.«

Mnata fuhr zusammen. Er sah, wie Libussa zum Widerspruch ansetzte, doch Premysl murmelte beruhigende Worte in ihr Ohr. Mnata folgte dem großen feindseligen Mann, denn er wusste, dass jeder Widerstand zwecklos gewesen wäre.

Im Nebenraum nahm Krok auf einer Bank Platz und winkte ihn zu sich. »Gefällt es dir hier?«, begann er, nun mit etwas freundlicherer Stimme. Mnata staunte. Hatte dieser große Krieger noch niemals das Elend in einer Sklavenkolonne gesehen? Stärkere Männer als er waren bei dem endlosen Fußmarsch zusammengebrochen, hatten allen Stolz verloren und wie ausgehungerte Wölfe um ein Stück trockenen Brotes gekämpft.

»Es gefällt mir, Herr«, antwortete er und war bemüht, seine Stimme demütig klingen zu lassen, obwohl er die ihm gestellte Frage dumm fand.

»Dann möchtest du also bleiben?«

Wieder glaubte Mnata, sich verhört zu haben. Seit dem Tod seiner Mutter hatte kein Mensch sich mehr um seine Wünsche gekümmert. »Ich möchte bleiben, solange es mir gestattet ist«, erklärte er wahrheitsgemäß und wartete. Es war nicht möglich, dass dieses Wunder von Dauer sein konnte. Irgendwann würde er davongejagt werden, dessen war er sich sicher.

Die Augen des Stammesführers schienen kurzzeitig Mitleid auszudrücken. Bald schon wurde das Männergesicht wieder hart, doch Mnata verstand. Ein Krieger zeigte keine Gefühle.

»Es muss doch einen Ort geben, wo du hingehörst«, knurrte Krok nun auch.

Mnata begann nachzudenken. Er hatte zu der Horde gehört, die plündernd durchs Land zog. Gemeinsam mit seiner Mutter hatte er die Krieger bedient, war aufgesprungen, wenn ihre Stimmen losdonnerten, war ihren Tritten ausgewichen. Doch nun war die Mutter tot und die Horde weit fort. »Ich möchte nirgendwo anders sein als hier«, sagte er voller Überzeugung.

»Nun gut«, kam es von Krok. »Wenn du bei unserem Volk leben willst, musst du unsere Sitten und Gebräuche lernen und schwören, sie stets zu achten.«

Mnata nickte eifrig. Er hätte in diesem Augenblick alles geschworen.

»Wir werden dich zum Krieger ausbilden, wie es sich für einen Sohn unserer Familie geziemt«, fügte der Stammesführer hinzu.

Mnatas Magen verkrampfte sich. Er dachte an die wilden Männer mit ihren entstellten Gesichtern. Dass sie sich diese Narben manchmal selbst zufügten, um furchteinflößender auszusehen, hatte er erst mit der Zeit begriffen. Auch die verformten lang gezogenen Köpfe waren bewusst geschaffen worden. Vielen Jungen banden ihre Mütter Bandagen um den Kopf, sobald sie geboren waren. Dann blitzte vor seinem inneren Auge wieder eine Schwertklinge auf. Seinem Freund war damit der Schädel gespalten worden, als er einen betrunkenen Krieger versehentlich mit heißer Brühe übergössen hatte.

»Herr, ich möchte kein Krieger sein«, flüsterte er und erschrak sogleich über seine Unverfrorenheit. Krok runzelte die Stirn.

»Du möchtest bei uns leben und unsere Sitten achten. Deshalb sollte das Wohl unseres Volkes dir am Herzen liegen. Wir haben Feinde, die überall lauern. Wenn sie über uns herfallen, möchtest du unser Volk dann nicht verteidigen können? Der Fürstin Libussa, die dich aufgenommen hat, Schutz bieten?«, fragte er zornig.

Mnata schluckte, denn so hatte er die Dinge nicht gesehen. Es schien ihm unvorstellbar, dass einer so angesehenen Frau wie Libussa ein Leid geschehen könnte. Aber sie war wunderschön mit ihren strahlenden Augen und dem gelben Haar. Er hatte gesehen, was die Krieger seiner Horde mit solchen Frauen taten. »Wenn du willst, Herr, dann lehre mich zu kämpfen«, erwiderte er schicksalsergeben.

Krok führte ihn hinaus und gab Libussa durch ein Nicken zu verstehen, dass er Mnatas Gegenwart hinnehmen würde. Ihre Augen leuchteten auf. Bald schon fühlte Mnata den Druck ihrer Umarmung.

»Die Götter haben dich geschickt, mein Junge«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich wünschte mir so sehr ein Kind, für das ich sorgen kann.«

Sie war wirklich eine schöne Frau, jung und sauber gekleidet. Ein angenehmer Blütenduft ging von ihr aus. Mnata erinnerte sich, wie verbittert seine eigene Mutter gewesen war, dass die Krieger geraubte Mädchen aus den Dörfern bevorzugten. Sie selbst hatte ein dunkles breites Gesicht gehabt, ledrige, von Runzeln durchfurchte Haut. Graue Strähnen zogen sich durch ihr pechschwarzes Haar. Machtlos war sie gewesen, ängstlich und stets bemüht, gebrüllte Befehle zu erfüllen. Nun, da er in den Armen dieser anmutigen Fürstin ruhte, schien es ihm, als würde er seine wahre Mutter verraten. Doch seine Mutter war tot. Sie hätte ihm sicher ein gutes Leben gewünscht.

»Ich will dir gehorchen und deine Wünsche erfüllen«, flüsterte er, denn er wusste, dass Mütter dies erwarteten. Libussa lächelte und strich ihm über den Kopf.

»Versuche einfach, dich hier wohl zu fühlen«, meinte sie. Mnata nickte, doch er nahm ihre Worte nicht ernst. Er wusste, dass alle schönen Dinge im Leben selten und kostbar waren und mühsam erkämpft werden mussten.

Als er einige Tage später zum ersten Mal ein Schwert in der Hand hielt, schien es ein Teil seines Körpers zu sein, so geschickt verstand er, damit umzugehen.

Es war das Fest des Frühlings. Gemeinsam mit Kveta hatten Mnata und andere Kinder in der Siedlung Eier aus Ton gebrannt und anschließend bemalt. Premysl, den er nun Vater nennen durfte, nahm echte Eier zur Hand, in die er zwei kleine Löcher stieß, um deren Inhalt auszublasen. Anschließend tauchte er einen dünnen zugespitzten Zweig in die Farbbecher und malte Muster auf die leeren Schalen. Kveta runzelte die Stirn und meinte, dies sei Frauenarbeit, doch wie alles, was die Hände dieses Mannes schufen, waren die von ihm verzierten Eier von zarter Schönheit.

»Bring sie deiner Mutter«, sagte er zu Mnata, der gehorsam loslief. Er fand Libussa, die er noch immer nur zögernd Mutter zu nennen wagte, in einem der kleineren Räume gemeinsam mit ihrer Schwester Thetka sowie dieser anderen dunkelhaarigen Frau, die er nicht besonders mochte, weil sie Afra ihr Kind aus den Armen gerissen hatte. Nun hielt sie eben dieses braune Mädchen im Arm.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist«, begrüßte Libussa den neuen Gast. Die dunkelhaarige Frau nickte gleichmütig.

»Dir sind diese Feste ja immer so wichtig. Aber bitte erwarte nicht von mir, dass ich abends am Tanz teilnehme. Du weißt, ich mag das nicht.«

»Tu, was immer du willst, Kazi. Aber das machst du ja ohnehin«, sagte Libussa lachend. Sie sah so glücklich aus über den Besuch, dass Mnata dieser Kazi etwas wohler gesonnen war.

»Sieh, wie meine Tochter gewachsen ist!«, meinte sie in diesem Moment. Wieder fühlte er Zorn in sich aufsteigen. Ein paar Leute, vermutlich Bedienstete, waren gemeinsam mit ihr gekommen, doch Afras dunkles Gesicht konnte er darunter nicht erkennen. Er schämte sich, dass er in letzter Zeit so selten an die schwarze Frau gedacht hatte. Sie war ein Teil der unangenehmen Erinnerungen an die Sklavenkolonne, die er verdrängen wollte.

Libussa warf einen Blick auf das Mädchen und winkte Mnata anschließend zu sich.

»Ich habe den Jungen als mein Kind angenommen. Sein Name ist Mnata. Den wollte ich nicht ändern, denn er ist bereits daran gewöhnt.«

Kazis dunkle Augen musterten ihn nur sehr kurz, als wäre er für sie unwichtig. »Na ja, dann hat Vojen vielleicht jemanden, mit dem er sich die Zeit vertreiben kann. Mit Vlasta versteht er sich nicht besonders gut, hat man mir erzählt.«

Sie drehte sich um und richtete ihren Blick auf einen Jungen in ihrem Gefolge.

»Na komm schon her, damit ich dich vorstellen kann!«, rief sie ungeduldig.

Der Junge trat mit gesenktem Kopf nach vorn.

»Das ist mein Sohn Vojen«, sagte Kazi und schob ihn in Mnatas Richtung. »Vielleicht vertragt ihr beiden euch einigermaßen.«

Danach wandte sie sich sofort wieder ihren Schwestern zu.

Vojen blickte langsam auf. Er hatte das bleiche ernste Gesicht seiner Mutter, und Mnata erschrak über die Feindseligkeit in seinem Blick. »Du bist also auch so ein streunender Hund gewesen, der gnädig aufgenommen wurde«, flüsterte er so leise, dass keiner der Erwachsenen es hören konnte.

»Diese Eier sind wunderschön«, erklang indessen Kazis Stimme. Sie hatte sich über den Korb gebeugt, den Mnata Libussa hinhielt. »Lass mich raten. Premysl hat sie bemalt. So etwas bekommt nur er hin. Du hast dich dabei immer angestellt, als hättest du zwei linke Hände.«

»Natürlich sind sie von Premysl«, erwiderte Libussa.

»Unsere kleine Schwester hat mit einer Tradition gebrochen, kaum zu glauben. Jede Frau unseres Volkes, ganz gleich, ob sie Fürstin ist oder Magd, hat ihre Eier für das Fest selbst zu bemalen, zu Ehren der Göttin Morana, deren neues Erblühen gefeiert wird«, lachte Thetka.

Mnata war bereits aufgefallen, dass seine neue Mutter nicht besonders gut mit Spott umgehen konnte. Ihre Wangen färbten sich rosa.

»Es ist nur so, dass ich mit den ganzen anderen Vorbereitungen zu sehr beschäftigt bin und schrecklich wenig Zeit hatte, irgendwelche Eier zu bemalen. Außerdem kann Premysl es natürlich besser. Ich werde sie ihm heute Abend ja auch wiedergeben, wenn er beim Tanz um mich wirbt«, murmelte sie verlegen, was ein breites Grinsen auf Thetkas Gesicht zauberte.

»Ich habe deine alte Kammer wiederherrichten lassen«, sagte Libussa dann zu Kazi. »Komm mit, es gibt noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte.«

Mnata war unwohl zumute, als alle drei Frauen den Raum verlassen hatten. Vojens Blick war nicht freundlicher geworden. »Soll ich dir die Festung zeigen?«, fragte er den Jungen unsicher. Vielleicht würde Vojen sich mit der Zeit an ihn gewöhnen. Auch die Knechte und Mägde redeten mittlerweile mit ihm, als sei er ein ganz gewöhnliches Kind.

»Ich kenne diese Festung schon seit Jahren, du kleiner Schlaukopf«, erwiderte Vojen nur. »Schließlich bin ich im Gegensatz zu anderen Leuten in den Clan hineingeboren worden.«

Mnata tat einen Schritt zurück. »Na gut, dann werde ich sehen, was Vlasta macht.« Auf einmal sehnte er sich geradezu nach dem wilden Mädchen, dessen gelegentliche Gemeinheiten nur durch Gedankenlosigkeit entstanden.

»Guter Vorschlag, kleiner Hunne. Vlasta wollte schon immer ein Hündchen, das ihr hinterherläuft.«

Mnata eilte zur Tür, doch Vojens Stimme hielt ihn plötzlich zurück. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was da heute für ein Fest gefeiert wird?«

»Das Fest des Frühlings.«

»Na, da hast du ja schon brav gelernt. Aber weißt du auch, wofür die Eier sind?«

Mnata runzelte die Stirn. Was sollten diese Fragen? »Die Frauen schenken sie bei diesem Tanz den Männern«, erklärte er. Vlasta hatte sich darüber empört, dass sie als Frau würde Eier bemalen müssen, nur um diese später herzugeben.

»Aber sie schenken sie nicht irgendwelchen Männern, sondern jenen, die ihnen gefallen. Mit denen kriechen sie anschließend in die Büsche. So werden Kinder gemacht, kleiner Hunne. Fürstin Libussa ist eine Frau, mit der jeder Mann gern in einen Busch springen würde. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr eigenes Kind bekommt. Dann hast du ausgedient, glaub mir. Überlege am besten jetzt schon, wo du dann hingehen wirst.«

Libussa beobachtete zufrieden, wie die Menge durch das Tor zu den Dörfern zog. Allen voran ritt ein junger Mann auf einem Pferd. Er repräsentierte Jarilo, den Gott der Fruchtbarkeit und des Mondes, der nun wieder aus dem Totenreich zurückgekehrt war und um Morana werben würde. Strohpuppen, die sie als alte Todesgöttin darstellten, waren in jedem Dorf aufgestellt worden. Sobald Jarilo erschien, wurden sie angezündet, um Morana aus ihrem greisen Körper zu befreien. Sie sollte in jugendlicher Frische erblühen, so wie die Natur.

Singend und geschmückte Zweige schwingend folgten die Leute dem Reiter. Libussa schritt neben dem Pferd einher, begleitet von Premysl und Mnata. Es war ein warmer, sonniger Tag, wie er für dieses Fest besser nicht hätte sein können. Die kräftigen Stimmen der Sänger schwebten über Wald und Feld. In jedem Dorf sprach Libussa ihren Segensspruch aus, um eine gute Ernte zu sichern. Sie nahm freudig die zufriedenen Gesichter der Anwohner zur Kenntnis. Sogar Kazi, die für Rituale und Zeremonien ebenso wenig übrig hatte wie Premysl, blickte entspannt drein. Sie schien keinen Groll mehr gegen ihre jüngste Schwester zu hegen.

Libussa beschloss, sich gut zu merken, wie glücklich sie an diesem Tag gewesen war, denn sie hatte bereits gelernt, dass keine Zeit des Friedens ewig währte. Sie streckte eine Hand nach Premysl aus und strich mit der anderen über Mnatas schwarzes Igelhaar. Seltsamerweise wirkte der Junge bedrückt. Sie war davon ausgegangen, dass der Weg durch die Dörfer und das Singen ihm gefallen würden, doch er blickte beinahe so missmutig drein, wie Vojen es meistens tat. Sie hatte jetzt aber keine Gelegenheit, ihn nach dem Grund zu fragen.

Es dämmerte bereits, als sie alle Dörfer der Umgebung durchquert hatten. Am Flussufer war indessen aufgetischt worden, so dass mit dem Fest begonnen werden konnte. Kazi brachte die Kinder zur Festung, sobald das Essen beendet war. Nun kam der Tanz.

Libussa wandte sich Premysl zu. Andere Männer hatten es allmählich aufgegeben, sich ihr bei diesen Feiern nähern zu wollen, so dass sie keine unerwünschten Bewerber mehr abweisen musste. Sie nahm die mit Blumen und Bändern geschmückten Zweige an, die er ihr überreichte, und gab ihm zum Tausch dafür die von ihm bemalten Eier. Dann wirbelten sie zusammen mit den anderen Paaren beim Tanz über die Wiese.

Libussa hatte ihre Sandalen abgestreift und spürte das frische Gras unter ihren Füßen. Es war stiller geworden, so dass sie den Fluss rauschen hörte. Die meisten Paare waren bereits in der Umgebung verschwunden. Keine heilige Hochzeit, nur ein Werben wurde an diesem Abend gefeiert, doch nutzten viele Leute bereits diese Gelegenheit, um sich zu vergnügen.

Sie fühlte Premysls Arm auf ihren Schultern. »Lass uns in den Wald gehen, so wie damals in Staditz.«

Er führte sie zu den Bäumen. Es war eine Stelle am Fluss, so wie früher, wo sie sich niederließen. Libussa erinnerte sich an den bissigen, unsicheren Jungen, dem sie einst gefolgt war. Sie schmiegte ihr Gesicht an das seine und fühlte einen wohligen Schauer, als seine kratzige Handfläche sich unter ihr Kleid schob.

»Ich habe mit der Hebamme gesprochen«, flüsterte sie in sein Ohr, bevor das Verlangen ihrer beider Aufmerksamkeit ganz beanspruchte. »Und danach auch noch mit Kazi. Beide sind sich sicher, dass ich schwanger bin.«

Die Träume der Libussa / Die Ketzerin von Carcassone - Zwei Romane in einem Band

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