Читать книгу Barfuß in Deutschland - Tete Loeper - Страница 6
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ОглавлениеMeine Familie lebte in Kigali, der Hauptstadt Ruandas im Herzen Afrikas. Unser Haus befand sich hinter dem Nyamirambo-Markt, einem Viertel, das nach rohem Fisch roch, sobald die Sonne aufging.
Der Abendwind zerstreute die fettigen Gerüche von Chapati und Samosa, die auf Kohleöfen frittiert und an jeder Straßenecke verkauft wurden. Obwohl ich in diesem Teil von Nyamirambo aufgewachsen war, gab es eine Sache, die ich nie imstande war zu lernen: die Fliegen, die aus unserem Klo kamen, von denen zu unterscheiden, die auf dem Markt herumflogen (oder vielleicht gab es am Ende doch keinen Unterschied?).
Wie meine Altersgenossen träumte auch ich davon, den besten Job in Ruanda zu bekommen. Ich wollte die erste Person in meiner Familie sein, die ein Auto besitzt. Ich sprach davon, in eine Wohnung in Kiyovu zu ziehen, dem vornehmsten Viertel von Kigali, und natürlich die Liebe meines Lebens zu heiraten. Als sich mir die Realität in aller Härte offenbarte, wünschte ich mir, ich hätte gewusst, dass Träume zwar für alle umsonst sind, aber nur sehr wenige den Preis bezahlen können, den es kostet, ihre Träume in die Realität umzusetzen. Keiner meiner Kindheitsträume ging in Erfüllung, und es schien so, als müsste ich mein ganzes Leben darauf warten.
Die meisten meiner ehemaligen Mitschülerinnen haben geheiratet, feste Jobs bekommen oder sind ins Ausland gezogen. Ich saß an demselben Ort fest, nur mit meinem Bachelor-Abschluss und ohne Hoffnung für die Zukunft »Ese uzaduha inzoga ryari? Wann wirst du uns Getränke anbieten?«, haben mich alle gefragt. Das ist eine indirekte Art zu fragen: »Wann wirst du heiraten?« Eine typische Frage, die Ruander einer 23-Jährigen stellen, die keinen Verlobten vorweist oder über Heiratspläne spricht.
Gesellschaftlicher Druck etablierte die Ehe zu einer Errungenschaft für Mädchen und diente als Flucht vor finanziellen Verpflichtungen. Ich hatte vor einem Jahr meinen Universitätsabschluss gemacht und war immer noch damit beschäftigt, meinen Lebenslauf überall hinzuschicken, in der Hoffnung, dass ich eines Tages wenigstens die ersehnte Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bekommen würde. Aber nach dem Tod meiner Mutter nahm das Leben eine andere Richtung.
Was meinen Vater betraf, so hatte ich, abgesehen von dem Wissen, dass er der Mann war, der sein Vermögen nutzte, um seinen Weg zwischen die Schenkel wehrloser Mädchen zu finden, keine Erinnerung an ihn. Ich lebte so, als hätte er nie existiert. Mein Vater, John Musonera, hatte Mama getroffen, als sie erst 18 war, auf dem Weg zum APACE-Schulzentrum, wo sie das Gymnasium besuchte. Er hielt mit seinem RAV 4 zu dicht vor ihr an, als wollte er ihr über die Füße fahren.
»Willst du mitfahren?«, fragte er und musterte ihre Silhouette.
»Nein danke, meine Schule ist dort«, sie zeigte auf ein Gebäude ein paar Meter entfernt.
»Komm schon, ich kann dich trotzdem hinfahren. Es ist ja nicht so, als ob meine Autositze Dornen hätten, die deinen schönen Körper verletzen könnten«, sagte er lächelnd.
Widerstrebend nahm sie sein Angebot an. Sie kletterte hastig in sein Auto und starrte aus dem Fenster.
»Also, wie ist dein Name? Meiner ist John, aber du kannst mich Jo nennen.« Er fasste sie ans Kinn und drehte ihr Gesicht ihm zu.
»Bitte fahren Sie, sonst steige ich aus und gehe zu Fuß. Ich darf nicht zu spät kommen«, sagte sie und schob seine Hand aus ihrem Gesicht.
»Okay, aber nur, wenn du mir deinen Namen sagst.«
»Nirere Speciose. Ich mag es lieber Nirere genannt zu werden. Könnten Sie jetzt bitte fahren oder die Tür öffnen und mich zu Fuß gehen lassen?«
Er fuhr sehr langsam, während er den Jingle mitsang, der im Radio lief.
»Imodoka zubu zaranyobeye ugenda mu muhanda ikaguhitana, wayihungira kure, ikagusanga yo. Die Autos sind heute verrückt geworden, du läufst auf der Straße und sie verfolgen dich. Auch wenn du weitergehst, verfolgen sie dich.«
Er parkte hinter dem Schulgebäude und zog sein Portemonnaie aus der Tasche, bevor er die Tür öffnete, damit sie aussteigen konnte.
»Das ist für dich«, sagte er und überreichte ihr 5000 ruandische Francs. »Vielleicht kannst du damit ein Taxi oder ein Motorrad nach Hause nehmen. Ich hasse es, ein hübsches Mädchen wie dich auf diesen dreckigen staubigen Straßen laufen zu sehen. Du solltest in eine bessere Gegend wie Kacyiru oder Kiyovu ziehen.«
»Danke, Sir … John, Jo, meine ich«, stotterte sie. »Ich danke Ihnen sehr. Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich das Geld gebrauchen kann. Möge Gott Sie segnen.«
»Hör mal, wir können später reden und sehen, wie ich mich um dich kümmern kann. Natürlich muss man sich um dich kümmern«, sagte Jo, dem ihre Euphorie nicht entging. Er streichelte ihren Oberschenkel.
»Ich wusste nicht, dass es noch gütige Menschen gibt. Vielen Dank, John«, antwortete sie.
»Bitte, nenn mich Jo.« Er zog ein Stück Papier heraus, kritzelte etwas darauf und reichte es ihr. »Das ist meine Nummer, ruf mich an, wenn du besprechen willst, wie ich dich unterstützen kann. Okay?«
»Ich werde Sie heute nach der Schule anrufen. Versprochen.«
Er öffnete ihr die Tür, damit sie aussteigen konnte, und sagte: »Ach, weißt du was, hier in der Nähe gibt es eine Kneipe, die machen sehr gutes Hähnchen und Fisch, da können wir später essen.«
Hähnchen? Fisch? Das war Essen, von dem Mama noch nicht einmal wagte zu träumen, da sie es sich nicht leisten konnte. Diese Speisen waren Kindern vorbehalten, die reiche Eltern hatten. Sie schob die 5000 Francs in ihren blauen Uniformrock und steckte ihr weißes Hemd in die Hose, so wie die Schulleitung es vorschrieb, dass die Schüler sich anziehen sollten. Dann betrat sie das Schulgebäude.
Sobald Mama an diesem Tag den Unterricht verließ, rannte sie zum öffentlichen Telefon tuvugane und gab John Bescheid, dass sie frei sei. Er war beim Zoll und klärte Probleme mit Waren, die er aus China importiert hatte. Er sagte ihr, sie solle nach Hause gehen und wies sie an, ihn am Abend in der Green Corner Bar zu treffen.
Singend verbrachte Mama den Nachmittag, während sie ihre Schuhe putzte und ihre beste Bluse mit einem Holzkohlebügeleisen glättete, das sie sich, zum ersten Mal, von Mama Amina geliehen hatte.
An diesem Abend im Green Corner erzählte Mama John, dass sie allein lebte und dank der muslimischen Gemeinde von Nyamirambo zur Schule gehen konnte und zweimal am Tag eine Mahlzeit erhielt. John hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Er nickte nur gelegentlich, während er an seinem Primus-Bier nippte, das Spuren von Schaum an seinem Schnurrbart hinterließ. Mama erzählte ihm, wie sie während des Völkermords an den Tutsi im Jahr 1994 ihre ganze Familie verloren und als einzige ihrer acht Geschwister überlebt hatte. John rieb sich die Hände, starrte zur Seite und wandte sich wieder ihr zu, um ihr direkt in die Augen zu schauen, die inzwischen mit Tränen gefüllt waren.
»Nicht weinen. Du hast mich jetzt gefunden, okay.« Er nahm sanft ihre Hände in die seinen. »Also, hier ist ein Vorschlag«, fuhr er fort, »ruf mich an, wann immer du dich einsam fühlst, und ich komme und leiste dir Gesellschaft. Wann immer du hungrig bist, wann immer du irgendein Problem hast, vor allem finanzieller Art, werde ich dir helfen.«
Mama starrte auf seinen Ehering, unsicher, ob sie fragen sollte, ob er von Freundschaft, väterlicher Fürsorge oder einfach nur von der Unterstützung eines armen Mädchens sprach. Stattdessen sagte sie: »Vielen Dank.«
»Jetzt komm näher«, sagte John und zog sie zu sich heran. Er ließ eine Hand zu ihren Brüsten gleiten, während die andere ihre Schultern fest umfasste.
»Was machen Sie da?« Sie schob ihn weg und setzte sich wieder dorthin, wo sie vorher gesessen hatte.
»Schau mal, ich kann mich um alle deine Bedürfnisse kümmern. Jedes Bedürfnis. Aber du wirst dich auch um meine kümmern müssen«, zwinkerte er.
»Aber Sie sind doch verheiratet, oder?« Sie sah ihm in die Augen.
»Na und?«, fragte er sie spöttisch und zog die Augenbrauen hoch.
»Werden Sie es Ihrer Frau erzählen?«
»Oh Schätzchen, kein Wunder, dass du trotz deiner Schönheit arm bleibst.« Er rückte näher an sie heran, so nah, dass der Geruch von Primus aus seinem Mund sie würgen ließ, und sie befürchtete, betrunken zu werden, obwohl sie nur zwei Flaschen Sprite getrunken hatte. »Lass meine Frau aus unserer Vereinbarung heraus. Das bleibt nur zwischen uns, okay? Glaubst du, dass alle deine Mitschülerinnen, die schöne Schuhe tragen, Taschen haben, um die du sie beneidest, oder auf Motorrädern zur Schule kommen, reiche Eltern haben? Nein, einige von ihnen haben das Glück, einen Mann wie mich zu finden. Hör zu, das ist ein Angebot, keine Verpflichtung. Es steht dir also frei, zwischen deinem jetzigen Leben und dem, das du gerne hättest, zu wählen.« Er lehnte sich zurück und ließ sie über sein Angebot nachdenken.
In den folgenden Monaten trafen sie sich ein paar Mal in Hotels und Pensionen. Er bezahlte ihre Miete und kaufte ihr alles, was sie in ihrem Alter brauchte und wollte. Schicke Second-Hand-Kleidung, eine Uhr und ihr erstes Nokia-Handy, das die Nachbarn »Mobayilo« nannten, wenn sie es sich borgten, um ihre Verwandten anzurufen. Wie viele andere verheirateten Männer beklagte sich auch John über die körperlichen Veränderungen seiner Frau und darüber, dass sie ihm nach der Geburt der Kinder nicht mehr genug Aufmerksamkeit schenkte. Er war auf der Suche nach Abenteuer – etwas, das er seiner Meinung nach zu Hause nicht fand. Er begann, Nirere an den Wochenenden zum Kivu-See mitzunehmen, und führte sie in Nachtclubs ein, wo sie gelegentlich Alkohol trank.
Ein paar Monate später, als beide das Leben entsprechend ihrer gegenseitigen Vereinbarung genossen, erzählte Nirere John, dass sie schwanger sei. Sie lagen nebeneinander im »Muhabura Hotel«, schweißbedeckt von der Aktivität, die sie gerade beendet hatten.
»Was? Wie konntest du nur so dumm sein? Du weißt, dass ich eine Frau und zwei Kinder habe. Ich brauche nicht noch mehr«, antwortete er, während er aus dem Bett sprang, als ob ihn ein wildes Tier angreifen wollte.
»Aber ich habe das nicht gewusst. Du hättest mich warnen müssen«, begann sie zu weinen, während John sich beeilte, seine Hose anzuziehen.
»Wer wusste es denn? Oder was ist es, was du nicht wusstest?«
»Ich wusste nicht, dass ich schwanger werden würde, wenn du dich weigerst, Kondome zu benutzen.«
»Blödsinn.« Er knöpfte den letzten Knopf seines Hemdes zu und trat näher an das Bett. »Habe ich dich jemals gezwungen?« Sie schüttelte den Kopf. »Warst du nicht glücklich, mein Geld anzunehmen und es für alles auszugeben, was dir in den Sinn kam?« Sie nickte. »Warum hast du dann nicht auch die Pille oder etwas anderes gekauft, das dich vor einer Schwangerschaft geschützt hätte?«
Sie weinte.
Er zog seine Schuhe an.
Sie putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Kommst du aus dem Bett, oder willst du, dass ich dir auch noch dieses Hotelzimmer kaufe?«, spottete John.
Sie setzte sich aufrecht hin. »Und was machen wir jetzt?«
Er drehte sich zu ihr um. »Wir? Wer sind wir? Bin ich schwanger? Klär das so schnell wie möglich. Es gibt einige Ärzte in Privatkliniken, die sich darauf spezialisiert haben. Also forsche nach und lass mich wissen, wie viel du brauchst.«
»Meinst du Abtreibung?«
»Mm«, antwortete er.
»Nein, das kann ich nicht. Was ist, wenn ich dabei sterbe? Ich hatte eine Mitschülerin, die letztes Jahr gestorben ist. Glaub mir, es ist sehr riskant.«
»Dann liegt es bei dir zu entscheiden. Eine Schwangerschaft war nicht Teil unserer Abmachung. Immerhin ist es dein Körper, also mach, was du willst, aber wie gesagt, ich brauche kein Baby«, er stellte sich neben die Tür. »Ich werde im Auto auf dich warten. Beeil dich, ich bringe dich nach Hause. Ich habe immerhin ein Geschäft zu führen.«
Nirere sah John nie wieder, und wann immer sie seine Nummer anrief, nahm er nicht ab. Ihr Bauch wuchs, und sie wurde aus der Schule geworfen und musste mit allem allein fertigwerden. Die Frauen aus der muslimischen Gemeinde unterstützten sie während der Geburt und waren auch für sie da, nachdem ich geboren war. John schickte ihr einen Umschlag voller Geld mit einem handgeschriebenen Zettel, auf dem stand, dass er nichts mit dem Kind zu tun haben wolle. Danach hörte sie nie wieder etwas von ihm. Die Nachbarn rieten ihr, ihn vor Gericht zu bringen und den Zettel, den er geschrieben hatte, als Beweis zu nutzen. Aber wer war er? Sie würde ihn vor Gericht bringen, und was dann? Wie konnte sie sicher sein, dass John Musonera sein richtiger Name war, da Leute, die sie gemeinsam getroffen hatten, ihn mit einem anderen Namen angesprochen hatten? Sie nahm sein Geld, um einen kleinen Kiosk zu eröffnen, den sie später zu einem Restaurant ausbaute.
Tränen liefen aus Mamas Augen, als sie mir von meinem Vater erzählte. Es war der Tag nach meinem fünfzehnten Geburtstag. Der Regen trommelte heftig auf das Dach, während wir zusammen in der Küche saßen und Kartoffeln schälten.
»Ich werde für dich kämpfen, auch wenn es bedeutet, mein Leben zu verlieren. Du wirst zur Schule gehen und studieren und du wirst es weit bringen. Das verspreche ich dir. Dein Leben wird nie so sein wie meines«, sagte sie weinend, während sie mich fest in ihre Arme schloss.
»Danke, Mama.« Ich löste mich aus ihrer Umarmung und fuhr mit dem Kartoffelschälen fort.
»Bis zu meinem letzten Atemzug. Das verspreche ich dir«, sie glitt mit ihrem Zeigefinger um ihren Hals und schwor: »Ich werde dir die beste Ausbildung bieten. Den Schlüssel zum Erfolg.«