Читать книгу Barfuß in Deutschland - Tete Loeper - Страница 7
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ОглавлениеIn der Gesellschaft, in der ich lebte, galt Depression als eine eingebildete westliche Krankheit, deshalb erhielt ich keine professionelle Hilfe, um den Verlust meiner Mutter zu verarbeiten.
Pole und wihangane waren die Worte, die ich von Nachbarn und Freunden hörte. Wann immer meine Schwester Tendeza das Haus verließ, wusste ich nicht, wann sie zurückkommen oder ob ich sie lebend wiedersehen würde. Nachbarn tratschten, sie hätten sie mit Männern bei Kosmos in der Nähe des Stadions gesehen, einer Gegend, die für Geschlechtskrankheiten berüchtigt war. Ja, ich wollte meiner Schwester helfen. Aber ich wusste nicht, wie. Unser Haus hatte die Bedeutung eines Zuhauses verloren und wurde einfach zu dem Gebäude, in dem wir uns zum Schlafen oder Streiten trafen. Die Armut hielt Einzug in unsere Familie und selbst zweimal am Tag zu essen, war zu einem Privileg geworden.
Im Gegensatz zu mir sah Tendeza genau wie Mama aus: große runde Augen, die immer einen sanften Ausdruck hatten, auch wenn sie voller Wut war, und eine schmale Nase, die sie vor dem Drama bewahrte, gefragt zu werden, ob sie Hutu oder Tutsi sei. Sie war groß gewachsen, weshalb die Leute annahmen, dass sie älter sei als ich. Das Einzige, was ich von meiner Mutter geerbt hatte, waren ihr Lächeln und ihre Naivität, die dazu führte, dass ich den Menschen leicht vertraute.
Abdul, Tendezas Vater, fuhr den Bus, auf dem der Hip-Hop-Künstler 50 Cent abgebildet war. Vor vielen Jahren versuchte jeder, der in Kigali cool war, mit diesem Bus zu fahren, bevor es üblich wurde, Prominente auf den Bussen im Stadtzentrum von Nyamirambo abzubilden. Abdul starb bei einem Autounfall, als Tendeza fünf Jahre alt war. Er hatte nie bei uns gewohnt, weil er damals noch nicht bereit war, eine Familie zu gründen, aber manchmal besuchte er uns.
Fünf Monate nach Mamas Tod postete ich auf meiner Facebook-Seite: »Ich will von dieser Welt verschwinden.« Dieser Post brachte mir viele mitfühlende Kommentare ein. Unter den Leuten, die meinen Beitrag kommentierten, war auch Sonia Mukamana, eine ehemalige Mitschülerin und Nachbarin, die nach Dubai gezogen war, als wir das Gymnasium beendet hatten. Ein paar Jahre waren vergangen, ohne dass ich etwas von Sonia gehört hatte, und dann tauchte sie plötzlich auf Facebook auf. Auf ihrem Facebook-Account stand, dass sie in Hamburg, Deutschland, lebte. Ich begann, mit Sonia von Zeit zu Zeit auf Facebook zu chatten, und mochte ihre Fotos, die von einem Leben zeugten, das für mich wie das bestmögliche aussah. Um ehrlich zu sein, beneidete ich sie. Sie posierte immer mit schicken Autos, in Restaurants und vor großen Gebäuden. Sonia, die früher so dunkel wie eine Asphaltstraße gewesen war, hatte sich in eine muzungu verwandelt. Sie trug Perücken mit langen, geglätteten Haaren und helles Make-up auf ihrer gebleichten Haut.
Sonia hat meinen Beitrag kommentiert mit: »Yoo pole, meine liebe Toni. Lass mich wissen, ob ich helfen kann.«
Ich hatte ihr sofort geantwortet: »Sha uzampe passe y’umuzungu.« Damit kam ich direkt zur Sache: Ich bat sie, einen weißen Mann für mich zu finden. Ich wollte einen reichen, charmanten Prinzen, der mich von meiner Verantwortung befreien würde.
Als Sonia mir erneut schrieb, fragte sie mich nach den Eigenschaften des Mannes, der mir gefallen würde. Anstatt Zeit damit zu verschwenden, einen dieser idealen Männer zu erfinden, die nur in den Köpfen junger Frauen existieren, erklärte ich ihr, dass ich jeden akzeptieren würde. Selbst wenn sie einen Mann finden würde, der so alt sei wie mein Vater, wäre das kein Problem. Alter ist schließlich nur eine Zahl. Oder?
Gerüchte hatten sich in Nyamirambo verbreitet, einige sagten, dass Sonia für ihren Lebensunterhalt Leichen wusch. Andere sagten, dass sie eine Prostituierte war. Es war unmöglich herauszufinden, was man glauben sollte; unsere Nachbarinnen waren Klatschtanten, die von Montag bis Sonntag redeten. Sonia hatte mir erzählt, dass sie in Dubai als Hotelrezeptionistin gearbeitet hatte, später aber nach Deutschland gegangen war. Wie sie dort gelandet war und was sie dort machte, blieb ein Rätsel, denn soweit mir bekannt war, wussten das nicht einmal ihre Eltern. Oder vielleicht haben sie nie gefragt.
Sonia schickte ihrer Familie Geld, unterstützte ihre Eltern beim Bau eines Hauses in Kicukiro und eröffnete für ihre Mutter ein Geschäft mit Hochzeitsdekorationen. Sonias Vater prahlte damit, dass seine Tochter in Europa reich geworden war. Aber wer will schon Einzelheiten von Leuten wissen, die in Europa leben? Die sind doch sowieso alle beschäftigt. Von ihrer Mutter wusste ich, dass sie viel arbeitete, und ich nahm an, dass sie keine Zeit haben würde, sich um meine Bitte zu kümmern.